Einleitung/Hintergrund
Intensive Sprachtherapie kann im chronischen Stadium einer Aphasie zu Verbesserungen der Kommunikation in alltagsnahen Situationen führen. Dies konnte in einer multizentrischen randomisiert-kontrollierten Studie von Breitenstein et al. [
3] anhand einer Stichprobe von 156 Personen gezeigt werden. Die 3‑wöchige Intensivtherapie bestand aus mind. 15 Übungsstunden pro Woche in der Interventionsgruppe und umfasste sprachsystematische und kommunikativ-pragmatische Methoden, ergänzt durch computergestützte Verfahren zum Eigentraining. Die erzielten Fortschritte blieben auch 6 Monate nach Behandlungsende bestehen [
3]. Verglichen wurden die Ergebnisse nach der Intensivtherapie (Interventionsgruppe) mit einer entsprechend langen Wartezeit ohne intensive Sprachtherapie (Kontrollgruppe). Die Effektstärke des Gruppenvergleichs lag im mittleren Bereich (Cohen’s d = 0,58); die numerische Punktwertänderung von vor zu nach der Therapie fiel bei den meisten Teilnehmenden moderat aus [
3].
Parallel dazu legten mehrere Proof-of-concept-Studien nahe, dass transkranielle Gleichstromstimulation („transcranial direct current stimulation“, tDCS) ein einfach anzuwendender, gut verträglicher und kostengünstiger Ansatz zur Wirksamkeitssteigerung von Sprachtherapie bei chronischer Aphasie nach Schlaganfall sein könnte [
2,
4‐
7]. Nach mehreren Arbeiten an kleinen Kollektiven von 10 (Baker et al. [
2]) bzw. 8 (Fridriksson et al. [
6]) Teilnehmenden mit chronischer Aphasie, wurde in einer größeren randomisiert-kontrollierten Studie mit 74 Patient:innen mit chronischer Aphasie aus derselben Arbeitsgruppe [
7] berichtet, dass ein Benenntraining mit a‑tDCS über temporalen Bereichen der linken Hemisphäre zu einer 70 % höheren Benennleistung im Vergleich zu sham-tDCS führte.
Eine randomisiert-kontrollierte Phase-II-Studie von Meinzer et al. [
13] mit 26 Patient:innen mit chronischer Aphasie lieferte Hinweise auf eine erhöhte Wirksamkeit eines intensiven computergestützten Sprachtrainings durch a‑tDCS über dem linken primärmotorischen Kortex (M1) gegenüber sham-tDCS. Es zeigten sich für den Gruppenvergleich (a-tDCS vs. sham-tDCS) nach Abschluss des Trainings sowie im Follow-up nach 6 Monaten hohe Effektstärken, allerdings vorwiegend für das Benennen von Objekten. Alltagsnahe Kommunikation wurde ausschließlich durch Fragebögen erfasst.
Zusammengefasst deuten die vorläufigen Erkenntnisse darauf hin, dass a‑tDCS eine signifikante Verbesserung der Benenn- und Kommunikationsfähigkeiten bei chronischer Aphasie nach Schlaganfall bewirken kann im Vergleich zur Sprachtherapie ohne tDCS. Diese Verbesserungen zeigen mittlere bis große Effektstärken und weisen auf die Stabilität der erzielten Behandlungsergebnisse hin.
Auf den bisherigen Erkenntnissen beruhend wurde die Studie Transcranial Direct Current Stimulation to Enhance Training Effectiveness in Chronic Post-Stroke Aphasia (kurz: DC_TRAIN_APHASIA; Transkranielle Gleichstromstimulation zur Verbesserung der Trainingseffektivität bei chronischer Aphasie nach Schlaganfall) initiiert, welche in einem multizentrischen randomisiert-kontrollierten Ansatz klären soll, ob sich die Effektstärke intensiver Sprachtherapie durch den Einsatz von a‑tDCS als therapieadjuvante Applikation erhöhen lässt [
16]. In dieser Phase-III-Studie mit 19 Aphasiebehandlungszentren (aktiv 16
1) in 9 Bundesländern, die im November 2019 gestartet ist und an der Universitätsmedizin Greifswald koordiniert wird, sollen 130 Menschen mit chronischer Aphasie bis Dezember 2024 bundesweit rekrutiert werden.
Direkt nach ihrem Start Ende 2019 war die Studie DC_TRAIN_APHASIA von der Corona-Pandemie betroffen, weshalb es früh zur Herausforderung wurde, eine ausreichende Anzahl Menschen mit Aphasie zu erreichen und zu rekrutieren. Eine Arbeit von Treweek et al. [
17] fasst bewährte Rekrutierungsoptionen für randomisiert-kontrollierte Studien zusammen. Die Autor:innen empfehlen u. a. telefonische Erinnerungen bei Teilnehmer:innen, die nicht selbst auf Anfragen reagieren. Als erfolgreich erwiesen sich auch die Verwendung von „Opt-out-“ statt „Opt-in-Verfahren“ (Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bei Nichtwiderspruch) und „offene“ Studiendesigns, in denen die Zuteilung zu den Interventionsgruppen bekannt ist [
17]. Aus ethischen bzw. methodischen Gründen können letztere Strategien jedoch nicht grundsätzlich empfohlen werden. Ein Review von Houghton et al. [
9] benennt Wissenschaftskommunikation, den Einfluss persönlicher Faktoren und des direkten Umfelds sowie den persönlichen Nutzen einer Teilnahme als wichtig für die Rekrutierung. Preston et al. [
15] berichten von höheren Rekrutierungsraten beim Einsatz speziell für die Rekrutierung zuständiger und geschulter Personen und eines automatischen Systems zur Identifizierung geeigneter Teilnehmender in Datenbanken. Eine Studie von Patel et al. [
14] beschreibt Methoden zur Steigerung der Bekanntheit und Zugänglichkeit von Studien: Sie unterteilt in „Allgemein“ (z. B. Design eines Projektlogos, Erstellung von Visitenkarten und Bereitstellung einer kostenlosen Rufnummer inkl. eines Anrufbeantworters), „Öffentlichkeit“ (z. B. Radiobeitrag, Zeitungsinserate und Information in öffentlichen Gebäuden) und „klinische Gruppen“ (z. B. Präsentationen bei zielgruppenspezifischen oder öffentlich zugänglichen Veranstaltungen). McDonald et al. [
12] nennen (a) das Versenden von Newsletters, E‑Mails und Flyern an Klinikpersonal und/oder Patient:innen, (b) regelmäßige persönliche Kontaktaufnahmen mit Kliniken/Praxen und (c) Information mittels Plakaten und Informationsblättern in Kliniken/Praxen als häufigste Rekrutierungsoptionen.
DC_TRAIN_APHASIA untersucht in einem randomisiert-kontrollierten Setting, ob durch a‑tDCS des linken M1-Areals (verglichen mit sham-tDCS) der Effekt einer 3‑wöchigen intensiven Sprachtherapie auf die Kommunikation verstärkt werden kann [
16] und ob dieser inkrementelle Nutzen auch für alltagsnahe Kommunikationsleistungen nachweisbar ist. Zur Prüfung alltagsnaher Kommunikation wird der Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test (ANELT) zum Zeitpunkt des 6‑monatigen Follow-ups als primärer Outcomeparameter verwendet. In diesem Beitrag wird das Studienprotokoll vorgestellt sowie die umfangreichen Rekrutierungsstrategien erläutert und diskutiert.
Zwischenergebnisse
Rekrutierung und Studientherapie
Aktuell wurden 159 Studieninteressierte gescreent, von welchen 110 Patient:innen in die Studie DC_TRAIN_APHASIA eingeschlossen wurden. Entsprechend konnten 49 Proband:innen nicht eingeschlossen werden. Beim Screening war der Ausschluss bislang zumeist bedingt durch zu schwere Beeinträchtigungen im Aachener Aphasie Test (AAT), eine nicht zuverlässig nachweisbare Restaphasie (AAT) oder eine zu gering ausgeprägte Benennstörung (laut computerbasierter Diagnostik mit der AphaApp). Ein medizinischer Ausschluss war am häufigsten auf eine zu große Schädigung des linken M1-Kortex laut aktueller Bildgebung (CT oder MRT) zurückzuführen.
Im Sommer 2022 kam ein Studienzentrum in Rostock hinzu. In den 19 teilnehmenden Zentren haben bislang 89 Patient:innen die Therapie durchlaufen. Dementsprechend bestand trotz der großen Herausforderung der Corona-Pandemie, die von Anfang 2020 bis Ende 2022 andauerte, über die letzten 3,5 Jahre ein kontinuierlicher Fortschritt. Die Rückmeldungen zur Studienteilnahme in den Zentren sowie zur Organisation waren bisher sehr positiv. Derzeit ist geplant, noch bis Ende 2024 zu rekrutieren und Therapien durchzuführen. Mit ersten Ergebnissen ist ab Mitte 2025 zu rechnen.
Evaluation Rekrutierungsmethoden
Dass die Studie zu keinem Zeitpunkt pausierte, sondern kontinuierlich weiterlief, ist auch auf die großen Bemühungen bei der Rekrutierung zurückzuführen. Methoden, die besonders viel Rücklauf generierten, waren die Kontaktierung von Selbsthilfegruppen, Logopäd:innen und Neurolog:innen, weshalb diese regelmäßig wiederholt werden. Der Fernseh- und Radiobeitrag zur Studie zeigte sich als kurzfristig sehr erfolgreich, v. a. direkt nach der Ausstrahlung und solange die Beiträge in der Mediathek des NDR online abrufbar waren. Soziale Medien können zunehmend zur Rekrutierung beitragen. Um einen Einfluss der Rekrutierungsmethoden auf die Repräsentativität im Hinblick auf die Zielpopulation gering zu halten, wurde versucht, sowohl Patient:innen als auch Angehörige und Therapeut:innen zu erreichen.
Therapiephase und tDCS-Sicherheitsaspekte
Das Data Safety and Monitoring Board, welches regelmäßig tagt und die Sicherheit der klinischen Phase-III-Studie anhand aufgetretener „unerwünschter Ereignisse (‚adverse events‘, AEs)“ beurteilt, äußerte bislang keine Sicherheitsbedenken, sodass das Studiendesign unverändert blieb. Außer typischen Nebenwirkungen wie leichte Kopfschmerzen, Kribbeln oder Brennen unterhalb der Elektroden, die bei a‑tDCS auftreten können [
1], wurden keine schwerwiegenderen Nebenwirkungen berichtet. „Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (‚severe adverse events‘, SAEs)“ traten glücklicherweise nicht auf.
ANELT und Endpoint Committee
Das Endpoint Committee ratet randomisiert je Teilnehmer:in in variablen Zweierteams den ANELT als primären Outcomeparameter der Studie. Die Beurteiler:innen sind verblindet bez. der Gruppenzuordnung und des Messzeitpunktes der ANELT-Aufnahme. Vor Beginn der Ratings konnte eine zufriedenstellende Interraterreliabilität über die 8 Beurteiler:innen erreicht werden.
Weiteres
Neben dem Data Safety and Monitoring Board und dem Endpoint Committee ist das Trial Steering Committee ein wichtiges Gremium der Studie. Es hält regelmäßig Sitzungen ab, bei welchen dem Studienteam der Einbezug von Patientenvertreter:innen wichtig ist. Sowohl dort als auch bei regelmäßigen Get-Togethers, bei welchen alle Studienbeteiligten zusammenkommen, ist die Meinung von Betroffenen entscheidend und wird mit hoher Priorität berücksichtigt. Zur statistischen Auswertung ab 2025 liegt ein detaillierter Datenanalyseplan vor.
Diskussion
Die multizentrische Phase-III-Studie DC_TRAIN_APHASIA, die a‑tDCS als therapieadjuvante Applikation untersucht, rekrutiert noch bis Ende 2024. Die Studie fiel unmittelbar in den Zeitraum der Corona-Pandemie. Im Vordergrund stand daher während der Pandemie vor allem, bei der Rekrutierung auf die individuellen Ängste und Bedürfnisse der Patient:innen einzugehen. Hierbei ist ein sensibles Vorgehen der involvierten Mitarbeiter:innen erforderlich [
15]. Wie von Houghton et al. [
9] empfohlen, war insbesondere die umfangreiche Darstellung und Diskussion der Vor- und Nachteile einer Teilnahme an klinischen Studien wichtig, um Proband:innen und ihre Angehörigen zu überzeugen. Automatische Systeme zur Identifizierung passender Proband:innen [
15] in vorliegenden Datenbanken stellten sich als hilfreich heraus. Auch von Treweek et al. [
17] vorgeschlagene telefonische Erinnerungen und das persönliche Gespräch waren obligatorisch und effektiv. Der Einsatz von „Opt-out-Verfahren“ hingegen war aus datenschutzrechtlichen Gründen in der Studie DC_TRAIN_APHASIA nicht möglich. Ebenso war es im Rahmen der vorliegenden Studie aufgrund der Anlegung als Doppelblindstudie nicht möglich, die Gruppenzuordnung vorab bekanntzugeben. Die von McDonald et al. [
12] und Patel et al. [
14] beschriebenen Methoden wie der Kontakt zu Kliniken/Praxen sowie Radiobeiträge, Zeitungsinserate und Information in öffentlichen Gebäuden konnten erfolgreich umgesetzt werden.
Die in diesem Beitrag vorgestellten Rekrutierungsstrategien vermitteln einen Eindruck der vielfältigen Herausforderungen bei der Durchführung einer groß angelegten multizentrischen Aphasiestudie. Durch die Zusammenstellung wird Studien ein Leitfaden für die Rekrutierung zur Verfügung gestellt, sodass klinische Aphasiestudien im deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus, zukünftig erfolgreicher rekrutieren können. Zur Stärkung der Rekrutierung durch die klinischen Partner könnte ein „Siegel-System“ eingeführt werden. Kliniken könnten dieses „Forschungssiegel“ verwenden, um ihr Engagement in der klinischen Forschung nach außen sichtbar darzustellen und so für ihre Einrichtung zu werben.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Das Studienprotokoll wurde zu Beginn der Arbeit der zuständigen Ethikkommission der Universitätsmedizin Greifswald vorgelegt, welche keine ethischen Bedenken erhob (Ethikvotum BB 013/18).
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