Hintergrund und Fragestellung
Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung leidet unter Schlafproblemen: Schätzungen gehen von bis zu 10 % für die chronische Insomnie und 25 % für Symptome einer akuten Insomnie aus [
21,
26]. In Hausarztpraxen berichten bis zu 20 % der Patient:innen, an chronischen Schlafproblemen zu leiden [
28]. Hier wird die Insomnie am häufigsten mit Medikamenten behandelt [
10,
20], obwohl die empfohlene Erstbehandlung die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) ist [
6,
22,
23] und diese auch von der Mehrheit der Patient:innen als bevorzugte Behandlung angegeben wird [
25,
38].
Die Verfügbarkeit der KVT‑I durch Therapeut:innen ist äußerst gering. In Deutschland wurde im Jahr 2017 geschätzt, dass nur etwa 10 % der Patient:innen mit der Diagnose Insomnie eine psychotherapeutische Behandlung (evtl. auch für eine andere vorliegende Erkrankung) erhielten [
10]. Eine Lösung könnten digitale Therapieprogramme sein, denn diese sind ortsunabhängig einsetzbar und bieten vielversprechende Möglichkeiten, den Zugang zur leitliniengerechten Therapie für Insomnie zu verbessern und damit die Versorgungslücke zu schließen [
18,
30]. Darüber hinaus ermöglicht eine Integration digitaler Interventionen in das Gesundheitssystem eine zielgerichtete Patientenversorgung. Diese Art der Versorgung ist in Deutschland seit der Einführung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) möglich. Im Oktober 2020 wurde die erste digitale KVT‑I (
somnio, mementor DE GmbH) als DiGA dauerhaft zugelassen und kann seitdem bei Vorliegen einer Insomnie-Diagnose (F51.0 oder G47.0) verschrieben werden [
13].
Die Wirksamkeit der KVT‑I wurde bereits in vielen Studien bestätigt [
6,
34] und auch das digitale Format überzeugt mit Effektgrößen in einem zur Face-to-Face-Therapie vergleichbaren Bereich [
8,
29,
39]. Jedoch gibt es nur wenige Belege für den Nutzen und die Wirksamkeit empirisch validierter digitaler Therapieprogramme außerhalb kontrollierter klinischer Studien (RCTs). Während RCTs entscheidend und notwendig sind, um die Wirksamkeit von Behandlungen zu verstehen, bieten Beobachtungsdaten außerhalb von Studien eine wichtige Ergänzung, indem sie die Verallgemeinerbarkeit von Interventionen und Ergebnissen im Kontext der realen Umsetzung bewerten [
5]. Eine Veröffentlichung für die sogenannte „Real-World-Evidenz“ digitaler KVT‑I stammt aus den USA und zeigte vielversprechende Ergebnisse der Anwendung
SHUTi bei 7216 Erwachsenen, welche die digitale KVT-I-Intervention zwischen 2015 und 2019 durchführten. Auswertungen des Insomnie-Schweregrad-Indexes (ISI) zeigten große Effekte (
d = 1,90) für die Verbesserung zwischen Anfang und Abschluss der Anwendung sowie eine mit klinischen Studien vergleichbare Remissions- (ISI < 8; 40 %) und Responserate (ISI-Reduktion ≥ 8; 61 %) [
24]. Ähnliche Ergebnisse berichtete auch eine Regelversorgungsstudie aus Finnland: 2464 Patient:innen erhielten hier durch eine Fachperson Zugang zu einem begleiteten, internetbasierten KVT‑I Programm. Zum Ende der Anwendung erfüllten 34 % die Kriterien der Remission und 46 % die der klinischen Response. Im Schnitt verbesserte sich die Insomnieschwere um −7,04 Punkte auf dem ISI (
d = 1,45) [
32].
Durch das neu eingeführte digitale Versorgungsgesetz in Deutschland und die Verfügbarkeit verschreibungsfähiger digitaler KVT‑I seit > 2 Jahren bieten Nutzerdaten nun erstmalig die Möglichkeit,
somnio in der Versorgungsrealität zu untersuchen und damit zur bisherigen Bewertung der therapeutischen Leistung beizutragen [
11,
17,
27]. Die vorliegende retrospektive Auswertung untersucht, ob und wie sich
somnio in der Regelversorgung auf vorliegende Insomniesymptome und den Schlaf auswirkt. Die Analyse basiert auf einem zufällig ausgewählten Datensatz von Patient:innen, welche die Anwendung von einer Fachperson nach Insomniediagnose verschrieben bekommen haben und nutzten. Ziel der Analysen ist es, den Schweregrad der Insomnie, den von Tagebüchern abgeleiteten Schlaf, das Tagesbefinden und die Responder- sowie Remissionsraten der digitalen Behandlung in der Regelversorgung zu bewerten.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Design und Nutzerdatenauswahl
Für die Realdatenanalyse wurden Informationen von Erwachsenen ausgewählt, welche
somnio verschrieben bekommen und zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.12.2022 abgeschlossen haben. Der Abschluss der Anwendung wurde durch das Vorhandensein eines ISI-Wertes im Abschlussmodul definiert. Dieser setzt voraus, dass alle vorherigen Module durchlaufen wurden und das Schlaftagebuch ≥ 12 Tage geführt wurde. Nutzer:innen, deren ISI-Wert zu Beginn der Behandlung (im Einführungsmodul) < 8 war, wurden von der Analyse ausgeschlossen. Der ISI ist ein validierter Index mit sieben Items und ein Standardmaß für den selbstberichteten Schweregrad der Insomnie [
1,
4]. Aus diesem Datensatz wurde anschließend eine Auswahl von
N = 5000 Nutzer:innen per automatisiertem Zufallsprinzip („round“ command, Rstudio v2023.03; R Core Team 2021) ausgewählt, um eine Rückführung der Daten auf Nutzer:innen des Zeitraums auszuschließen.
Alle somnio-Nutzer:innen stimmen im Rahmen des Registrierungsprozesses den Nutzungsbedingungen und der Datenschutzerklärung zu. Darin werden die Nutzer:innen darüber informiert, dass ihre Daten in aggregierter Form analysiert (d. h. anonymisiert) und als Teil von Veröffentlichungen zu Forschungszwecken verwendet werden können. Es ist wichtig anzumerken, dass es sich bei der vorliegenden Analyse nicht um eine Forschungsstudie im klassischen Sinn handelt und daher keine herkömmliche, informierte Einwilligung eingeholt wurde.
Intervention
Voraussetzung für die Verordnung von
somnio ist die Diagnose einer Insomnie (F51.0 oder G47.0). Die Verordnung kann bei der Krankenkasse des Betroffenen eingelöst werden, welche die Anwendung per Freigabe eines Lizenzcodes ermöglicht. Dieser wird bei der Registrierung eingelöst und schaltet damit die Nutzung von
somnio für 90 Tage frei.
Somnio setzt die digitale KVT‑I mit zwölf aufeinanderfolgenden, edukativen Modulen um (siehe Tab.
1). Die Inhalte eines Moduls dauern ca. 10–20 min und werden von einem animierten Avatar vermittelt. Vier sogenannte Zielmodule ermöglichen zusätzlich eine regelmäßige Auswertung der eigenen Schlaftagebuchdaten im Hinblick auf zuvor gesetzte Ziele (z. B. schnelleres Ein- oder besseres Durchschlafen).
Tab. 1
Modulare Struktur und Inhalte von somnio
Einführung | Erfassung der Insomniesymptomatik, Vorstellung des Avatars „Albert“ und des Interventionsprogramms, Zielsetzung | 10 | 1 |
Das Schlaftagebuch | Instruktionen zur Notwendigkeit und zum korrekten Ausfüllen des Schlaftagebuchs | 10 | 1 |
Schlafwissen | Regulierende Prozesse des Schlafs, Schlafzyklen und Schlafphasen werden erläutert | 10 | 1 |
Zielmodul | 1 |
Praktische Übung | Anwendung der Inhalte des Moduls Schlafwissens und Hinterfragen von dysfunktionalen Annahmen über den Schlaf anhand praktischer Beispiele | 10 | 2 |
Kreislauf der Insomnie | Symptomatik und Vorkommen der Insomnie wird erläutert, ein individueller Kreislauf der Insomnie wird erstellt | 15 | 2 |
Zielmodul | 2 |
Schlafzeiten | Umsetzung der Schlafrestriktionstherapie [ 31]: ein Schlaffenster entsprechend der durchschnittlichen Schlafdauer (letzte 7 Tage) wird empfohlen (Minimum 6 h), Verlängerung bei durchschnittlicher Schlafeffizienz ≥ 85 %, Verkürzung bei < 80 %, wöchentliche Anpassung | 15 | 3 |
Entspannung | Vermittlung der progressiven Muskelentspannung | 15 | 3 |
Zielmodul | 3 |
Schlafverhalten | Vermittlung der Stimuluskontrolltechnik [ 3] (15-Minuten-Regel) und der Schlafhygiene: Empfehlungen zur Schlafumgebung, Aktivitäten und Sport, Substanzen und Ernährung | 25 | 4 |
Zielmodul | 4 |
Gedanken | Kognitive Intervention: Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Schlaf, Bewusstmachen schlafhindernder Gedanken | 20 | 5 |
Alltagsentscheidungen | Anwendung der bereits gelernten Inhalte anhand verschiedener Alltagsszenarien | 15 | 5 |
Abschluss | Rückblick auf das Programm und Quiz zu den Inhalten, Erfassung der Insomniesymptomatik, Empfehlungen für die Zeit nach Abschluss des Programms | 15 | 5 |
Nachsorge | Zielmodul, welches in regelmäßigen Abständen (≥ 7 Tage) beliebig oft wiederholt werden kann | 5 | 6 |
Die edukativen Module werden in aufeinanderfolgender Reihenfolge freigeschaltet. Für das Freischalten eines Zielmoduls müssen zusätzlich mindestens drei Schlaftagebucheinträge vorhanden sein und mindestens drei Tage seit Beginn der Anwendung (erstes Zielmodul) oder seit dem vorherigen Zielmodul (Zielmodul 2–4 und Nachsorgemodul) vergangen sein. Das Nachsorgemodul kann unter der Voraussetzung, dass sieben neue Schlaftagebucheinträge hinzugekommen sind, beliebig oft, bis zum Ende der Lizenzdauer wiederholt werden. Es gibt somit kein vom Programm festgelegtes Ende der Intervention.
Zielgrößen
Das Abendprotokoll beinhaltet drei visuelle Analogskalen (0–100) zur Stimmung (schlecht-gut), Leistungsfähigkeit (gering-hoch) und Energie (wenig-viel), welche für die Zeit seit der letzten Schlafphase bewertet werden. Zusätzlich können Angaben zum Alkohol- und Koffeinkonsum (jeweils vier Auswahlmöglichkeiten: kein, wenig, mittel, viel) gemacht werden. Im Gegensatz zum Morgenprotokoll sind keine Angaben im Abendprotokoll notwendig, um im Interventionsprogramm fortzuschreiten.
Analyse
Da die vorliegenden Daten nicht zur Beantwortung präspezifizierter Hypothesen erhoben wurden und die Stichprobe groß und überpowert ist, sind inferenzstatistische Untersuchungen nicht angemessen und würden keine klinisch bedeutsamen Therapieeffekte widerspiegeln. Wir fokussieren uns daher ausschließlich auf deskriptive Statistiken und Effektgrößen (Cohen’s
d für gepaarte Stichproben [
9]), sowie den Prozentsatz der Responder- und Remissionsraten, um Schlussfolgerungen über die klinische Wirksamkeit zu ermöglichen. Die deskriptiven Statistiken werden als unbereinigte Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) für kontinuierliche Ergebnisse und als Häufigkeiten für binäre Ergebnisse dargestellt. Die Veränderung des ISI-Wertes wird zwischen dem ISI-Wert im Modul Einführung und dem zuletzt angegebenen ISI-Wert im Modul Abschluss oder Nachsorge berechnet. Für weiterführende Einsichten wird die Analyse zusätzlich für die häufig auftretenden Einflussfaktoren Geschlecht (weiblich, männlich), Alter (< 65 Jahre, > 65 Jahre), und Insomnieschwere zu Beginn (ISI = 8–14; ISI = 15–21, ISI ≥ 22) dargestellt.
Für die Auswertung der kontinuierlich erhobenen Schlaftagebuchdaten werden die Daten in fünf Cluster eingeteilt, von welchen jedes nur ein Zielmodul enthält (siehe Tab.
1), und darüber gemittelt. Um eine Veränderung des Schlafverhaltens zu untersuchen, wird Cluster 1 (Anfang der Anwendung) mit Cluster 5 (Ende der Anwendung) verglichen. Für das Morgenprotokoll werden die Daten von Nutzer:innen, welche einen Tracker mit der Anwendung verbunden haben, separat von solchen untersucht, welche das Schlaftagebuch ausschließlich durch eigene Angaben ausgefüllt haben. Vor Ermittlung der deskriptiven Statistik werden alle Schlafvariablen zuvor automatisiert geprüft und bereinigt. Hierfür wurde für jede Variable ein Wertebereich festgelegt, welcher die Wahrscheinlichkeit für Falschangaben einschränkt. Für die folgenden Variablen wurde ein Wertebereich festgelegt: SOL, WASO und TST: Min = 0 min, Max = TIB; SE: 0–100 %, und TIB: Min = 0 min, Max = 720 min. Alle Analysen wurden mit der Statistiksoftware RStudio (v2023.03; R Core Team 2021) durchgeführt.
Ergebnisse
Stichprobe
Von den
N = 5000 zufällig ausgewählten Nutzer:innen gab die Mehrheit –
N = 3528 (70,6 %) – an, weiblich zu sein,
N = 1453 (29,1 %) gaben an, männlich zu sein, und
N = 19, ordneten sich keinem Geschlecht zu (0,3 %). Die Verteilung der Nutzer:innen über die Altersgruppen (in 10er-Schritten von 18–89) ist in Tab.
2 zusammengefasst. Die am häufigsten vertretene Altersgruppe war die der 50–59-Jährigen (38,6 %). Anhand der Baseline-Werte in den nachfolgenden Tab.
3 und
4 wird deutlich, dass bei den ausgewählten Nutzer:innen im Schnitt eine stark ausgeprägte Insomnie vorlag. So lag der durchschnittliche ISI-Wert zu Beginn der Anwendung über 18, die durchschnittliche selbstberichtete Einschlafdauer über 60 min und die durchschnittliche Wachzeit über 120 min.
Tab. 2
Altersverteilung der Nutzer:innen
18–29 | 365 | 7,3 |
20–39 | 631 | 12,6 |
40–49 | 863 | 17,3 |
50–59 | 1931 | 38,6 |
60–69 | 972 | 19,4 |
70–79 | 200 | 4,0 |
80–89 | 38 | 0,8 |
Tab. 3
Übersicht der Behandlungsergebnisse für Insomnieschwere
Gesamt | 5000 | 18,48 ± 4,24 | 9,99 ± 5,59 | −8,49 ± 5,39 | 1,58 |
Frauen | 3528 | 18,50 ± 4,27 | 9,83 ± 5,60 | −8,66 ± 5,48 | 1,58 |
Männer | 1453 | 18,46 ± 4,18 | 10,37 ± 5,56 | −8,09 ± 5,17 | 1,57 |
< 65 Jahre | 4442 | 18,57 ± 4,27 | 10,08 ± 5,61 | −8,49 ± 5,39 | 1,58 |
≥ 65 Jahre | 558 | 17,77 ± 3,97 | 9,30 ± 5,38 | −8,47 ± 5,43 | 1,56 |
ISI = 8–14 | 895 | 12,23 ± 1,71 | 6,84 ± 3,99 | −5,39 ± 4,03 | 1,34 |
ISI = 15–21 | 2861 | 18,05 ± 1,89 | 9,57 ± 4,87 | −8,48 ± 4,84 | 1,75 |
ISI ≥ 22 | 1244 | 23,98 ± 1,79 | 13,23 ± 6,45 | −10,75 ± 6,27 | 1,72 |
Tab. 4
Übersicht der Behandlungsergebnisse für die extrahierten Schlafvariablen
Subjektiv (Selbstbericht) |
SOL | 4351 | 61,92 ± 46,55 | 32,97 ± 28,99 | −28,95 ± 36,96 | 0,78 |
WASO | 4351 | 122,40 ± 72,20 | 68,25 ± 53,44 | −54,14 ± 56,34 | 0,96 |
SE | 4363 | 63,16 ± 17,59 | 76,81 ± 15,84 | 13,66 ± 12,82 | 1,07 |
TST | 4363 | 323,12 ± 94,32 | 348,81 ± 85,70 | 25,68 ± 65,79 | 0,39 |
TIB | 4363 | 512,52 ± 63,71 | 453,01 ± 64,29 | −59,51 ± 63,29 | 0,94 |
SQ | 4864 | 47,31 ± 17,57 | 58,12 ± 20,75 | 10,81 ± 15,66 | 0,69 |
Objektiv (durch verbundenen Aktivitätstracker ermittelt) |
SOL | 541 | 46,04 ± 39,34 | 21,53 ± 22,70 | −24,51 ± 34,00 | 0,72 |
WASO | 541 | 97,75 ± 59,19 | 56,17 ± 34,43 | −41,58 ± 52,87 | 0,79 |
SE | 542 | 70,97 ± 14,97 | 82,27 ± 11,09 | 11,29 ± 13,18 | 0,86 |
TST | 542 | 356,81 ± 82,06 | 368,83 ± 67,17 | 12,02 ± 68,38 | 0,18 |
TIB | 542 | 504,46 ± 59,50 | 448,33 ± 56,35 | −56,13 ± 57,19 | 0,98 |
Insgesamt nutzten N = 546 (10,9 %) die Anbindung eines Trackers für die Generierung der Schlaftagebucheinträge. Von diesen verwendeten N = 346 (63,4 %) eine Fitbit-, N = 97 (17,8 %) eine Garmin-, N = 78 (14,3 %) eine Withings-, N = 24 (4,4 %) eine Polar-Uhr und eine Person (0,2 %) eine Apple-Watch. Die überwiegende Mehrheit füllte das Schlaftagebuch per Selbsteinschätzung aus (89,1 %).
Behandlungseffekte
Im Schnitt brauchten Nutzer:innen 46 ± 28 Tage, um das Abschlussmodul von somnio zu erreichen, in dieser Zeit wurden an durchschnittlich 43 ± 24 Tagen Einträge erstellt.
In Bezug auf die Insomnieschwere zu Beginn der Anwendung zeigten sich deskriptiv die größten Verbesserungen (10,78 ± 6,27 Punkte) für Nutzer:innen mit einer mittelgradigen bis schweren Insomnie (
ds = 1,72–1,75; siehe Tab.
3). Zum Ende der Nutzung von
somnio erreichten insgesamt 37,8 % das Kriterium der Remission (ISI < 8) und 57,0 % das der klinisch relevanten Verbesserung (ISI-Verbesserung > 8).
Diskussion
Das Ziel dieser Arbeit war es zu untersuchen, ob und wie sich eine verschreibungsfähige digitale KVT‑I in der Regelversorgung auf vorliegende Insomniesymptome und den Schlaf auswirkt. Die einzelnen Auswertungen ergaben mit klinischen Studien vergleichbare Behandlungseffekte (Innergruppeneffekte;
d = 1,58 vs.
d = 1,59 [
17]). Im Vergleich zur Zulassungsstudie, welche die Wirksamkeit von
somnio im Rahmen einer kontrollierten Studie (RCT) untersuchte, erreichten weniger Nutzer:innen eine Remission (37,8 % vs. 56 % [
17]), jedoch erzielte die deutliche Mehrheit eine klinisch relevante Veränderung (57 %). Eine geringere Remissionsrate bei vergleichbaren Behandlungseffekten lässt sich durch die stärker ausgeprägte Insomnieschwere zu Beginn der Behandlung erklären, diese lag in der vorliegenden Stichprobe mit einem durchschnittlichen Wert von 18,48 Punkten auf dem ISI vergleichsweise hoch (siehe Zulassungsstudie: ISI = 14,36 [
17]). Vergleicht man die Remissions- und Responseraten mit anderen, praxisnahen Stichproben, bei welchen die Insomnie typischerweise stärker ausgeprägt vorliegt (siehe z. B. [
24,
27,
37]), so liegen die Remissions- und Responseraten im zu erwartenden Bereich der KVT‑I (34–41 % bzw. 46–64 % [
24,
27,
37]).
Auch die Ausgangswerte der Schlaftagebücher zeigen die ausgeprägte Insomnie-Symptomatik zu Beginn der Anwendung mit einer subjektiven Einschlafzeit von über einer Stunde und einer durchschnittlichen Wachzeit von über zwei Stunden. Damit liegt auch die wahrgenommene Schlafdauer mit weniger als 5,5 h unter den Empfehlungen für gesunden Schlaf [
12] und verstärkt den unbedingten Behandlungsbedarf dieser Population. Dies zeigt sich auch, leicht abgeschwächt, in den Daten der Aktivitätstracker (siehe Abb.
2). Da es sich hierbei um verschiedene Personen handelt, lassen sich leider keine Schlüsse darüber ziehen, ob die Wachzeit während des Schlafs beim Selbstbericht überschätzt oder von kommerziellen Trackern unterschätzt wird. Für beide Annahmen gibt es Hinweise in der Literatur [
7,
15]. Mit Anwendung von
somnio verbesserte sich die Schlafkontiunität erheblich (z. B. WASO: −54 min). Vergleicht man die Veränderungen mit den von der Task Force der
American Academy for Sleep Medicine (AASM) festgelegten Schwellenwerten für klinisch bedeutsame Verbesserung [
6], so werden diese konsistent überschritten (Schwellenwerte: SOL = −20 min; WASO = −20 min; SE = +10 %). Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Schwellenwerte für Zwischengruppenvergleiche festgelegt wurden und daher nicht 1:1 übertragbar sind. Dennoch bietet der Vergleich eine Annäherung für das Mindestmaß an Verbesserungen, welche von Klinikern und Patient:innen als klinisch bedeutsam angesehen werden [
6]. Dass die Verbesserungen des Schlafs für die Patient:innen bedeutsam sein könnte, zeigte sich auch in den positiven Veränderungen des Tagesbefindens (Stimmung, Leistungsfähigkeit und wahrgenommene Energie) [
16], welche durch mittlere Effektgrößen im zu erwartenden Bereich liegen und die bisherigen Ergebnisse der über den Schlaf hinausgehenden Therapieeffekte der KVT‑I bestätigen [
2].
Ein weiterer, erwähnenswerter Aspekt, welcher nicht zu den Zielen dieser Analyse gehörte, ist die Betrachtung der Hinweise auf die vorliegende Schlafhygiene. So fällt beispielsweise auf, dass die Zeit im Bett zu Beginn der Anwendung mit ca. 8,5 h lang erscheint; zum einen im Vergleich zur wahrgenommenen Schlafdauer (5,5 h) und zum anderen im Vergleich zu Studien, welche zeigen, dass sich die Zeit im Bett zwischen Personen mit und ohne Insomnie nicht unterscheidet (Insomnie = 7,3–7,8 h; Kontrollgruppe = 7,4–8,0 h [
14]). Zum Ende der Intervention dagegen war die Zeit im Bett um fast eine Stunde reduziert und damit im vergleichbaren Bereich von Personen ohne Schlafprobleme [
14]. Dies könnte ein direktes Indiz dafür sein, dass die empfohlenen Verhaltenskomponenten Stimuluskontrolle und Schlafrestriktionstherapie von den Nutzer:innen umgesetzt wurden. Im Gegensatz zur anfänglich inadäquat erscheinenden Zeit im Bett zeigte sich dagegen weder ein erhöhter Koffein- noch Alkoholkonsum. Tatsächlich wird schlechte Schlafhygiene nur bei einer sehr kleinen Minderheit (6,2 %) als Auslöser einer Insomnie vermutet und die Datenlage bei Vergleichen zwischen Personen mit gutem und schlechtem Schlaf zeigt keine konsistenten Ergebnisse, die auf einen Unterschied in der Umsetzung von guter Schlafhygiene deuten [
33].
Obwohl Anwendungsbeobachtungen und Daten aus der Versorgungsrealität den Vorteil haben, dass sie große, praxisnahe Stichproben ermöglichen und daher generalisierbar sind, sollten sie vor dem Hintergrund mehrerer Einschränkungen betrachtet werden. Eine große Limitation ist, dass die vorliegende Analyse einer „Completer-Analyse“ entspricht und daher keine Rückschlüsse auf die Nutzung der Anwendung anhand von Drop-out Raten geschlossen werden können. Die hier dargestellte Wirksamkeit der Anwendung entspricht folglich ausschließlich der Anwendung bei gleichzeitigem Abschluss und nicht den Effekten der Behandlungsintention, welche üblicherweise in klinischen Studien angestrebt wird. Des Weiteren kann angesichts der geringen Menge demografischer Informationen die Heterogenität der Stichprobe nur sehr begrenzt bestimmt werden. Die Heterogenität ist zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass die Nutzung von
somnio verschreibungsfähig ist und daher zusätzlich zum Vorliegen einer Diagnose auch von der behandelnden Fachperson [
35] und dem Aufsuchen von professioneller Hilfe durch die Patient:innen abhängig ist. Da es sich jedoch um eine Stichprobe aus der Versorgungsrealität handelt, ist es wahrscheinlich, dass diese Stichprobe eine größere Vielfalt an Merkmalen und Komorbiditäten aufweist als die an RCTs beteiligten Personen. Eine weitere Limitation ist, dass aus den Daten nicht ersichtlich ist, ob und welche anderen Interventionen parallel zum Programm genutzt wurden, sodass Behandlungseffekte durch das Fehlen einer Kontrolle nicht auf die alleinige Nutzung des Programms zurückgeführt werden können. Digitale KVT‑I wurde bisher meist unabhängig von der Einnahme von Schlafmitteln untersucht. Dies ist eine entscheidende Lücke in der Literatur, insbesondere weil digitale KVT‑I das Potenzial hat, eine direkte Alternative und Ersatz für Schlafmittel zu werden. In Studien wird den Teilnehmenden oft geraten, die Medikation für Studienzwecke konstant zu halten. Obwohl dies darauf hindeutet, dass digitale KVT‑I und Schlafmedikamente zusammen eingesetzt werden können, bleibt die Frage offen, ob digitale KVT‑I den Menschen dabei hilft, Schlafmittel zu reduzieren und abzusetzen. Ebenfalls bleibt in diesem Zusammenhang offen, ob sich die digitale KVT‑I langfristig kosteneffizient auf das deutsche Gesundheitssystem auswirkt, sowohl im Vergleich zu keiner Therapie als auch im Vergleich zur medikamentösen Therapie.
Schlussfolgerung
Die Ergebnisse dieser Anwendungsbeobachtung zeigen, dass die Wirksamkeit der digitalen KVT‑I in der Versorgungsrealität vergleichbar mit den Ergebnissen von klinischen Studien ist. Die Mehrheit der Nutzer:innen berichtete eine klinisch bedeutsame Reduktion der Insomniesymptome sowie Verbesserungen beim Ein- und Durchschlafen, welche sich auch bei Nutzer:innen zeigten, die ihren Schlaf durch Aktivitätstracker ermittelten. Dies ist eine der größten Untersuchungen eines im Gesundheitssystem integrierten und empirisch validierten digitalen Therapieverfahrens außerhalb einer klinischen Studie. Damit erweitert die vorliegende Analyse nicht nur die Evidenzbasis für digitale Gesundheitsanwendungen, sondern unterstützt auch Ergebnisse, welche zeigen, dass digitale KVT‑I außerhalb der Grenzen von Forschungsstudien wirksam ist und einer breiteren Population von Patient:innen mit Insomnie zugutekommen kann.
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