Skip to main content
Erschienen in: Die Ophthalmologie 4/2023

Open Access 13.06.2022 | Hantaviren | Kasuistiken

Plötzliche Myopie

verfasst von: Dr. med. I. Winkelmann, Y. Botros, C. Kojetinsky, F. Sonntag, A. Mueller

Erschienen in: Die Ophthalmologie | Ausgabe 4/2023

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Anamnese

Ein 35-jähriger Patient mit sportlichem Habitus stellte sich in unserer Notaufnahme vor. Er berichtete über Fieber bis 40 °C, das seit über einer Woche bestünde. Das Fieber sei von Schwindel, Übelkeit und Erbrechen begleitet. Er beklagte außerdem, dass er seit dem Vortag auf dem rechten Auge sehr verschwommen sehe, seit 12 h sehe nun auch das linke Auge verschwommen. Bisher habe er in die Ferne ohne Brille sehr gut gesehen.

Klinischer Befund

Der Visus der Erstuntersuchung betrug am rechten Auge sc 0,1, am linken Auge sc 0,15. In der Autorefraktion zeigte sich eine deutliche Myopie an beiden Augen (rechts: −4,75 −0,75/136°, links: −5,5 −0,25/90°). Der bestkorrigierte Visus lag rechts bei cc 0,8, links bei cc 1,0.
Der intraokulare Druck betrug applanatorisch rechts 23 mm Hg und links 24 mm Hg. An der Spaltlampe zeigte sich die Hornhaut klar, die Vorderkammer mitteltief und optisch leer. Fundoskopisch auffällig zeigte sich beidseits im inferioren temporalen Quadranten eine Retinoschisis.
Die Linsendicke (IOL Master700, Carl Zeiss Meditec AG, Jena, Deutschland) war mit 3,79 mm rechts und 3,77 mm links eher verdickt. Die Vorderkammertiefe (VKT; Pentacam, Oculus Optikgeräte GmbH, Wetzlar, Deutschland) lag rechts bei 2,40 mm und links bei 2,56 mm (Abb. 1a).
An beiden Augen erschien die innere Gliagrenzmembran in der optischen Kohärenztomographie (Spectralis, Heidelberg Engineering GmbH, Heidelberg, Deutschland) etwas wellig (Abb. 2a).
Die Fluoreszenzangiographie (FAG) und die Indozyaningrünangiographie (ICG) zeigten in der arteriovenösen Phase multiple kleinfleckige Hypofluoreszenzen an beiden Augen (Spectralis). Am rechten Auge imponierte zudem ein größeres hypofluoreszentes Areal am temporal oberen Gefäßbogen in der ICG-Frühphase bis 5 min, welches in der mittleren und späten ICG nicht mehr sichtbar war (Abb. 3).
Laborchemisch zeigte sich ein erhöhtes Serumkreatinin von 2,06 mg/dl, entsprechend einer berechneten glomerulären Filtrationsrate von 39,3 ml/min/1,73 m2. Das C‑reaktive Protein war mit 2,9 mg/ml erhöht. Außerdem fiel im kleinen Blutbild eine isolierte Thrombopenie von 63/nl auf. Im Urinstreifen zeigte sich eine Proteinurie und Mikrohämaturie.

Diagnose

Bei Vorliegen der typischen Befundkonstellation eines fieberhaften Infekts mit akuter Nierenfunktionsstörung, Proteinurie und Thrombopenie in Zusammenhang mit den ophthalmologischen Befunden äußerten wir den Verdacht einer Hantavirusinfektion. Mittels positiver Hantavirusserologie bestätigte sich der Verdacht, sodass sich die Diagnose eines hämorrhagischen Fiebers mit renalem Syndrom (HFRS) in milder Verlaufsform („Nephropathia epidemica“) mit begleitender okulärer Symptomatik ergab.
Passend hierzu berichtete der Patient in der erweiterten gezielten Anamnese von einem Picknickausflug an einen heimischen Fluss 2 Wochen zuvor, in dessen Rahmen die Anwesenheit von Nagetieren bemerkt worden war. Der Patient konnte sich gut erinnern, dass ihm Raschelgeräusche am Essenkorb aufgefallen seien.

Therapie und Verlauf

Im weiteren Verlauf kam es rasch mit rein supportiver internistischer Therapie zu einer Besserung der allgemeinen klinischen Symptomatik, die Nierenfunktion erholte sich auf ein Kreatinin von 1,6 mg/dl, die Thrombozytenzahl normalisierte sich. Nach 6 Tagen konnte der Patient aus der stationären Behandlung entlassen werden.
Am Entlasstag war der Patient okulär beschwerdefrei.
In einer Kontrolle nach 7 Monaten war die Refraktion beidseits +0,00 −0,25/90°, der unkorrigierte Visus lag bei 1,0 beidseits. Der IOD lag bei 12 mm Hg beidseits, die VKT rechts bei 3,15 mm und links 3,21 mm vertieft (Abb. 1b). Die Linsendicke war im Vergleich zur Erstuntersuchung (3,53/3,51 mm) um 0,2 mm normalisiert. Auch die OCT zeigte nun einen Normalbefund (Abb. 2b).

Diskussion

Hantaviren sind umhüllte einzelsträngige RNA-Viren, welche zur Familie der Hantaviridae gehören [5]. Das Reservoir für das in Europa und Deutschland am häufigsten vorkommende Puumalavirus ist die Rötelmaus. Die Infektion des Menschen erfolgt aerogen (z. B. aufgewirbelter Staub), hämatogen (Bisse, Kontakt mit verletzter Haut) oder gastrointestinal (kontaminierte Lebensmittel).
Die Inzidenz der humanen Hantavirusinfektion in Deutschland zwischen 2010 und 2019 ist mit 1,3/100.000 Einwohnern beschrieben [7]. Weltweit ist ein Trend zur steigenden Prävalenz festzustellen [9]. Beim HFRS durch das Puumalavirus liegt die Letalität bei unter 0,1 %, andere Varianten können jedoch schwere Erkrankungen mit einer Letalität von 15 % auslösen [7]. Es besteht eine namentliche Meldepflicht beim Gesundheitsamt bei Krankheitsverdacht, Krankheitsnachweis sowie bei Tod gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 IfSG [7].
Die internistische Therapie erfolgt ausschließlich symptomatisch. Großteils verlaufen Hantavirusinfektionen a‑ oder oligosymptomatisch, und es kommt meistens zu einer Spontanremission.
Okuläre Manifestationen bei HFRS sind häufig, besonders charakteristisch ist eine akute Myopisierung [2].
Der pathophysiologische Mechanismus ist bisher nicht vollständig geklärt. Es konnte gezeigt werden, dass die Vermehrung des Virus insbesondere in Endothelzellen erfolgt [2]. Dadurch kommt es zu einer erhöhten Permeabilität der Gefäßwand mit konsekutivem Austritt von Plasma, was zu Ödemen und Hämorrhagien führt. Die Zonulafasern können erschlaffen, die Linse quellen und das Iris-Linsen-Diaphragma protrudieren. Typischerweise entsteht dadurch ein „myopic shift“. Initial wurde als Ursache für die Myopisierung eine Verlagerung des Iris-Linsen-Diaphragmas nach anterior vermutet, mittlerweile wird eher die Linsenquellung für die veränderte Refraktion als verantwortlich gesehen [4, 6]. Oft resultiert auch eine Abflachung der Vorderkammer mit konsekutiver IOD-Erhöhung, wobei ein akuter Winkelblock ausgelöst werden kann [8]. Bei IOD-Erhöhung muss eine temporäre lokale antiglaukomatöse Therapie eingeleitet werden, bei akutem Winkelblock eine YAG-Laser-Iridotomie durchgeführt werden. In vereinzelten Fällen ist jedoch auch eine IOD-Erniedrigung beschrieben [3].
In einer Studie von Hautala et al. wurde im Mittel ein Grad der Myopisierung von −0,7 dpt beobachtet (Spannweite: −0,25 bis −4,5 dpt). Bei einem geringen Anteil der untersuchten Augen kam es zu einer hyperopen Verschiebung [1].
Bei unserem Patienten waren zudem die chorioretinalen Veränderungen auffallend. Wir mutmaßen, dass die Veränderungen in der OCT am ehesten durch eine mechanische Genese bei noch adhärentem Glaskörper entstehen. Durch Verlagerung des Iris-Linsen-Diaphragmas könnte eine Traktion auf die Netzhaut übertragen worden sein. Auch die deutlich sichtbare transiente Retinoschisis kann möglicherweise durch eine anatomische Umstrukturierung entstanden sein.
In der FAG zeigten sich beidseits diffus fleckförmige hypofluoreszente Areale in der arteriovenösen Phase, welche bereits nach 30 Sekunden nicht mehr sichtbar waren. Die Spätphase der FAG ist ansonsten unauffällig. Die ICG zeigte in der Frühphase am rechten Auge ein umschriebenes hypofluoreszentes Areal am oberen Gefäßbogen, welches in der mittleren ICG-Phase und späten ICG-Phase nicht mehr zu detektieren war. Wir gehen hier von einer fokalen chorioidalen Minderperfusion aus, ein kausaler Zusammenhang mit der Hantavirusinfektion ist jedoch nicht eindeutig zu klären. Die Literatur zu Patienten mit Hantavirusinfektion untersucht bisher wenig die potenzielle chorioretinale Beteiligung. Bei unseren weiteren klinischen Verlaufskontrollen soll insbesondere die chorioidale Minderperfusion untersucht werden.
Wirksamster Schutz vor einer Infektion ist die Expositionsprophylaxe. Ein von Mäusen verunreinigter Raum (Dachboden, Schuppen) sollte mit entsprechenden Hygienemaßnahmen (Atemschutzmaske, Handschuhe und nassen Reinigungsmitteln) behandelt werden.

Fazit für die Praxis

  • Bei akuter Myopie sollte an eine Infektion mit einem Hantavirus gedacht werden.
  • Eine ausführliche Anamnese, insbesondere Kontakt zu Nagetieren, ist wegweisend.
  • Die Therapie erfolgt symptomatisch, eine internistische Behandlung ist obligat.
  • Die Symptome sind in der Regel reversibel.
  • Expositionsprophylaxe gilt als effektivster Schutz vor einer Hantavirusinfektion.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

I. Winkelmann, Y. Botros, C. Kojetinsky, F. Sonntag und A. Mueller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Die Ophthalmologie

Print-Titel

  • Umfassende Themenschwerpunkte mit klaren Handlungsempfehlungen
  • Praxisrelevante CME-Fortbildung in jedem Heft
  • Organ der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

Literatur
1.
Zurück zum Zitat Hautala N, Kauma H, Vapalahti O et al (2011) Prospective study on ocular findings in acute Puumala hantavirus infection in hospitalised patients. Br J Ophthalmol 95:559–562CrossRefPubMed Hautala N, Kauma H, Vapalahti O et al (2011) Prospective study on ocular findings in acute Puumala hantavirus infection in hospitalised patients. Br J Ophthalmol 95:559–562CrossRefPubMed
2.
Zurück zum Zitat Hautala N, Partanen T, Kubin A‑M et al (2021) Central nervous system and ocular manifestations in Puumala hantavirus infection. Viruses 13:1040CrossRefPubMedPubMedCentral Hautala N, Partanen T, Kubin A‑M et al (2021) Central nervous system and ocular manifestations in Puumala hantavirus infection. Viruses 13:1040CrossRefPubMedPubMedCentral
3.
Zurück zum Zitat Kontkanen M, Puustjärvi T, Kauppi P et al (1996) Ocular characteristics in nephropathia epidemica or Puumala virus infection. Acta Ophthalmol Scand 74:621–625CrossRefPubMed Kontkanen M, Puustjärvi T, Kauppi P et al (1996) Ocular characteristics in nephropathia epidemica or Puumala virus infection. Acta Ophthalmol Scand 74:621–625CrossRefPubMed
4.
Zurück zum Zitat Kontkanen M, Puustjärvi T, Lähdevirta J (1994) Myopic shift and its mechanism in nephropathia epidemica or Puumala virus infection. Br J Ophthalmol 78:903–906CrossRefPubMedPubMedCentral Kontkanen M, Puustjärvi T, Lähdevirta J (1994) Myopic shift and its mechanism in nephropathia epidemica or Puumala virus infection. Br J Ophthalmol 78:903–906CrossRefPubMedPubMedCentral
5.
Zurück zum Zitat Kruger DH, Figueiredo LTM, Song J‑W et al (2015) Hantaviruses—globally emerging pathogens. J Clin Virol 64:128–136CrossRefPubMed Kruger DH, Figueiredo LTM, Song J‑W et al (2015) Hantaviruses—globally emerging pathogens. J Clin Virol 64:128–136CrossRefPubMed
6.
Zurück zum Zitat Pärssinen O, Klemetti A, Rossi-Rautiainen E et al (1993) Ophthalmic manifestations of epidemic nephropathy. Acta Ophthalmol 71:114–118CrossRef Pärssinen O, Klemetti A, Rossi-Rautiainen E et al (1993) Ophthalmic manifestations of epidemic nephropathy. Acta Ophthalmol 71:114–118CrossRef
8.
Zurück zum Zitat Saari KM (1976) Acute glaucoma in hemorrhagic fever with renal syndrome (nephropathia epidemica). Am J Ophthalmol 81:455–461CrossRefPubMed Saari KM (1976) Acute glaucoma in hemorrhagic fever with renal syndrome (nephropathia epidemica). Am J Ophthalmol 81:455–461CrossRefPubMed
9.
Zurück zum Zitat Watson DC, Sargianou M, Papa A et al (2014) Epidemiology of hantavirus infections in humans: a comprehensive, global overview. Crit Rev Microbiol 40:261–272CrossRefPubMed Watson DC, Sargianou M, Papa A et al (2014) Epidemiology of hantavirus infections in humans: a comprehensive, global overview. Crit Rev Microbiol 40:261–272CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Plötzliche Myopie
verfasst von
Dr. med. I. Winkelmann
Y. Botros
C. Kojetinsky
F. Sonntag
A. Mueller
Publikationsdatum
13.06.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-022-01664-w

Weitere Artikel der Ausgabe 4/2023

Die Ophthalmologie 4/2023 Zur Ausgabe

Leitlinien, Stellungnahmen und Empfehlungen

Diagnostisches Vorgehen bei Uveitis

Neu im Fachgebiet Augenheilkunde

Metastase in der periokulären Region

Metastasen Leitthema

Orbitale und periokuläre metastatische Tumoren galten früher als sehr selten. Aber mit der ständigen Aktualisierung von Medikamenten und Nachweismethoden für die Krebsbehandlung werden neue Chemotherapien und Strahlenbehandlungen eingesetzt. Die …

Staging und Systemtherapie bei okulären und periokulären Metastasen

Metastasen Leitthema

Metastasen bösartiger Erkrankungen sind die häufigsten Tumoren, die im Auge diagnostiziert werden. Sie treten bei ungefähr 5–10 % der Patienten mit soliden Tumoren im Verlauf der Erkrankung auf. Besonders häufig sind diese beim Mammakarzinom und …

Wundheilung nach Trabekulektomie

Trabekulektomie CME-Artikel

Die überschießende Wundheilung in der filtrierenden Glaukomchirurgie ist ein zentraler Faktor für ein operatives Versagen. Nach der Einführung der Trabekulektomie in den 1960er-Jahren wurden viele Faktoren erkannt, die mit einer vermehrten …

„standard operating procedures“ (SOP) – Vorschlag zum therapeutischen Management bei periokulären sowie intraokulären Metastasen

Metastasen Leitthema

Peri- sowie intraokuläre Metastasen sind insgesamt gesehen selten und meist Zeichen einer fortgeschrittenen primären Tumorerkrankung. Die Therapie ist daher zumeist palliativ und selten kurativ. Zudem ist die Therapiefindung sehr individuell. Die …

Update Augenheilkunde

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.