2 Rechtliche Aspekte und Elterngespräche
2.1 Rechtliche Aspekte
Ein ärztlicher Eingriff ist nur dann rechtmäßig, wenn eine medizinische Indikation für den betreffenden Eingriff vorliegt und die einsichts- und urteilsfähigen Patient(inn)en dazu eingewilligt haben. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Patient(inn)en ist mehrfach rechtlich abgesichert und hat entscheidenden Einfluss auf die rechtlichen Handlungspflichten des Arztes/der Ärztin [
6].
1
Eine medizinische Indikation für eine Behandlung liegt dann nicht mehr vor, wenn der behandelnde Arzt/die behandelnde Ärztin entsprechend den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellt, dass die laufende oder weitere Behandlung mangels Wirksamkeit nicht mehr Erfolg versprechend bzw. aussichtslos ist. In diesem Fall gibt es keine ärztliche Behandlungspflicht; ein Behandlungsabbruch kann auch gegen den Willen der Patient(inn)en erfolgen [
7].
Die Einwilligung in die Heilbehandlung muss grundsätzlich von den einsichts- und urteilsfähigen Patient(inn)en selbst gegeben werden. Ein Fetus bzw. ein Frühgeborenes besitzt naturgemäß weder die Fähigkeit zur Einsicht in die Bedeutung und die Tragweite einer Entscheidung noch die Fähigkeit, einen entsprechenden Willen zu artikulieren.
Für diese Fälle sieht der Gesetzgeber vor, dass die Zustimmung der Person erforderlich ist, die mit der gesetzlichen Vertretung in Pflege und Erziehung betraut ist.
2 Dies sind in der Regel die Eltern, wobei jeder Elternteil für sich allein entscheidungsbefugt ist [
8].
Voraussetzung für die Zustimmung (oder Ablehnung) ist die Aufklärung. Durch die Aufklärung sollen die Patient(inn)en bzw. im Fall eines Fetus oder Frühgeborenen die Eltern als gesetzliche Vertreter in die Lage versetzt werden, Für und Wider einer möglichen Behandlung gegeneinander abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen.
Die Eltern sind jedoch nicht völlig frei in ihrer Entscheidung, sondern an das Wohl des Kindes gebunden. Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes – beispielsweise durch die ungerechtfertigte Ablehnung einer indizierten therapeutischen Maßnahme –, sieht das Gesetz vor, dass das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen oder im Einzelfall die Einwilligung oder Zustimmung ersetzen kann. Der Arzt/die Ärztin oder die Krankenanstalt ist in solchen Fällen verpflichtet, eine Meldung bei Gericht vorzunehmen.
3
Bleibt nicht genug Zeit, um die notwendigen rechtlichen Schritte zu setzen, weil sonst Lebensgefahr für den Fetus oder das Frühgeborene besteht, kommt die Notfallregelung zum Tragen: Nach § 110 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) und § 173 Abs. 3 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) kann die Zustimmung des Erziehungsberechtigten entfallen, wenn durch die dadurch bewirkte Verzögerung das Leben des Kindes gefährdet oder damit die Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre. In diesen Fällen ist eine Behandlung auch ohne Einwilligung (Zustimmung) rechtmäßig bzw. sogar geboten [
9].
Nach § 138 ABGB
4 ist das Wohl des Kindes/
Kindeswohl als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten. Die Frage, was das Kindeswohl ist, kann aber nicht abschließend beantwortet werden. Hier kommt sowohl dem Arzt/der Ärztin als auch den Eltern ein Ermessensspielraum zu. Wichtige
Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls sind u. a. eine angemessene Versorgung (Nahrung, medizinische und sanitäre Betreuung etc.), Fürsorge, Geborgenheit sowie der Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes. Es handelt sich um eine beispielhafte Aufzählung wesentlicher Kriterien; es besteht keine Rangordnung zwischen den einzelnen Punkten. Die Kriterien sollen dabei helfen, den unbestimmten Gesetzesbegriff „Kindeswohl“ zu schärfen. Bei der Beurteilung, wie sich eine Maßnahme auf das Kind auswirken wird, ist jedenfalls immer das Kindeswohl in seiner Gesamtheit zu betrachten. Es handelt sich bei den Kriterien des Kindeswohls um ein bewegliches System. Nicht erwartet werden kann, dass durch die getroffene Regelung die Aspekte des Kindeswohls gemäß § 138 ABGB zur Gänze erfüllt werden können. Sämtliche Kriterien sind für eine Entscheidung maßgeblich, dürfen aber nicht isoliert, sondern müssen in ihrer Gesamtheit betrachtet, bewertet und gegeneinander abgewogen werden [
10].
Das Kindeswohl wird dabei nicht als konstante Größe, sondern als „flexibles Attribut jeweils spezifischer und veränderlicher Konstellationen von personalen und sozialen Schutz- und Risikofaktoren“ verstanden [
11].
Da nicht auf den Willen eines Fetus bzw. Frühgeborenen zurückgegriffen werden kann, kann nur auf den vermeintlichen, den „mutmaßlichen“ Willen abgestellt werden. Dieser ist allerdings schwer zu ermitteln, da über die subjektive Gefühls- und Wahrnehmungswelt eines Fetus bzw. Neugeborenen wenig Objektives bekannt ist.
Wird die medizinische Behandlung gerechtfertigterweise aufgrund fehlender medizinischer Indikation oder einer fehlenden Zustimmung der Eltern, die im Kindeswohl liegt, unterlassen („primary nonintervention“) oder limitiert („redirection of intensive care“), sind in jedem Fall palliative Maßnahmen fortzuführen. Leid- und Schmerzlinderung gehören auch in aussichtslosen Fällen zu den rechtlich gebotenen ärztlichen Leistungen.
Wie die Ausführungen zeigen, kommt den Eltern als auch den Ärzt(inn)en im Rahmen der Beurteilung, was im Kindeswohl liegt, ein Ermessensspielraum zu, sodass die Kommunikation zwischen Eltern und dem Behandlungsteam ganz zentral ist. Gerade in diesem sensiblen Bereich ist ein gutes Zusammenwirken aller beteiligten Personen sehr wichtig, sodass sowohl aus der rechtlichen Notwendigkeit heraus wie auch im Sinne einer guten gemeinsamen Entscheidungsfindung alle medizinischen Möglichkeiten, Risiken und Sorgen ausführlich besprochen werden sollten, um letztlich eine Entscheidung im besten Sinne und Wohle aller Beteiligten treffen zu können.
2.2 Elterngespräche
Der bei drohender Frühgeburt idealerweise mehrmalig und regelmäßig stattfindende Gesprächskontakt des perinatologischen Teams (geburtshilfliches und neonatologisches Team) mit den Eltern fördert die Entwicklung einer Vertrauensbasis, die das Fundament für verantwortungsvolle gemeinsame Entscheidungen auf Basis medizinischer und moralisch-ethischer Aspekte zum Wohle des Kindes darstellt. Die Gespräche sollen einerseits stets und laufend über alle aktuellen Ereignisse informieren, andererseits aber auch evtl. Konsequenzen gemeinsamer Entscheidungen verständlich machen. Ein wesentlicher Aspekt erfolgreicher Kommunikation ist, dass den Eltern genügend Zeit zur Verarbeitung der Informationen zugestanden wird. Vor allem bei prognostischer Unsicherheit können die Sicht und die Einstellung der Eltern richtungweisend für das weitere medizinische Vorgehen sein.
3 Ethische Aspekte
Hohe Mortalitäts- und Morbiditätsraten bei intensivmedizinisch betreuten, sehr unreifen Frühgeborenen haben zu moralisch-ethischen Bedenken im Zusammenhang mit der intensivmedizinischen Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit geführt [
12,
13].
In der Diskussion spiegelt sich der Konflikt zwischen 2 prinzipiellen ärztlichen Pflichten wider: Einerseits der ärztlichen Pflicht der Lebenserhaltung, einer „Prima-facie“-Pflicht (das Recht auf Leben ist durch Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention in Österreich verfassungsrechtlich geschützt), und andererseits dem Auftrag, einem Menschen kein Leid zuzufügen („Primum nihil nocere“ – zuallererst gilt es, nicht zu schaden). Die ärztliche Garantenstellung in Bezug auf Lebenserhaltung darf aber nicht in der Weise überinterpretiert werden, dass daraus ein „Zwang zum Leben“ wird. Werden lebenserhaltende Maßnahmen umgekehrt nur dann akzeptiert, wenn daraus eine möglichst gute und hohe Lebensqualität resultiert, kommt dies einer Diskriminierung von Menschen mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen nahe. Dennoch müssen Überlegungen zu Lebensqualität und Lebensverwirklichung grundsätzlich statthaft sein, da anderenfalls eine prinzipielle Lebenserhaltungspflicht ohne Rücksicht auf anhaltendes oder unverhältnismäßig großes individuelles Leid resultieren würde.
In dieser Konfliktsituation kann es oft nur Kompromisslösungen geben, die versuchen, beiden Extremstandpunkten gerecht zu werden. Dies erfordert eine regelmäßig stattfindende Abwägung der Therapieziele, angepasst an den individuellen Krankheitsverlauf. Die Grundlage und Intention einer Therapiezieländerung von lebenserhaltender Therapie zu Palliativbehandlung („redirection of intensive care“) darf nicht aus dem Wunsch hervorgehen, ein Überleben ohne Beeinträchtigung zu garantieren, sondern muss vielmehr die Vermeidung und die Linderung von unverhältnismäßig großem Leid sein. Prinzipiell gibt es aus ethisch-moralischer Sicht keinen Unterschied zwischen einem indizierten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und deren Beenden. Daraus schlussfolgernd muss die Konsequenz gezogen werden, bei kleinsten Zweifeln über die Richtigkeit der Behandlung primär proaktiv lebenserhaltend zu handeln. Je nach weiterem Verlauf sowie besseren Möglichkeiten einer adäquaten und sicheren Prognosestellung sind die Therapieziele laufend zu evaluieren und ggf. auch zugunsten einer Palliativbetreuung zu ändern.
Ärzte und Ärztinnen, deren ärztliches Ethos auf utilitaristischer bzw. teleologischer Ethik ruht, werden mit der Prognoseeinschätzung nach Gestationsalter, Geschlecht, Geburtsgewicht (s. Abschn. 5 „Medizinische Aspekte – prognostische Parameter“) sowie daraus abgeleiteten Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen keine ethisch-moralischen Probleme haben (angloamerikanische Tradition: Jeremy Bentham – 1748–1832, John Stuart Mill – 1806–1873; „der größte Nutzen bzw. das größte Glück für die größte Zahl“). Für Ärzte und Ärztinnen, die sich dem im deutschen Sprachraum eher vorherrschenden deontologischen Ethikansatz verpflichtet fühlen, steht das individuelle Heil („Salus aegroti suprema lex“/Das Heil unserer Patienten sei unser oberstes Gebot – hippokratische Medizin) im Vordergrund (Pflichtenethik; „hippokratische und Kant-Tradition“). Diese Ärzte und Ärztinnen werden sich auch um die Patient(inn)en sorgen, die sich am Rande einer statistischen Verteilungskurve befinden und durch Prognosestellungen, die auf statistischen Daten beruhen, nicht erfasst werden können. Wie dieses Heil der Patient(inn)en, für das zu sorgen sich Ärzte und Ärztinnen verpflichtet fühlen, allerdings zu definieren ist, und was es an zumindest minimaler Lebensqualität, möglichen Lebensinhalten und Potenzial zur Lebensverwirklichung beinhalten sollte, ist gerade bei Patient(inn)en mit äußerst schlechter Prognose nicht eindeutig zu definieren, z. B. bei extremer Frühgeburtlichkeit mit oft monatelang nötiger Intensivtherapie und u. U. ausgeprägter Langzeitmorbidität [
14].
Auf Basis dieses Wissens ist es für das Wohl der betroffenen, nichtautonom entscheidungsfähigen Patient(inn)en wesentlich, dass folgenschwere, meist unumkehrbare und für das individuelle Leben endgültige Entscheidungen nicht von Einzelpersonen, sondern immer im multidisziplinären Team (Geburtshelfer[innen], Neonatolog[inn]en, Hebammen, neonatologisches Pflegepersonal und andere Fachkräfte) unter Einbeziehung und Berücksichtigung der Interessen und Wünsche der Eltern getroffen werden. Die Sicht der Eltern soll gehört und in den Konsens einbezogen, aber nicht zur Indikationsbewertung lebenserhaltender Maßnahmen herangezogen werden [
15]. Bei prognostischer Unsicherheit können allerdings die Sicht und die Einstellung der Eltern richtungbestimmend für das weitere medizinische Vorgehen sein. Die Meinungen darüber, ob die Beratung der Eltern entscheidungsneutral auf Basis von Outcome-Daten (Mortalität und Morbidität betreffend) erfolgen sollte oder eher direktiv, in dem Sinne, dass den Eltern die Entscheidung eines fachlich erfahrenen Teams als das unter den Umständen beste Vorgehen präsentiert werden sollte, sind durchaus kontrovers [
14,
15].
Auf jeden Fall muss dem Gespräch mit den Eltern, in dem das weitere Vorgehen besprochen und entschieden wird, ein Teamentscheidungsprozess vorausgehen. Idealerweise sollten alle an diesem Entscheidungsprozess Beteiligten überzeugt sein, dass die getroffene Entscheidung die beste im Interesse des Patienten/der Patientin ist. Mehrheitsentscheidungen sind aufgrund der zumeist nicht mehr umkehrbaren Auswirkungen solcher Entscheidungen für die Patient(inn)en als ethisch-moralisch bedenklich anzusehen. Sollten bei einzelnen Mitgliedern im Entscheidungsteam Zweifel über die Richtigkeit der Vorgangsweise bestehen, sollten alternative Vorschläge in Betracht gezogen oder in speziellen Fällen vorerst auch alle therapeutischen Optionen im Sinne eines proaktiven Vorgehens nach dem Grundsatz „im Zweifel für das Leben“ wahrgenommen werden. Werden vom medizinischen Betreuungsteam therapeutische Maßnahmen als nicht oder nicht mehr sinnvoll und daher als nicht/nicht mehr indiziert eingestuft, ist das medizinische Team weder in rechtlicher noch in ethisch-moralischer Hinsicht verpflichtet, diese Maßnahmen durchzuführen, auch wenn diese von den Eltern für ihr Kind verlangt werden sollten (z. B. Reanimationsmaßnahmen oder maschinelle lebensverlängernde Maßnahmen bei äußerst schlechter Prognose).
Für die Therapiezieldefinition muss ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Der Entscheidungsprozess, die daraus resultierenden Therapieziele, die Therapiemaßnahmen und die nichtindizierten Optionen müssen in nachvollziehbarer Weise schriftlich dokumentiert werden. Die getroffenen Entscheidungen werden in Folge den Eltern in einem oder auch mehreren ausführlichen Gesprächen mitgeteilt und deren evtl. Bedenken gehört. Bedenken der Eltern sollten im Therapiezielprotokoll vermerkt werden.
Im Fall eines mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden äußerst schlechten Verlaufs (bei drohender Frühgeburt bis SSW 22 + 6) sollten lebenserhaltende Maßnahmen vom Entscheidungsteam als nichtindiziert eingestuft werden. Somit sollte gegenüber den Eltern eine eindeutige Entscheidung des Behandlungsteams zur Palliativtherapie ausgesprochen werden (direktive Beratung).
Sollte die Prognose unklar sein bzw. in einem signifikanten Prozentsatz einen komplikationsreichen Verlauf erwarten lassen (bei drohender Frühgeburt von SSW 23 + 0–23 + 6), erscheint eine nichtdirektive Beratung mit einem folgenden „shared decision making“ am sinnvollsten. Hierbei wird den Eltern ein gleichberechtigtes Mitspracherecht auf Basis ihres Weltbilds und ihrer Wünsche zugestanden.
Im Fall eines mit höherer Wahrscheinlichkeit guten Outcome (bei drohender Frühgeburt ab SSW 24 + 0) sollte eine direktive Beratung der Eltern zu einem proaktiven Vorgehen erfolgen [
16].
4 Indizierter Verzicht auf lebenserhaltende intensivmedizinische Behandlung
Da vom medizin-ethischen Grundsatz ausgegangen werden kann, dass Therapieverzicht aufgrund einer äußerst schlechten Prognose und Therapieabbruch bei einer Therapiezieländerung aufgrund eines äußerst schlechten klinischen Verlaufs rechtlich und auch ethisch-moralisch gleich zu bewerten sind, empfiehlt es sich, in Situationen, in denen eine Entscheidungsfindung zum besten Wohle des Kindes akut schwierig oder gar unmöglich ist, proaktiv mit einer intensivmedizinischen Behandlung zu beginnen. Dieses Vorgehen betrifft sowohl unvorhersehbare Notfälle (wenn ein aufklärendes Gespräch mit den Eltern unmöglich ist) wie auch Situationen, in denen unklare Schwangerschaftsverhältnisse (z. B. in Bezug auf das Gestationsalter) bestehen. Um jedem Kind eine faire Lebenschance zu gewährleisten, sollte die Option einer proaktiven intensivmedizinischen Behandlung im Zweifelsfall großzügig angewendet werden. In weiterer Folge können klinischer Verlauf und regelmäßig stattfindende Teambesprechungen Klarheit darüber schaffen, ob die intensivmedizinische Behandlung weiterindiziert ist und fortgesetzt werden soll. Eine proaktive intensivmedizinische Behandlung bei prognostischer Unsicherheit zu einem gegebenen Zeitpunkt ermöglicht zu einem späteren Zeitpunkt eine genauere medizinische Beurteilung des kindlichen Zustands und auch eine sicherere Prognosestellung, sodass eine evtl. Therapiezieländerung von intensivtherapeutischer Betreuung zu Palliativbetreuung bzw. „comfort care“ („redirection of care“) eine verantwortungsbewusste und objektiv gut begründbare Grundlage hat.
4.1 „Palliative care“
Wenn eine Therapiezieländerung in Richtung „palliative care“ entschieden wird, weil die Fortführung lebenserhaltender intensivmedizinischer Behandlungsformen unter den gegebenen Umständen nicht weiterindiziert ist, muss alles getan werden, um Schmerz, Atemnot und sonstiges Leid so gut wie möglich zu lindern. Falls es für eine wirksame Schmerz- und Atemnotbekämpfung notwendig ist, ist es medizinisch indiziert, rechtlich legal und geboten, Medikamentendosierungen zu verwenden, die möglicherweise auch lebensverkürzend wirken können. Strafbar und nicht mit den in Österreich üblichen medizinethischen Grundsätzen vereinbar ist hingegen die Verabreichung von Medikamenten mit der Indikation, das Leben eines Frühgeborenen zu beenden. Im Vordergrund steht die Indikation bzw. Intention, in der potenziell lebensverkürzende Medikamente Palliativpatient(inn)en verabreicht werden, und nicht deren Wirkungsprofil. Zu Schmerz- und Atemnotlinderung sind diese Medikamente absolut geboten (auch in hohen Dosen, wenn es die klinische Symptomatik erfordert), zur aktiven Beendigung eines, wenn auch überaus leidvollen menschlichen Lebens, verboten.
Neben der medikamentösen Versorgung sind auch andere Maßnahmen, die Wohlbefinden und Geborgenheit vermitteln, wie Zuwendung durch Eltern und Betreuer, Wärme, Ernährung, Schmerzreizvermeidung etc. nicht außer Acht zu lassen. Den Eltern sollen auf Wunsch durch einen engen und zeitlich möglichst unbegrenzten Kontakt zum sterbenden Kind das Abschiednehmen und die Trauerarbeit erleichtert werden. Wenn die Eltern es wollen, sollte das Kind im Arm seiner Mutter bzw. seines Vaters versterben dürfen.
Den betroffenen Familien ist sowohl psychologische wie auch spirituelle Unterstützung anzubieten.
7 Prognosestellung – Empfehlungen
Überlebensraten extrem unreifer Frühgeborener an der Grenze der Lebensfähigkeit in Österreich und im internationalen Vergleich sind in Tab.
1 zusammengefasst.
Tab. 1
Überlebensraten (in Prozent) extrem unreifer Frühgeborener der SSW 22 + 0–24 + 6
Österreichisches Frühgeborenen Outcome-Register | Österreich | 2011–2013 | 0 | 44 | 69 |
Vanhaesebrouck et al. [ 55] | Belgien | 1999–2000 | 0 | 6 | 29 |
| Norwegen | 1999–2000 | 0 | 16 | 44 |
| Finnland | 1999–2000 | 0 | 24 | 47 |
| USA | 1998–2003 | 5 | 26 | 56 |
| USAa
| 1998–2003 | 5 | 38 | 63 |
| Vereinigtes Königreich | 2000–2005 | 0 | 18 | 41 |
| Australien | 2005 | 5 | 22 | 51 |
| Schweden | 2004–2007 | 10 | 52 | 67 |
| Vereinigtes Königreich | 2005 | 5 | 16 | 42 |
| Vereinigtes Königreich | 2006 | 2 | 19 | 40 |
| Vereinigtes Königreich | 2008–2010 | NA | 29/35b
| 48/56b
|
| USA | 2008–2011 | 5 | 31 | 61 |
Spätestens seit der Arbeit von Tyson et al. [
18] wissen wir, dass an der Grenze der Lebensfähigkeit auch andere Faktoren als das Gestationsalter maßgeblich für die Prognose des Überlebens ohne schwere entwicklungsneurologische Beeinträchtigung verantwortlich sind (s. Abschn. 5 „Medizinische Aspekte – prognostische Parameter“).
Weitere Faktoren, die maßgeblich das Outcome an der Grenze der Lebensfähigkeit beeinflussen, betreffen geburtshilfliche Aktivitäten wie Tokolyse, Lungenreifung und Sectioentbindung ([
36,
44]; s. Abschn. 5 „Medizinische Aspekte – prognostische Parameter“).
Zu berücksichtigen bei der Interpretation von publizierten Überlebensraten ist jedenfalls, dass bis zu 40 % aller Todesfälle, speziell bei den allerunreifsten Frühgeborenen der SSW 22 und 23 sowie als infaust eingeschätzter Langzeitprognose, mit einer Änderung des Therapieziels von kurativ/proaktiv auf palliativ assoziiert sind [
36].
Bei drohender Geburt an der Grenze der Lebensfähigkeit sollten für die präpartale Aufklärung der Eltern jedenfalls Daten der Literatur und auch eigene Daten herangezogen werden.
Die Empfehlungen zur Vorgangsweise in dieser Leitlinie orientieren sich weiterhin primär an der Schwangerschaftswoche, die oben genannten zusätzlichen beeinflussenden Faktoren sind dabei allerdings mitzuberücksichtigen.
Frühgeborene aus der SSW 22 haben nach wie vor eine sehr geringe Chance auf ein Überleben; der Prozentsatz beträgt in den letzten Jahren unverändert 0–10 % [
18,
36,
55‐
64].
In Österreich hat in den Jahren 2011–2013 kein einziges von 6 aktiv versorgten Frühgeborenen der SSW 22 überlebt (Daten des Österreichischen Frühgeborenen Outcome-Registers, nichtpubliziert).
Die Chancen für ein Überleben steigen bei
Frühgeburt in SSW 23 deutlich und zeigen auch über die Jahre eine steigende Tendenz. Die Überlebenschancen von Frühgeborenen der SSW 23 erhöhten sich in einem Kollektiv von US-amerikanischen Zentren von 25 % im Zeitraum 2000–2003 auf 31 % im Vergleichszeitraum 2008–2011 [
64]. In der rezenten Literatur der letzten 10 Jahre betrug das Überleben von extrem unreifen Frühgeborenen der SSW 23 in den USA, Europa und Australien 18–52 % [
36,
59‐
64]. In Österreich betrug das Überleben von 101 Frühgeborenen der SSW 23 aus den Jahren 2011–2013 44 % und lag somit im oberen Bereich der in der Literatur berichteten Überlebensraten (Daten des Österreichischen Frühgeborenen Outcome-Registers, nichtpubliziert).
Noch einmal deutlich besser sind die Überlebenschancen von
Frühgeborenen der SSW 24. In der rezenten Literatur der letzten 10 Jahre betrug das Überleben von extrem unreifen Frühgeborenen der SSW 24 in den USA, Europa und Australien 40–67 % [
36,
59‐
64]. In Österreich betrug das Überleben von 131 Frühgeborenen der SSW 24 in den Jahren 2011–2013 69 % und lag damit über den in der Literatur berichteten Überlebensraten (Daten des Österreichischen Frühgeborenen Outcome-Registers, nichtpubliziert).