Erschienen in:
07.06.2021 | Begutachtung | Kurzbeiträge
Künftige Aufgaben der psychiatrischen Begutachtung bei „Long-COVID“
verfasst von:
Prof. Dr. H. Dreßing, A. Meyer-Lindenberg
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 3/2022
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Auszug
Das Ausmaß der gesellschaftlichen, ökonomischen und gesundheitspolitischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zeichnet sich bislang erst in Ansätzen ab. Nach Schätzungen einer aktuellen Studie kostete die Pandemie bislang 20,6 Mio. Lebensjahre, wobei Menschen mittleren Alters und im frühen Rentenalter im weltweiten Vergleich den größten Anteil an insgesamt verlorenen Lebensjahren aufweisen. Die Lebenserwartung der Bevölkerung fiel in den USA um ein ganzes Jahr [
16]. Gerade das psychiatrische Fachgebiet muss sich mit mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Pandemie befassen. Die Pandemie bedingt Ängste um die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer Menschen. Darüber hinaus bergen die zur Eindämmung der Pandemie notwendig gewordenen Maßnahmen des „social distancing“ und des „Lockdowns“ Gefährdungsaspekte für die psychische Gesundheit. Schließlich kann die Infektion selber zu einem Befall des Gehirns und zu neuropsychiatrischen Folgen führen. Eine systematische Literaturanalyse ergab Hinweise für eine gesteigerte ängstliche, depressive und posttraumatische Belastungssymptomatik während der SARS-CoV-2-Pandemie [
7]. In der bundesweiten NAKO-Gesundheitsstudie berichteten im Mai 2020 deutlich mehr Probanden depressive und Angstsymptome [
15]. Eine retrospektive Kohortenstudie fand, dass COVID-19-Patienten im Folgezeitraum gegenüber Patienten mit anderen Akuterkrankungen im deutlich erhöhten Risiko standen, eine psychiatrische Diagnose zu erhalten [
17]. In einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Mannheimer Bevölkerung, in der das aktuelle psychische Befinden (WHO‑5, Patient Health Questionnaire [PHQ-D]) im Zeitraum vom 24.04. bis 23.05.2020 erhoben und mit Ergebnissen aus einer Befragung aus dem Jahr 2018 verglichen wurde, ergaben sich zwar bezüglich der Mittelwerte des WHO-Summenwerts und der quantitativen Syndromkriterien im PHQ‑D keine signifikanten Unterschiede. Eine differenzierte Analyse zeigte jedoch, dass das psychische Befinden bei jüngeren Personen schlechter war und den persönlichen Resilienzfaktoren eine große Bedeutung zukommt [
12]. Neben diesen die Versorgungssysteme schon jetzt belastenden akuten Folgeerscheinungen der Pandemie werden zunehmend auch kognitive Defizite als Kurz- und Langzeitfolgen der COVID-19-Infektion beschrieben. Nachuntersuchungen von COVID-19-Patienten zeigten kognitive Defizite im Verlauf von zwei bis vier Monaten nach Symptombeginn. Im Vordergrund fanden sich dabei Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen und andere kognitive Defizite [
6]. Spezifische Defizite im Rahmen einer ausführlichen neuropsychologischen Testung wurden kürzlich im Bereich der Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen sowie Störungen der exekutiven Funktionen bei Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Infektion ca. einen Monat nach der Infektion beschrieben [
1]. …