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Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde 3/2020

10.08.2020 | Pädiatrie | Hans Asperger und die Heilpädagogik Zur Zeit gratis

Hans Asperger und die Heilpädagogik – ein Erfahrungsbericht

verfasst von: Dr. med. univ. Ernst Tatzer

Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde | Sonderheft 3/2020

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Zusammenfassung

Die Auseinandersetzung mit den Darstellungen von Czech und Sheffer über Hans Aspergers Rolle während des Nationalsozialismus (NS) bedingte unweigerlich eine neuerliche persönliche Beschäftigung mit dem eigenen Bild von Asperger und seinem Wirken. Über 10 Jahre habe ich – zunächst als Student, dann als Mitarbeiter seiner Klinik – Asperger persönlich erlebt. Sein beispielhafter Umgang mit den Kindern, seine daraus abgeleiteten Darstellungen und Erörterungen sowie die Vermittlung des umfassenden Lehrgebäudes der Heilpädagogik und eines höchst humanen Menschenbilds als Grundlage jedes Handelns inspirierten mich und viele meiner Generation.
Auch wenn es Asperger nicht gelang, die Heilpädagogik als integrierten Bestandteil innerhalb der Pädiatrie zu verankern, lassen sich Spuren Aspergers in den Biografien vieler KinderärztInnen finden. Noch größeren Einfluss hinterließ er im Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Anhand der Entwicklung dieses Fachgebiets wird in dieser Arbeit der Beitrag der Heilpädagogischen Station als eine ihrer zwei Wurzeln aufgezeigt. Dabei wird die Heilpädagogische Station mit ihrem geregelten Tagesablauf, dem interdisziplinären Team und ihrer kindzentrierten Arbeitsweise beschrieben. Ebenso wird auf die Diskrepanz zwischen den Darstellungen Aspergers, was Heilpädagogik sei, und einer, durch rigide Auslegung teilweise von seinen Vorstellungen abweichenden Umsetzung in den 1970er-Jahren Stellung genommen. Die inspirierende Rolle Aspergers auf die Pädagogik wird anhand der Entwicklung und Tätigkeit der Heilpädagogischen Gesellschaft Österreich dargestellt.
Nicht zuletzt werden Kritikpunkte zu Asperger und der Heilpädagogik hinterfragt. Dabei wird v. a. die ausschließlich zeitgeschichtliche Perspektive aus Akten, Krankengeschichten und Literatur in Bezug auf Aspergers Wirken ohne ausreichende Diskussion der damaligen Umstände problematisiert, die meiner Ansicht nach Anlass für Fehlinterpretation geben kann. Gleiches gilt für den Verzicht auf das Heranziehen von ZeitzeugInnen. Weitere Aufarbeitungen, v. a. die Heilpädagogik betreffend, sollten in Zusammenarbeit von ExpertInnen der Zeitgeschichte mit jenen der Medizin (Heilpädagogik) erfolgen.
Fußnoten
1
Über eine differenzierte Aufarbeitung dieser Periode wurde schon an anderer Stelle berichtet (5. Jour fixe des Vereins „Politische Kindermedizin“ vom 13.02.2019, http://​www.​polkm.​org/​newsletter/​newsletter_​4019.​pdf, bitte Sticky Note beachten). Eine weitere diesbezügliche Darstellung findet sich im vorliegenden Heft.
 
2
Diese Form der direkten Präsentation von Kindern ist heute zumeist abgelöst durch entsprechende Vorführungen von gefilmtem Material und wird oft sehr kritisch gesehen. Sie war zu Zeiten Aspergers in vielen Fächern des Medizinunterrichts durchaus üblich, wurde aber, abhängig von den Lehrenden, sehr unterschiedlich gehandhabt. In den Vorlesungen von Asperger hatte ich nicht den Eindruck, dass es die Kinder sehr belastete, zumindest kam es nie zu irgendwelchen offensichtlichen Beschämungen der Kinder.
 
3
Dieser Abschnitt speist sich v. a. aus persönlichen Erinnerungen an Aspergers Vorlesungen und Vorträge.
 
4
„… es (sind) vielmehr 5 Wissenschaften, welche die Quellströme der heilpädagogischen Lehre bilden: zwei ärztliche Sondergebiete, die Psychiatrie und die Kinderheilkunde, dann die Psychologie, die Sozialwissenschaft und die Pädagogik“ [2, S. 1].
 
5
Im Jahr 1911 unter Erwin Lazar (1877–1932) mit Eröffnung der Wiener Universitätskinderklinik (erster Leiter Clemens von Pirquet [1874–1929]) gegründet.
 
6
Im Jahr 1949 Errichtung eines Kinderzimmers, 1951 Erweiterung zu einer 12-Betten-Station, 1972 Extraordinariat und Abteilung für Kinderneuropsychiatrie.
 
7
In der Anlage 8 ist unter Z.8 Kinderheilkunde in der Spalte Anmerkungen folgende Anmerkung einzufügen: „Jene Fachärzte für Kinderheilkunde, die den Zusatz ‚(Kinderneuropsychiatrie)‘ führen wollen, haben zusätzlich eine einjährige Ausbildung in Psychiatrie und eine zweijährige Ausbildung an einer Abteilung für Neuropsychiatrie des Kindesalters nachzuweisen.“ https://​www.​ris.​bka.​gv.​at/​Dokumente/​BgblPdf/​1975_​529_​0/​1975_​529_​0.​pdf. Zugegriffen: 23.04.2020.
 
8
Dieses Institut hatte nur eine kurze Lebensdauer und ging nach etwa 20 Jahren im Institut für Erziehungswissenschaften auf.
 
10
Interview mit Irmtraut Karlsson Ö 1, Morgenjournal,19.10.2011 https://​oe1.​orf.​at/​artikel/​288741/​Studie-Heime-als-Kindergefaengnis​se. Zugegriffen: 23.04.2020.
 
12
Ich war von 2008 bis 2014 Präsident und bin seit Mai 2016 Ehrenpräsident dieser Gesellschaft.
 
13
So manch eine/einer dieser PädagogInnen verstand sich als „kleiner Mediziner“.
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Asperger H (1942) „Jugendpsychiatrie“ und „Heilpädagogik“. Münch Med Wochenschr 89:352–356 Asperger H (1942) „Jugendpsychiatrie“ und „Heilpädagogik“. Münch Med Wochenschr 89:352–356
2.
Zurück zum Zitat Asperger H (1968) Heilpädagogik. Einführung in die Psychopathologie des Kindes für Ärzte, Lehrer, Psychologen, Richter und Fürsorgerinnen. Springer, Wien, New York Asperger H (1968) Heilpädagogik. Einführung in die Psychopathologie des Kindes für Ärzte, Lehrer, Psychologen, Richter und Fürsorgerinnen. Springer, Wien, New York
3.
Zurück zum Zitat Asperger H (1980) Begründung und Zielsetzung heilpädagogischen Handelns. Heilpädagogik 1:80 Asperger H (1980) Begründung und Zielsetzung heilpädagogischen Handelns. Heilpädagogik 1:80
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Zurück zum Zitat Bange D (2015) Geschichte der Erforschung von sexualisierter Gewalt im deutschsprachigen Raum unter methodischer Perspektive. In: Helfferich C, Kavemann B, Kindler H (Hrsg) Forschungsmanual Gewalt Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt. Springer, Heidelberg, S 33–49 Bange D (2015) Geschichte der Erforschung von sexualisierter Gewalt im deutschsprachigen Raum unter methodischer Perspektive. In: Helfferich C, Kavemann B, Kindler H (Hrsg) Forschungsmanual Gewalt Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt. Springer, Heidelberg, S 33–49
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Zurück zum Zitat Czech H (2018) Hans Asperger, National Socialism, and “race hygiene” in Nazi-era Vienna. Mol Autism 9:1–43CrossRef Czech H (2018) Hans Asperger, National Socialism, and “race hygiene” in Nazi-era Vienna. Mol Autism 9:1–43CrossRef
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Zurück zum Zitat Friedmann I (2016) Hans Asperger und die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik. Konzepte und Kontinuitäten. In: Krischel M, Schmidt M, Groß D (Hrsg) Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus Bestandaufnahme und Perspektiven. LIT, Berlin, S 309–320 Friedmann I (2016) Hans Asperger und die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik. Konzepte und Kontinuitäten. In: Krischel M, Schmidt M, Groß D (Hrsg) Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus Bestandaufnahme und Perspektiven. LIT, Berlin, S 309–320
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Zurück zum Zitat Leirer I (2016) Verwaltete Kinder – Eine soziologische Analyse von Kinder- und Jugendlichenheimen im Bereich der Stadt Wien Leirer I (2016) Verwaltete Kinder – Eine soziologische Analyse von Kinder- und Jugendlichenheimen im Bereich der Stadt Wien
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Zurück zum Zitat Sheffer E (2018) Asperger’s children: the origins of autism in Nazi Vienna. Norton, New York Sheffer E (2018) Asperger’s children: the origins of autism in Nazi Vienna. Norton, New York
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Zurück zum Zitat Spiegl B (2012) Zu den Anfängen des Instituts für Erziehungshilfe in Wien. Diplomarbeit. Universität Wien, Wien Spiegl B (2012) Zu den Anfängen des Instituts für Erziehungshilfe in Wien. Diplomarbeit. Universität Wien, Wien
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Zurück zum Zitat Tatzer E (2000) Festhalten oder Laufenlassen – Grenzsetzung als Mittel der Sozialisation. In: Tatzer E, Pflanzer S, Krisch K (Hrsg) Schlimm verletzt: Schwierige Kinder und Jugendliche in Theorie und Praxis. Krammer, Wien, S 137–145 Tatzer E (2000) Festhalten oder Laufenlassen – Grenzsetzung als Mittel der Sozialisation. In: Tatzer E, Pflanzer S, Krisch K (Hrsg) Schlimm verletzt: Schwierige Kinder und Jugendliche in Theorie und Praxis. Krammer, Wien, S 137–145
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Zurück zum Zitat Tatzer E (2003) Kinder und ihre Helfer – Wer braucht wen. In: Waldhauser F, Jürgenssen O, Püspök R, Tatzer E (Hrsg) Weggelegt. Kinder ohne Medizin? Czernin, Wien, S 111–139 Tatzer E (2003) Kinder und ihre Helfer – Wer braucht wen. In: Waldhauser F, Jürgenssen O, Püspök R, Tatzer E (Hrsg) Weggelegt. Kinder ohne Medizin? Czernin, Wien, S 111–139
16.
Metadaten
Titel
Hans Asperger und die Heilpädagogik – ein Erfahrungsbericht
verfasst von
Dr. med. univ. Ernst Tatzer
Publikationsdatum
10.08.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Monatsschrift Kinderheilkunde / Ausgabe Sonderheft 3/2020
Print ISSN: 0026-9298
Elektronische ISSN: 1433-0474
DOI
https://doi.org/10.1007/s00112-020-00950-8

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