Die schwere chronische Neutropenie („severe chronic neutropenia“, SCN) umfasst eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit einem gemeinsamen hämatologischen und klinischen Phänotyp, der durch eine absolute Neutrophilenzahl unterhalb 0,5 ⋅ 109/l und ein erhöhtes Risiko für schwere bakterielle Infektionen charakterisiert ist. Die Unterscheidung zwischen angeborener und erworbener Neutropenie sowie die Identifikation ursächlicher Genmutationen sind von immenser Bedeutung für die Bewertung der Prognose. In den ersten 3 bis 5 Lebensjahren sind die primären Autoimmunneutropenien die häufigste Ursache einer SCN. Angeborene, vererbte Neutropenien haben trotz ihrer Seltenheit einen erheblichen Wert für die Erforschung normaler und pathologischer Blutbildung sowie eine fundamentale Bedeutung für das heutige Verständnis der Hämatopoese. Bisher konnten mehr als 30 verschiedene Genmutationen beschrieben werden, die mehrheitlich mit einem erhöhten Leukämierisiko (bis zu 20 %) assoziiert sind. Durch die Verfügbarkeit und Behandlung mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor Granulozyten-koloniestimulierender Faktor (G-CSF; Filgrastim/Lenograstim) seit 1987 hat sich die Langzeitprognose von SCN-Patienten dramatisch verbessert: Bakterielle Infektionen werden verhindert, und die Lebensqualität der Betroffenen hat sich normalisiert.
Hinweise
Redaktion
S. Burdach, München
Das vermehrte Auftreten schwerer bakterieller Infektionen ist häufig ein erster Hinweis auf eine schwere Neutropenie. Die verschiedenen Neutropeniesubtypen unterscheiden sich hinsichtlich der Schwere von Infektionen, Begleitsymptomen und Ursachen. Im Kindesalter sind primäre Autoimmunneutropenien (AIN) am häufigsten, während die sekundären Formen im Erwachsenenalter überwiegen. Angeborene, vererbte Neutropenien (kongenitale Neutropenie, CN) sind trotz ihrer Seltenheit für die Erforschung der normalen und der pathologischen Hämatopoese von immenser Bedeutung und tragen wesentlich zum heutigen Verständnis der Blutbildung bei.
Grundlagen
Die „schwere chronische Neutropenie (SCN)“ beschreibt eine Gruppe unterschiedlicher, oft vererbter Erkrankungen der Blutbildung, die durch einen Mangel an neutrophilen Granulozyten im Blut mit absoluten Werten von weniger als 0,5 ⋅ 109/l charakterisiert ist [5, 23, 26]. Ursachen einer schweren Neutropenie können einerseits ein Defekt in der Proliferation und Differenzierung der neutrophilen Granulozytenvorstufen im Knochenmark, andererseits eine Zerstörung der gebildeten Granulozyten im Blut sein. Bei Erkrankungen, die mit einem Defekt in der Differenzierung der Granulozytenvorstufen einhergehen, wie z. B. bei CN, zeigt das Knochenmark meist einen Ausreifungsarrest auf der Stufe der Promyelozyten [23, 28]. Die Zahlen der eosinophilen Granulozyten und der Monozyten sind meist erhöht. Die Erythro- und Megakaryo‑/Thrombozytopoese sowie die Lymphopoese verlaufen normal. Geht die Erkrankung mit der Zerstörung der gebildeten Granulozyten einher, wie z. B. bei AIN [3], findet sich im Knochenmark eine normale Ausreifung bis zu den stabkernigen neutrophilen Granulozyten. Patienten mit CN leiden schon in den ersten Lebensjahren an häufigen teilweise schweren bakteriellen Infektionen, v. a. des Mundbereichs (Abb. 1), der Ohren, der Haut, der oberen Luftwege, der Lungen sowie seltener an Abszessen der Leber und Nieren [26, 28].
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Die Verfügbarkeit des Wachstumsfaktors Granulozyten-koloniestimulierender Faktor (G-CSF; Filgrastim/Lenograstim) für die Behandlung der Patienten seit 1987 [24] hat die Infektionshäufigkeit signifikant reduziert und damit die Lebensqualität und die Langzeitprognose der Betroffenen entscheidend verbessert. Während vor 1987 die Mehrzahl der Patienten an bakteriellen Komplikationen verstarb [10], ist heute die Lebenserwartung in der Mehrzahl der Patienten normal [23]. Durch die signifikante Verbesserung der Lebenserwartung hat ein Großteil der Patienten bereits das Erwachsenenalter erreicht und in Einzelfällen auch mit eigener Familienplanung begonnen. Einem „normalen“ Leben des Patienten und seiner Familie steht bei gutem Therapieansprechen, guter Therapieeinstellung und dem verantwortungsbewussten Umgang mit der Erkrankung kaum etwas im Wege. So sind z. B. Auslandsaufenthalte, etwa im Rahmen einer Urlaubsreise, nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und bei vernünftiger Planung jeder Zeit möglich.
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Angeborene Formen der SCN gehören zu den seltenen Erkrankungen mit einer Häufigkeit von ca. 2 bis 4 Patienten auf 1 Mio. Einwohner [23]. Aufgrund der geringen Inzidenz der einzelnen Erkrankungen sind die heutigen Erkenntnisse zu Pathophysiologie und klinischem Verlauf v. a. dem Aufbau eines internationalen Erkrankungsregisters für Neutropenie zu verdanken [5]. Seit 1994 sammelt das „Severe Chronic Neutropenia International Registry“ (SCNIR; Kodirektoren: Dr. David Dale und Dr. Karl Welte) mit Sitzen in der University of Washington, Seattle, USA, sowie der Medizinischen Hochschule Hannover und dem Universitätsklinikum Tübingen weltweit Longitudinaldaten von inzwischen mehr als 3000 Patienten mit angeborenen und erworbenen SCN. Erfasst werden Erkrankungsverlauf, sekundäre Erkrankungen, Therapieansprechen und Nebenwirkungen der Therapie (www.scnir.de).
Im Zuge der Lebensverlängerung unter einer Langzeittherapie mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor G‑CSF demaskierte sich allerdings auch das erhöhte Risiko einer malignen Transformation, eines Übergangs in ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) oder eine akute myeloische Leukämie (AML; [23]).
Seit 1994 sammelt SCNIR weltweit Longitudinaldaten von inzwischen mehr als 3000 SCN-Patienten
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Moderne molekularbiologische Techniken wie die Sequenzierung der Gene, die für die Entstehung der Neutropenie verantwortlich sind, und die Grundlagenforschung haben in den letzten Jahren neue Einblicke in die Mechanismen der Erkrankungsentstehung und malignen Transformation ermöglicht. Die Identifikation von Indexfamilien innerhalb des SCNIR führte zur Aufdeckung neuer genetischer Defekte [6, 7, 12, 13]. Die enge Kooperation zwischen Patienten, klinischen Experten und Wissenschaftlern im SCNIR-Netzwerk ermöglicht die gezielte Suche nach charakteristischen klinischen Merkmalen und Besonderheiten in den genetischen Untergruppen (Genotyp-Phänotyp-Analyse).
Diagnose
Die normale Zahl der peripheren neutrophilen Granulozyten unterliegt im Kindesalter erheblichen Schwankungen, während die Werte im Erwachsenenalter weitgehend stabil sind. Bei wiederholt gemessenen Granulozytenwerten unterhalb 0,5 ⋅ 109/l im Blut liegt eine SCN vor. Sie kann isoliert oder in Verbindung mit weiteren Symptomen, wie Verminderung anderer Blutzellreihen, aber auch Organfehlbildungen, Gedeihstörung, Stoffwechselstörungen und Immunphänomenen auftreten.
Die neutropenieassoziierten Krankheitssymptome hängen bei der Mehrzahl der Neutropenieformen vom Schweregrad und von der Dauer der Neutropenie ab. Je niedriger die Neutrophilenzahl ist, desto höher ist das Risiko für eine Infektion, wenn die Neutropenie länger als 3 Tage andauert. Beim Fehlen der neutrophilen Granulozyten verlaufen diese Infektionen trotz Antibiotikatherapie oft rasch progredient und manchmal auch letal.
Ausreichende Hinweise zur Einteilung einer vorliegenden Neutropenie gibt häufig bereits das folgende diagnostische Vorgehen:
klinische Untersuchung mit Suche nach weiteren organischen Auffälligkeiten,
Familienanamnese mit der Frage nach weiteren Betroffenen und Verwandtenehen,
laborchemische Suche nach antigranulozytären Antikörpern in einem spezialisierten Labor [3],
Untersuchung des Knochenmarks zur Identifizierung einer Reifungsstörung mit zytogenetischer Analyse und zum Ausschluss einer bereits vorliegenden malignen Transformation [22] sowie
immunologische Diagnostik zum Ausschluss primärer lymphatischer Immundefekterkrankungen.
Bei Verdacht auf eine CN sind die molekulargenetische Analyse der über 20 bisher bekannten Gene [23] und die Suche nach noch nicht bekannten Genmutationen indiziert. Neben der Identifizierung der molekularen Ursachen der Erkrankung ergeben sich bei Nachweis einer Genmutation wichtige Hinweise für die Langzeitprognose des Patienten. Die Algorithmen zur Diagnostik sind in Abb. 2 dargestellt.
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Mortalität
Die Mortalität der schweren angeborenen Neutropenie (CN) vor der Antibiotikaära betrug 90 % (vor 1950; [10]). Die Verfügbarkeit von Antibiotika in den Jahren zwischen 1950 und 1990 konnte die Sterblichkeit lediglich auf etwa 80 % senken. Der eigentliche Durchbruch in der erfolgreichen Behandlung der CN kam in den Jahren nach 1990, als der Wachstumsfaktor der Granulozyten (G-CSF, Filgrastim/Lenograstim [24]) therapeutisch erhältlich wurde. Heute überleben mehr als 90 % aller Patienten.
Angeborene Neutropenien
Der Begriff „kongenitale Neutropenie“ beschreibt eine sehr heterogene Erkrankungsgruppe mit isolierten Blutbildungsstörungen und Neutropenien, die mit anderen Störungen in Form einer Syndromerkrankung assoziiert sind. Die genetischen Untergruppen in 777 europäischen Patienten mit CN sind in Tab. 1 aufgeführt.
Tab. 1
Genetische Untergruppen von 777 Patienten mit schwerer chronischer Neutropenie (Stand September 2017)
Neutropenie, assoziiert mit Immundefekterkrankungen
CD40LG-CN: Hyper-IgM-Syndrom
RAB27A-CN: partieller Albinismus und Immundefekt (Griscelli-Syndrom)
4.
Neutropenie, assoziiert mit syndromalen Erkrankungen
G6PC3-CN: kardiale und urogenitale Fehlbildungen
LYST-CN: okulokutaner Albinismus und Hepatosplenomegalie (Chediak-Higashi-Syndrom)
TAZ-CN: Kardiomyopathie (Barth-Syndrom)
JAGN1-CN: Knochen- und Zahndefekte
5.
Neutropenien im Rahmen anderer hämatologischer Erkrankungen
angeborene Störungen mit Knochenmarkversagen (z. B. Fanconi-Anämie)
Die für die CN ursächlichen Genmutationen führen zu veränderten Proteinen in unterschiedlichen Kompartments der neutrophilen Granulozyten (Abb. 3).
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Vererbung
Autosomal-dominant vererbte Neutropenien wie z. B. ELANE-CN [6, 15] sind insgesamt sehr viel häufiger als autosomal-rezessiv vererbte Neutropenien (z. B. HAX1-CN; [13]), die v. a. in konsanguinen Familien diagnostiziert werden. Die Prävalenz der durch Mutationen in HAX1 verursachten kongenitalen Neutropenien in Familien türkischer und arabischer Abstammung in Deutschland ist durch die bekannte Konsanguinität in vielen dieser Familien erklärbar. Interessanterweise ist die früher als „Kostmann-Syndrom“ bezeichnete CN erstmals in konsanguinen Familien in Nordschweden diagnostiziert worden [13, 14]. Auch sie ist durch Mutationen im HAX1-Gen verursacht. In Israel wird eine Häufung von Patienten mit angeborenen Neutropenien, die durch Mutationen im G6PC3-Gen versursacht sind, beschrieben [23].
Diese Informationen sind natürlich auch für die klinische Praxis wichtig: Bei nordeuropäischen Patienten sollte die Sequenzierung des ELANE-Gens zuerst durchgeführt werden, weil sie die häufigste Mutation (ca. 50 % aller Patienten) ist. Bei konsanguinen Familien sollte abhängig vom Vorhandensein assoziierter spezifischer Organmissbildungen mit der Sequenzierung des HAX1-Gens oder den entsprechenden anderen Mutationen (s. unten) begonnen werden. Aus Afrika stammende Patienten weisen häufig spezifische Polymorphismen im DARC-Gen auf (Duffy-Antigen; [23]). Das Referenzlabor des SCNIR in Tübingen koordiniert die Gendiagnostik bei Patienten mit Verdacht auf CN; auch erworbene Mutationen im CSF3R- und in leukämieassoziierter Genen werden analysiert (Kontakt: julia.skokowa@med.uni-tuebingen.de).
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Phänotypen
Angeborene Neutropenien z. B. mit Mutationen der Gene ELANE oder HAX1, lassen sich aufgrund klinischer Merkmale oder anhand der Knochenmarkmorphologie nicht unterscheiden [28]: Im Blutbild fehlen neutrophile Granulozyten häufig vollständig; zusätzlich können eine milde Anämie (Hämoglobinwert 10–12 g/dl) und Thrombozytose (bis ca. 800.000/µl) bestehen. Die chronische Neutropenie wird durch wiederholte Differenzialblutbilder bestätigt. Im Knochenmark zeigt sich typischerweise ein „Ausreifungsstopp“ auf einer frühen Vorstufe der Myelopoese (Stadium der Promyelozyten‑/Myelozyten). Die Promyelozyten weisen Veränderungen wie Vakuolisierung oder Kernatypien auf ([23, 26]; Abb. 4). Eine Knochenmarkeosinophilie findet sich häufig. Zahl und morphologische Eigenschaften der Megakaryozyten sind normal. Eine Spiegelerhöhung des Immunglobulin(Ig)G findet sich bei der Mehrzahl der Patienten, unabhängig von ihrem Infektionsstatus. Die spezifische Immunkompetenz nach einer Impfung ist normal. Ohne Behandlung erleiden die Patienten schwere bakterielle Infektionen, wie z. B. Omphalitis, Bronchitiden, Pneumonien, Hautabszesse oder Otitis media – häufig bereits während der ersten Lebensmonate. Daher wird bei den meisten Patienten die Diagnose schon in der frühen Kindheit gestellt.
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Differenzialdiagnostisch ist die schwere CN [26] von der Immunneutropenie [3] dadurch abzugrenzen, dass bei CN die Reifungsstufen nach den Promyelozyten/Myelozyten fast völlig fehlen, während bei der Immunneutropenie alle Vorstufen der neutrophilen Granulopoese bis zu den stabkernigen Granulozyten vorhanden sind.
Die zyklische Neutropenie ist eine Sonderform der CN. Bei der Mehrzahl der Betroffenen (ca. 90 %) werden ebenfalls autosomal-dominant vererbte Mutationen im ELANE-Gen gefunden [6, 12, 15]. Anstieg und Abfall der Neutrophilenzahlen folgen dem konstanten Zyklus von etwa 21 Tagen [23]. In der Zyklustalphase kommt es zu einer schweren Neutropenie, die bei manchen Patienten bis zu 8 Tagen andauert. Bei anderen Patienten hält die schwere Neutropenie während des gesamten Zyklus an. Die Häufigkeit bakterieller Infektionen steigt mit der Dauer dieser Neutropenieperioden an. Die Diagnose wird anhand der Dokumentation des neutrophilen Verlaufs mithilfe von Differenzialblutbildern 3‑mal/Woche über 6 Wochen gestellt.
Primäre Autoimmunneutropenie
Die AIN ist die häufigste Ursache einer SCN im Kindesalter und tritt nicht im Gefolge einer bereits bestehenden Grunderkrankung auf. Häufig fällt die Neutropenie im Rahmen von Routineblutuntersuchungen auf [3]. Das Patientenalter bei Diagnosestellung beträgt im Median 7 Monate, daher der Name „Autoimmunneutropenie im Kleinkindalter“. Im Unterschied zu den Patienten mit CN leiden die Betroffenen trotz der schweren Neutropenie häufig nur unter leichten bakteriellen Infektionen wie Gingivitis oder Otitis media. Die Neutrophilenzahlen können im Infektionsstadium ansteigen [3]. Die Autoantikörper richten sich v. a. gegen Antigene auf dem Fcγ-Rezeptor IIIb (CD16b). Für den Antikörpernachweis ist die kombinierte Durchführung verschiedener Testmethoden wie Granulocyte Agglutination Test (GAT), Granulocyte Immunfluorescence Test (GIFT), Lymphocyte Immunfluorescence Test (LIFT) und Monoclonal Antibody Immobilization of Granulocyte Antigens (MAIGA) erforderlich [3]. Bei den meisten Patienten normalisiert sich die Zahl der neutrophilen Granulozyten bis zum Eintritt in die Schule spontan. Eine Behandlung ist nicht erforderlich. Patienten mit rezidivierenden leichteren bakteriellen Infektionen können jedoch von einer Antibiotikaprophylaxe, insbesondere über die Wintermonate, profitieren. Eine G‑CSF-Therapie sollte nur in Ausnahmefällen bei vorliegenden schweren Infektionen eingeleitet werden.
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Sekundäre Neutropenien
Sekundäre Neutropenien basieren auf bereits bestehenden Erkrankungen und Einflüssen. Sie sind dementsprechend zahlreich und vielfältig [1]. Im Folgenden werden die wesentlichen Störungen gelistet:
Sekundäre Autoimmunneutropenie im Rahmen weiterer Autoimmunerkrankungen z. B. erythematodes, rheumatische Arthritis;
idiosynkratische Medikamentenreaktionen können eine schwere Neutropenie verursachen (Frequenz ca. 12 Fälle/1 Mio. Einwohner). Zwei ursächlich unterschiedliche Typen kommen vor: Eine Ursache ist die dosisabhängige Interferenz mit der Proteinsynthese und Zellproliferation. Prototypen dafür sind Neutropenien, induziert durch Metamizol, Phenothiazine, Thyreostatika, Chloramphenicol und Clozapin. Der zweite Typ ist dosisunabhängig; die Neutropenie ist hier eher immunologischen Ursprungs;
zytostatikainduzierte Neutropenie (im Rahmen einer Krebstherapie);
Neutropenie bei Malnutrition (z. B. Vitamin-B12-, Folsäure‑, Kupfer‑, Eisenmangel);
idiopathische Neutropenie;
Neutropenien im Rahmen von anderen erworbenen hämatologischen Erkrankungen, wie erworbene Störungen mit Knochenmarkversagen (z. B. aplastische Anämie) oder Leukämien.
Pathogenese
Die Pathomechanismen, die der CN zugrunde liegen bzw. die Ausreifung der Vorstufen der neutrophilen Granulozyten verhindern, sind je nach genetischer Ursache der Neutropenie unterschiedlich. „CCAAT/enhancer-binding protein alpha“ (C/EBPalpha) und „lymphoid enhancer-binding factor 1“ (LEF1) sind nach Stimulation mit G‑CSF aktivierte hämatopoetisch spezifische Transkriptionsfaktoren, die nach Bindung an die entsprechenden Gene die Differenzierung von myeloischen Vorläuferzellen in reife neutrophile Granulozyten stimulieren. Ihre deregulierte Expression [4, 18, 19] ist eine gemeinsame Ursache der fehlenden Differenzierung von Vorläuferzellen zu reifen neutrophilen Granulozyten. ELANE-Mutationen resultieren in falsch gefalteten Elastaseproteinen, die nicht normal abgebaut werden können, im endoplasmatischen Retikulum (ER) akkumulieren und dadurch Stress im ER und sekundär Apoptose verursachen [16]. HAX1-Mutationen führen zum Verlust mitochondrialer Funktionen in granulozytären Zellen [13], hemmen aber auch die G‑CSF-Rezeptor-abhängigen Signalwege via „haematopoetic cell specific Lyn substrate 1“ (HCLS1, [21]). Ein interessanter Forschungsaspekt der eigenen Arbeitsgruppe ist, dass die Expression des Enzyms Nicotinamidphosphoribosyltransferase (NAMPT) bei Patienten mit angeborenen Neutropenien sehr stark erhöht ist [20]. Nicotinamidphosphoribosyltransferase bewirkt eine Erhöhung auch des intrazellularen NAD+-Gehalt (oxidierte Form des Nicotinamidadenindinukleotids) und sekundär zur Aktivierung der Deacetylase Sirtuin-1 (Sirt1). Die Daten zeigen, dass über diesen Mechanismus die G-CSF-Produktion und die Erhöhung der Expression der GCSF-Rezeptoren induziert werden, sodass eine Therapie mit dem Substrat von NAMPT, nämlich mit Vitamin B3 (Nikotinsäureamid), bei Patienten mit einem milden Phänotyp die Neutropenie korrigieren kann [20].
Therapie
In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass bei mehr als 90 % der Patienten mit schwerer CN individuell unterschiedliche pharmakologische G‑CSF-Dosen (1–80 µg/kgKG und Tag s. c. appliziert) einen signifikanten und dauerhaften Anstieg der absoluten Neutrophilenzahl auf Werte über 1000/µl induzieren (Abb. 5; [2, 5, 25]). Hierdurch reduziert sich auch die Zahl schwerer bakterieller Infektionen signifikant. Die Therapie mit G‑CSF wird von der Mehrzahl der Patienten gut vertragen. Bei guter Therapieeinstellung und verantwortungsbewusstem Umgang mit einer SCN steht einem „normalen“ Leben des Patienten und seiner Familie kaum etwas im Wege.
Die G‑CSF-Behandlung wird initial mit einer Dosis von 3–5 µg/kgKG und Tag s. c. begonnen; bei Erreichung von neutrophilen Granulozytenzahlen über 1000/µl Blut wird diese Dosis weitergeführt. Betragen die Neutrophilenzahlen weiterhin unter 1000/µl, werden die G‑CSF-Dosen 2‑wöchentlich erhöht (10, 20, 40 etc. µg/kgKG und Tag), bis über 1000 Granulozyten/µl erreicht sind und dann die Behandlung mit der entsprechenden Dosis weitergeführt wird ([2, 23, 25, 26]; Abb. 6).
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Auch Patienten mit einer zyklischen Neutropenie profitieren von einer G‑CSF-Therapie. Diese Patienten sprechen schon auf Dosen von 1–5 µg/kgKG und Tag mit einem signifikanten Zahlenanstieg der neutrophilen Granulozyten an. Allerdings wird der zyklische Verlauf der Neutrophilenzahlen durch die Gabe von G‑CSF nicht auf-, sondern nur auf ein höheres Niveau mit einer verkürzten Neutropeniephase angehoben [23]. Ziel der G‑CSF-Therapie ist die Verkürzung des Nadirs auf einen bis 3 Tage. Darunter treten schwere bakterielle Infektionen, aber auch Stomatitiden und Aphthen nicht mehr auf.
Gute Einstellung der G‑CSF-Therapie erlaubt der Mehrzahl der CN-Patienten ein „normales“ Leben
Bei Patienten, die nicht auf G‑CSF ansprechen oder eine Leukämie entwickeln, muss eine Knochenmarktransplantation durchgeführt werden [27].
Patienten mit einer AIN werden, wie bereits beschrieben, nur bei schweren bakteriellen Infektionen kurzzeitig mit G‑CSF behandelt. Die meisten dieser Kinder werden nur überwacht. Je nach Häufigkeit und Art der Infektion kann eine prophylaktische Therapie z. B. mit Cotrimoxazol hilfreich sein [3].
Alle anderen Formen der chronischen Neutropenie erfordern die Anpassung der Therapieempfehlungen an den individuellen Krankheitsverlauf. Bei medikamenteninduzierter Neutropenie führt das Absetzen des Medikaments meist nach ca. einer Woche zur Heilung. Auch hier kann im Fall von schweren bakteriellen Infektionen die G‑CSF-Gabe therapeutisch von Nutzen sein.
Leukämie
Die CN ist schon in den 1970er-Jahren als präleukämisches Syndrom beschrieben worden [10]. Die statistische Auswertung von Langzeitverläufen bei 374 Patienten mit SCN (1987–2000) unter G‑CSF-Langzeittherapie durch das SCNIR identifizierte erstmals das statistische Leukämierisiko dieser Patientengruppe [17]. Nach 10 Jahren betrug die kumulative Inzidenz 21 % für MDS/AML. Interessanterweise zeigte sich auch ein Einfluss der für einen Granulozytenzahlanstieg benötigten G‑CSF-Dosis auf die Leukämiehäufigkeit als Hinweis darauf, dass die Schwere der Blutbildungsstörung das Leukämierisiko erhöht. Durch eine Folgeerhebung mit Daten bis Dezember 2009 [17] konnte das Leukämierisiko präzisiert werden. Die kumulative Inzidenz nach 15 Jahren beträgt demnach 22 % und ist nicht, wie zuvor vermutet, dramatisch angestiegen. Durch die molekulargenetische Charakterisierung der Patienten ist es inzwischen möglich, das Leukämierisiko mit bestimmten angeborenen Genmutationen zu korrelieren und weitere Risikofaktoren, wie die im Laufe des Lebens erworbenen Mutationen im G‑CSF-Rezeptor (CSF3R, [8, 9, 22]) zu identifizieren. Die bis 2017 erhobenen Daten über die Leukämieinzidenz in verschiedenen genetischen Untergruppen aus dem Europäischen Register sind in Tab. 2 aufgezeigt.
Tab. 2
Inzidenz von sekundären Leukämien bei 574 Patienten mit chronischer Neutropenie (Stand September 2017)
Die Mutationen im CSF3R-Gen treten fast ausschließlich im zytoplasmatischen Teil eines Allels des G‑CSF-Rezeptors (Aminosäuren 715–790) auf und führen zum Abbruch der Aminosäurenkette und damit zur stark verlängerten Aktivierung von „signal transducer and activator of transcription 5“ (STAT5, [8, 11, 23]). Die Zeit zwischen dem Erwerb der CSF3R-Mutation und der offenen Leukämie variiert sehr stark und kann mehr als 10 Jahre betragen. Sekundäre leukämieassoziierte Mutationen beispielsweise im RUNX1-Gen führen dann zusammen mit chromosomalen Veränderungen wie einer Monosomie 7 oder Trisomie 21 zum Anstieg leukämischer Blasten und damit zur offenen AML [22]. Die Leukämie kann nur durch eine allogene Stammzelltransplantation geheilt werden. Das Überleben nach Transplantation beträgt aktuell ca. 80 % [27].
Fazit für die Praxis
Das vermehrte Auftreten schwerer bakterieller Infektionen ist häufig ein erster Hinweis auf eine schwere Neutropenie.
Neutropenien sind mithilfe des Blutbilds einfach zu diagnostizieren; die ursächliche Zuordnung ist häufig schwieriger, dank neuer molekulargenetischer Erkenntnisse aber zunehmend möglich.
Die Anbindung der Patienten an ein Zentrum und die Registrierung im SCNIR ist bei SCN wichtig, insbesondere da es sich um seltene Erkrankungen handelt, die ein lebenslanges Monitoring erfordern und ein erhöhtes Risiko für sekundäre Leukämien beinhalten.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
J. Skokowa, C. Zeidler und K. Welte geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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