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Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 5/2022

Open Access 31.05.2022 | Originalien

Mediieren Gesundheit und Arbeitsfähigkeit die Auswirkungen widriger Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter?

Eine Längsschnittuntersuchung mit Daten der lidA-Kohortenstudie

verfasst von: Max Rohrbacher, M.Sc., Hans Martin Hasselhorn

Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie | Ausgabe 5/2022

Zusammenfassung

Hintergrund und Fragestellung

Eine Vielzahl von Forschungsergebnissen zeigt, dass sich widrige Arbeitsbedingungen negativ auf die Erwerbsdauer und die Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter auswirken können. Häufig wird diskutiert und angenommen, dass dieser Zusammenhang durch schlechte Gesundheit mediiert wird, ohne dies explizit zu belegen. In dieser Studie wurde untersucht, welche Auswirkungen eine widrige Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive hat und inwiefern dieser Effekt durch Gesundheit und Arbeitsfähigkeit mediiert wird.

Methoden

Daten von 3118 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der deutschen Babyboom-Kohorten 1959 und 1965, die an allen 3 Wellen (t0 = 2011, t1 = 2014, t2 = 2018) der prospektiven lidA-Kohortenstudie teilgenommen haben, wurden ausgewertet. Mögliche Mediationseffekte wurden im Längsschnitt mittels kausaler Mediationsanalyse mit Inverser-Odds-Gewichtung („inverse odds weighting“) getrennt für manuell und nicht-manuell Tätige untersucht.

Ergebnisse

Sowohl für manuell Tätige (relatives Risiko, RR = 1,06 [95 % Konfidenzintervall, KI 1,01–1,13]) als auch für nicht-manuell Tätige (RR = 1,06 [95 % KI 0,99–1,15]) ging eine widrige Arbeitsqualität mit einem erhöhten relativen Risiko einher, anzugeben, nicht bis zur individuellen Rentenaltersgrenze arbeiten zu können. Bei manuell Tätigen wurden 44 % dieses Effekts durch geringe Arbeitsfähigkeit und 17 % durch schlechte Gesundheit mediiert. Bei nicht-manuell Tätigen wurden 30 % dieses Effekts durch geringe Arbeitsfähigkeit und 13 % durch schlechte Gesundheit mediiert. Die simultane Analyse beider Mediatoren deutet auf eine mögliche Überlappung der Mediationseffekte hin.

Schlussfolgerung

Die Ergebnisse indizieren wichtige Stellhebel, mit denen die subjektive Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter positiv beeinflusst werden kann, nämlich durch bessere Arbeitsqualität und frühzeitige präventive Maßnahmen, um schlechter Gesundheit und vor allem geringer Arbeitsfähigkeit entgegenzuwirken. Bei der politischen Debatte über die Erwerbsteilhabe älterer Beschäftigter sollten die Arbeitsqualität und Arbeitsfähigkeit stärker berücksichtigt werden.

Hintergrund und Fragestellung

Eine alternde Bevölkerung und die damit verbundene Sorge um Arbeitskräftemangel und steigende Ausgaben für die Sozialversicherungssysteme haben in den letzten Jahrzenten weltweit zu politischen Maßnahmen geführt, um ältere Beschäftigte länger im Erwerbsleben zu halten [29, 31]. Diese umfassen hierzulande vor allem Beschränkungen im Zugang zum vorzeitigen Erwerbsaustritt (beispielsweise zur Erwerbsminderungsrente) und die Erhöhung des Regelrenteneintrittsalters [31]. Die in Deutschland zugrundeliegenden Kriterien für den Erhalt der vollen Altersrente sind zuvorderst Lebensalter und Erwerbsdauer. Damit treffen sie Beschäftigtengruppen in aller Regel unabhängig von ihren Arbeitsanforderungen. Eine Vielzahl von Forschungsergebnissen zeigt, dass sich widrige Arbeitsbedingungen negativ auf die Erwerbsdauer und die Erwerbsperspektive auswirken können (z. B. [10, 24, 33, 41]). Auch in Deutschland verlassen Erwerbstätige mit hohen körperlichen und psychosozialen Arbeitsanforderungen das Erwerbsleben eher frühzeitig als andere [8, 10]. Zudem wollen Beschäftigte mit schlechter Arbeitsqualität eher als andere früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden und meinen öfter, dass sie nicht in der Lage wären, bis zur Regelaltersgrenze erwerbstätig zu bleiben, und dies nicht nur im späten Erwerbsalter [14, 40], sondern ebenso bereits im frühen [14].
Der Übergang von der Arbeit in den Ruhestand gilt als komplex. Er wird bestimmt durch zahlreiche Einflussgrößen auf individueller Ebene (z. B. Gesundheit, Gesundheitsverhalten, Arbeitsfähigkeit, Privatleben, sozioökonomischer Status, Erwerbsmotivation), betrieblicher Ebene (z. B. Arbeitsinhalt, Arbeitsorganisation), und institutioneller Ebene (z. B. Regulierung des Rentenzugangs, weitere Sozialgesetzgebung, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Erwerbskultur; [16]). Die Interdependenz dieser Einflussgrößen wird im lidA-Denkmodell dargestellt [16]; zentrale Einflussgrößen sind dabei die Qualität der Arbeit, die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit.
In Studien, die aufzeigen, dass belastende Arbeitsbedingungen – also die Arbeitsqualität – mit einem vorzeitigen Erwerbsausstieg verbunden sind, wird häufig diskutiert und angenommen, dass dieser Zusammenhang auf die negativen gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit zurückzuführen ist, ohne dies allerdings explizit zu belegen (z. B. [5, 37]). Die Annahme des mediierenden Effekts von Gesundheit ist möglicherweise zum einen darauf zurückzuführen, dass frühzeitige Erwerbsausstiege vielfach über Wege erfolgen, die formal durch schlechte Gesundheit begründet werden, wie die Erwerbsminderungsrente. Zum anderen existiert breite Evidenz zum Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und der Gesundheit einerseits [4, 43, 49] und schlechter Gesundheit und frühzeitigem Erwerbsausstieg andererseits [32]. Allerdings ist ebenso denkbar, dass dieser Zusammenhang über eine (geringe) Arbeitsfähigkeit mediiert wird, und dies unabhängig von der Gesundheit [16]. Aus Präventionssicht ist es von Relevanz zu wissen, ob und in welchem Ausmaß die Effekte schlechter Arbeitsqualität auf die Erwerbsteilhabe durch Gesundheit und Arbeitsfähigkeit mediiert werden. In diesem Beitrag werden die folgenden Fragestellungen untersucht:
  • Welche Auswirkungen hat eine widrige Arbeitsqualität auf die zukünftige subjektive Erwerbsperspektive?
  • Inwiefern werden diese Auswirkungen von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit mediiert?

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden Daten von 3118 älteren Beschäftigten ausgewertet, die an allen 3 Wellen (t0 = 2011, t1 = 2014, t2 = 2018) der lidA-Studie („leben in der Arbeit“; [18]) teilgenommen hatten (n= 3232). 114 Personen wurden aufgrund fehlender Werte der unabhängigen Variable Arbeitsqualität initial ausgeschlossen. lidA ist eine prospektive Kohortenstudie zum Thema Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe und repräsentativ für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der deutschen Babyboom-Kohorten 1959 und 1965 [18].

Subjektive Erwerbsperspektive (t2, Welle 3)

Da aufgrund des Alters der untersuchten lidA-Kohorten noch nicht ausreichend Daten hinsichtlich des frühen Erwerbsausstiegs zur Verfügung stehen, wurde für die vorliegenden Analysen als Endpunkt die subjektive Erwerbsperspektive der Teilnehmenden verwendet. Konkret wurden sie nach ihrer Einschätzung gefragt, bis zu welchem Alter sie glauben, arbeiten zu können. Die zunächst numerischen Altersangaben wurden getrennt für die beiden Geburtskohorten in Abhängigkeit von deren individueller Regelaltersgrenze (IRA) dichotomisiert. Bei der Kohorte 1959 entspricht dieses gesetzliche Regelrenteneintrittsalter einem Alter von 66 Jahren, bei der Kohorte 1965 einem Alter von 67 Jahren. Dadurch entstanden 2 Kategorien („Ja, ich kann bis zu meiner IRA arbeiten“ und „Nein, ich kann nicht bis zu meiner IRA arbeiten“).

Arbeitsqualitätsprofile (t0, Welle 1)

Mittels latenter Profilanalyse haben Hasselhorn et al. [19] sowie Stiller et al. [40] auf der Basis von 9 Indikatoren der Arbeitsexposition 5 Arbeitsqualitätsprofile unterschieden, die den vorliegenden Analysen zugrunde liegen: „poor quality“ (PQ), „relaxed manual“ (RM), „strained non-manual“ (SnM), „smooth running“ (SR) und „high flying“ (HF). Bei PQ und RM handelt sich um vorwiegend manuell tätige Beschäftigte. Bei PQ sind sämtliche Arbeitsfaktoren außer Arbeitsintensität am ungünstigsten ausgeprägt, RM unterscheidet sich von PQ durch eine geringe Arbeitsintensität und günstigere Ausprägungen in den Bereichen soziales Arbeitsumfeld und Führungsqualität. SnM, SR und HF sind Beschäftigungsgruppen mit nicht-manuellen Tätigkeiten. Im Vergleich zu SR und HF kennzeichnet das Profil SnM eine höhere Arbeitsintensität, eine schlechtere berufliche Perspektive und ungünstige soziale Arbeitsverhältnisse. SR ist charakterisiert durch nicht-manuelle und in jeder Hinsicht günstige Arbeitsfaktoren, allein die Arbeitsintensität ist leicht überdurchschnittlich. HF unterscheidet sich vom Profil SR hauptsächlich durch ein deutlich höheres Einkommen. Daher wurden SR und HF für diese Analysen als ein Profil betrachtet (SR+HF). Die Analysen erfolgten getrennt für manuell und nicht-manuell Tätige.

Allgemeine Gesundheit (t1, Welle 2)

Die allgemeine Gesundheit wurde mit einer Frage erhoben. Befragte sollten ihre gegenwärtige Gesundheit auf einer 5‑Punkte-Skala von „sehr schlecht“ bis „sehr gut“ einschätzen. Die Antworten wurden dichotomisiert in die Kategorien „gut“ (sehr gut, gut) vs. „schlecht“ (zufriedenstellend, schlecht, sehr schlecht).

Arbeitsfähigkeit (t1, Welle 2)

Zur Erfassung der Arbeitsfähigkeit wurde die zweite Dimension des Work Ability Index (WAI2; [23]) verwendet. Erfasst wurde dadurch die Arbeitsfähigkeit in Relation zu den körperlichen und psychischen Arbeitsanforderungen mit 2 Fragen [11]. Eine dritte Frage ermöglicht die Gewichtung der Anforderungen in Abhängigkeit davon, ob die Person vorwiegend körperlich oder psychisch tätig ist. Die daraus resultierende Summenskala (Werte 2–10) wurde dichotomisiert (Cut-off < 8 [niedrig] vs. ≥ 8 [hoch]). Die Vorteile der Verwendung des WAI2 in arbeitsepidemiologischen Studien und dessen Validierung stellen Ebener und Hasselhorn [11] dar.

Confounder (t0, Welle 1)

Als mögliche Confounder wurden Alter (46 Jahre/52 Jahre), Geschlecht (männlich/weiblich) und der sozioökonomische Status (SES) zu Beginn der Studie (2011) berücksichtigt. Letzterer wurde durch den Bildungsstatus (gering/mittel/hoch) operationalisiert [1]. Zusätzlich wurde für Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt der ersten Welle adjustiert (2011).

Statistische Analysen

Zunächst erfolgte die Beschreibung der Stichprobe. Mittels Chi-Quadrat-Tests wurden die Zusammenhänge zwischen den kategorialen Beschäftigtenmerkmalen und den Arbeitsqualitätsprofilen bivariat analysiert. Die Stärke der Assoziationen wurde mittels Cramérs V ermittelt.
Zur Untersuchung des Effekts der Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive sowie der möglichen Mediation durch Gesundheit und Arbeitsfähigkeit erfolgte eine kausale Mediationsanalyse mit inverser Odds-Gewichtung („inverse odds weighting“ [IOW]; [28, 42]). Die Messung des Prädiktors (Arbeitsqualität) erfolgte zur ersten Welle (t0), die der Mediatoren zur zweiten Welle (t1) und die der abhängigen Variable (AV) zur Welle 3 (t2) (Abb. 1).
Durch die IOW-Methode kann der totale Effekt (TE) der Exposition (widrige Arbeitsqualität) auf die AV (Erwerbsperspektive) in einen natürlichen direkten Effekt (NDE) und natürlichen indirekten Effekt (NIE) zerlegt werden. NDE beschreibt den Effekt der Exposition auf die AV, wenn der Mediator den Wert annehmen würde, den er in Abwesenheit der Exposition hätte – der Pfad durch den Mediator wird deaktiviert [28]. NIE beschreibt den Effekt der Exposition auf die AV in Anwesenheit (des tatsächlichen Werts) des Mediators. Gemäß Nguyen et al. [28] wurden die Analysen in sechs aufeinanderfolgenden Schritten durchgeführt. Zur kausalen Interpretation der Analysen muss für mögliche Confounder adjustiert werden. Daher wurden Alter, Geschlecht, SES sowie Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt der Welle 1 (t0) in den nachfolgend beschriebenen Regressionsmodellen berücksichtigt. Zunächst erfolgte die logistische Regression des Prädiktors auf den Mediator/die Mediatoren und die Confounder (1). Die dadurch prädizierten Log-Odds wurden zur Bildung des Gewichts (IOW) verwendet (2). Anschließend wird der TE bestimmt (3). Dazu erfolgte eine Poisson-Regression der AV auf den Prädiktor und die Confounder. Mit dem gleichen Modell, allerdings mit IOW, wurde der NDE bestimmt (4). Der NIE wurde durch die Subtraktion des NDE vom TE kalkuliert (5). Letztlich wurden alle Effektschätzer und 95 % Konfidenzintervalle (95 % KI) mittels Bootstrapping (1000 Stichprobenwiederholungen) komputiert (6). Die Analysen wurden separat für manuell und nicht-manuell Tätige durchgeführt. Die genannten Schritte wurden für beide Mediatoren getrennt und simultan durchgeführt. Durch diese Effektdekomposition kann anschließend die Berechnung der „Proportion Mediated“ (PM) erfolgen [45]. Sie beschreibt, in welchem Ausmaß der Mediator zum TE beiträgt.
Das Signifikanzniveau wurde auf p < 0,05 festgelegt. Keine der inkludierten Variablen hatte fehlende Werte > 5 %. Fehlende Werte wurden durch listenweisen Ausschluss in den Regressionsmodellen behandelt. Alle Analysen erfolgten mit Stata V15.1 (StataCorp LLC, College Station, TX, USA).

Ergebnisse

Beschreibung der Stichprobe

Die vier Profile (PQ, RM, SnM, SR+HF) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer soziodemographischen und -ökonomischen Merkmale sowie im Hinblick auf Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und subjektiver Erwerbsperspektive (Tab. 1). Mit Ausnahme der Merkmale Geschlecht und Geburtsjahr bestehen signifikante Zusammenhänge zwischen den Merkmalen und der Profilzugehörigkeit. Nicht-manuell Tätige weisen im Vergleich zu manuell Tätigen häufiger gute Gesundheit sowie eine hohe Arbeitsfähigkeit auf. Im Vergleich zur advers exponierten manuellen Gruppe PQ weisen Angehörige des günstigen manuellen Profils RM häufiger bessere Gesundheit und Arbeitsfähigkeit auf. Entsprechendes gilt für den Vergleich der nicht-manuellen Profile SnM (advers exponiert) und SR+HF (günstig exponiert). Diese Zusammenhänge sind jeweils stärker, wenn die Basiswerte zum Zeitpunkt t0 betrachtet werden. Vergleichbare Gradienten zeigen sich im Hinblick auf die subjektive Erwerbsperspektive 7 Jahre später: Beschäftigte mit den günstigen Profilen RM und SR+HF zu t0 glauben 7 Jahre später häufiger als ihre Gegenparts, dass sie in der Lage wären, bis zur Regelaltersgrenze erwerbstätig zu bleiben.
Tab. 1
Beschäftigtenmerkmale nach Arbeitsqualitätsprofilen (N= 3118)
Merkmal
Arbeitsqualitätsprofile (t0)
 
 
PQ
(n= 561)
RM
(n= 855)
SnM
(n= 507)
SR+HF
(n= 1195)
Cramérs V
(p-Wert*)
 
n (%)
n (%)
n (%)
n (%)
 
Geschlecht
Weiblich
304 (54,2)
498 (58,3)
287 (56,6)
629 (52,6)
0,047 (0,072)
Männlich
257 (45,8)
357 (41,7)
220 (43,4)
566 (47,4)
Geburtsjahr
1965
319 (56,9)
475 (55,6)
272 (53,7)
622 (52,1)
0,038 (0,211)
1959
242 (43,1)
380 (44,6)
235 (46,3)
573 (47,9)
Bildungsstatus
Gering
186 (33,4)
266 (31,3)
56 (11,1)
145 (12,2)
0,246 (<0,0001)
Mittel
324 (58,2)
513 (60,4)
285 (56,4)
639 (53,7)
Hoch
47 (8,4)
71 (8,3)
164 (32,5)
406 (34,1)
Allgemeine Gesundheit (t0)
Gut
198 (35,3)
460 (53,8)
268 (52,9)
792 (66,3)
0,220 (<0,0001)
Schlecht
363 (64,7)
395 (46,2)
239 (47,1)
403 (33,7)
Allgemeine Gesundheit (t1)
Gut
205 (39,4)
409 (49,7)
247 (49,9)
710 (60,6)
0,153 (<0,0001)
Schlecht
316 (60,6)
414 (50,3)
248 (50,1)
462 (39,4)
Arbeitsfähigkeit (t0)
Hoch
278 (49,7)
586 (68,8)
317 (62,8)
958 (80,5)
0,240 (<0,0001)
Gering
281 (50,3)
266 (31,2)
188 (37,2)
232 (19,5)
Arbeitsfähigkeit (t1)
Hoch
268 (51,5)
550 (67,0)
307 (62,2)
881 (75,4)
0,181 (<0,0001)
Gering
252 (48,5)
271 (33,0)
187 (37,8)
288 (24,6)
Erwerbsperspektivea (t2)
Ja, mindestens bis IRA
106 (19,8)
215 (25,5)
162 (32,5)
464 (39,2)
0,163 (<0,0001)
Nein, nicht bis IRA
428 (80,2)
628 (74,5)
336 (67,5)
719 (60,8)
PQ Poor Quality, RM Relaxed Manual SnM Strained non-Manual, SR Smooth Running, HF High Flying
*Signifikante Ergebnisse fett gedruckt
a„Und was glauben Sie, bis zu welchem Alter können Sie arbeiten?“, dichotomisiert bei der individuellen Regelaltersgrenze (IRA) vom 66. bzw. 67. Lebensjahr

Mediationsanalyse

Die Analysen zeigen, dass die Zugehörigkeit zu PQ (vs. RM) in Welle 1 mit einem erhöhten relativen Risiko (TE RR = 1,06 [95 % KI 1,01–1,13]) einhergeht, nicht bis zum IRA arbeiten zu können (Welle 3; Tab. 2). Der TE der Arbeitsqualität bleibt in allen Modellen signifikant, auch bei Adjustierung für die Basiswerte (t0) beider untersuchten Mediatoren (Tab. 2, Analyse 3). Auch unter den nicht-manuell Beschäftigten haben Angehörige des ungünstigen Arbeitsprofils (hier: SnM) gegenüber denen mit einem günstigen Arbeitsprofil (SR+HF) ein erhöhtes relatives Risiko, nicht bis zur IRA arbeiten zu können (TE RR = 1,06 bis 1,08; Tab. 3, Analyse 1–3). Allerdings bewirkt die Adjustierung für Basiswerte der Arbeitsfähigkeit (Tab. 3, Analyse 2), dass der TE der Arbeitsqualität nur noch grenzwertig signifikant ist (TE RR = 1,07 [95 % KI 0,99–1,17]).
Tab. 2
Kausale Mediationsanalyse zur Dekomposition des totalen Effekts der Arbeitsqualität (t0) auf die subjektive Erwerbsperspektive (t2) in einen direkten und indirekten Effekt. Vergleich der manuellen Profile (n= 1416)
 
PQ vs. RM
 
RR
95 % KI
Mediierter Anteild des TE (%)
Analyse 1a: Mediation durch schlechte Gesundheit (t1)
NIE
1,01
1,01–1,03
17
NDE
1,05
0,98–1,12
TE
1,06
1,01–1,13
Analyse 2b: Mediation durch geringe Arbeitsfähigkeit (t1)
NIE
1,03
1,01–1,05
44
NDE
1,04
0,97–1,11
TE
1,06
1,01–1,13
Analyse 3a,b,c: Mediation durch Gesundheit (t1) und Arbeitsfähigkeit (t1)
NIE
1,02
1,01–1,06
41
NDE
1,03
0,96–1,10
TE
1,06
1,01–1,13
RR relatives Risiko, KI Konfidenzintervall, NIE Indirekter Effekt (durch den Mediator), NDE Direkter Effekt (Mediator deaktiviert), TE Totaler Effekt (NIE + NDE) der Arbeitsqualität, PQ Poor Quality, RM Relaxed Manual
Adjustiert für Alter, Geschlecht, SES und aAllgemeine Gesundheit (t0), bArbeitsfähigkeit (t0)
cModell mit allen Variablen enthält um 6 % kleinere Stichprobe durch listenweisen Ausschluss fehlender Werte
dEngl.: „proportion mediated“ (PM) = RRDE*(RRIE-1)/(RRDE*RRIE-1)
Tab. 3
Kausale Mediationsanalyse zur Dekomposition des totalen Effekts der Arbeitsqualität (t0) auf die subjektive Erwerbsperspektive (t2) in einen direkten und indirekten Effekt. Vergleich der nicht-manuellen Profile (n= 1702)
 
SnM vs. SR+HF
 
RR
95 % KI
Mediierter Anteild des TE %
Analyse 1a: Mediation durch schlechte Gesundheit (t1)
NIE
1,01
0,99–1,03
13
NDE
1,07
0,98–1,15
TE
1,08
1,01–1,15
Analyse 2b: Mediation durch geringe Arbeitsfähigkeit (t1)
NIE
1,02
0,99–1,05
30
NDE
1,05
0,97–1,15
TE
1,07
0,99–1,17
Analyse 3a,b,c: Mediation durch Gesundheit (t1) & Arbeitsfähigkeit (t1)
NIE
1,02
0,99–1,05
34
NDE
1,04
0,96–1,14
TE
1,06
0,99–1,15
RR relatives Risiko, KI Konfidenzintervall, NIE Indirekter Effekt (durch den Mediator), NDE Direkter Effekt (Mediator deaktiviert), TE Totaler Effekt (NIE + NDE) der Arbeitsqualität, SnM Strained non-Manual, SR Smooth Running, HF High Flying
Adjustiert für Alter, Geschlecht, SES und aAllgemeine Gesundheit (t0), bArbeitsfähigkeit (t0)
cModell mit allen Variablen enthält um 3,5 % kleinere Stichprobe durch listenweisen Ausschluss fehlender Werte
dEngl.: „proportion mediated“ (PM) = RRDE*(RRIE-1)/(RRDE*RRIE-1)
Der durch die Arbeitsfähigkeit (in Welle 2) mediierte Anteil des totalen Effekts ist in beiden Analysen größer als der durch die allgemeine Gesundheit. 44 % des Effekts widriger Arbeitsqualität (PQ vs. RM) auf die subjektive Erwerbsperspektive manuell tätig Beschäftigter wird durch geringe Arbeitsfähigkeit mediiert (Tab. 2) und 17 % durch schlechte Gesundheit. Werden beide Mediatoren simultan untersucht, werden 41 % des TE mediiert. Bei den nicht-manuell Tätigen werden 30 % des TE widriger Arbeitsqualität (SnM vs. SR+HF) durch geringe Arbeitsfähigkeit mediiert, 13 % durch schlechte Gesundheit und 34 %, wenn beide Mediatoren simultan untersucht werden.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass sich eine widrige Arbeitsqualität sowohl bei manuell Tätigen als auch nicht-manuell Tätigen prospektiv negativ auf die Erwerbsperspektive auswirkt. Ältere Beschäftigte, die den Profilen „poor quality“ (manuell tätig) und „strained non-manual“ (nicht-manuell tätig) angehören, haben ein um 6–8 % höheres Risiko (TE RR = 1,06–1,08) als die entsprechenden Vergleichsgruppen, 7 Jahre später anzugeben, nicht bis zur individuellen Regelaltersgrenze arbeiten zu können. Dieser totale Effekt (TE) der Arbeitsqualität auf die Erwerbsperspektive wird teilweise durch Gesundheit und in deutlich größerem Ausmaß durch die Arbeitsfähigkeit mediiert. Bei den manuell Tätigen (PQ vs. RM) beträgt der durch die Arbeitsfähigkeit mediierte Anteil des TE 44 %, bei den nicht-manuell Tätigen (SnM vs. SR+HF) 30 %. Die simultane Analyse beider Mediatoren suggeriert, dass sich deren Mediationseffekte überschneiden.

Arbeitsqualität und subjektive Erwerbsperspektive

Zunächst betonen die Ergebnisse damit die Bedeutung der Arbeitsqualität für die Vorstellungen älterer Beschäftigter über ihre berufliche Zukunft und Erwerbsteilhabe. Dass die Qualität der Arbeit bei älteren Beschäftigten einen großen Einfluss auf den Zeitpunkt des Erwerbsausstiegs hat, ist bekannt (z. B. [9, 10, 41]). Der Endpunkt der vorliegenden Studie ist allerdings nicht der tatsächliche Erwerbsausstieg, sondern ein Aspekt der Erwerbsperspektive, nämlich die subjektive Einschätzung, wie lange man erwerbstätig sein kann. Inwieweit diese Einschätzung prädiktiv für die spätere Erwerbsteilhabe ist, ist nach unserer Kenntnis bislang nicht untersucht worden. Drei Umstände sprechen gegen eine hohe Übereinstimmung:
1.
Stiller et al. [40] haben gezeigt, dass sich bei zahlreichen Beschäftigten in höherem Erwerbsalter die Arbeitsqualität ändert – mit Auswirkungen auf die Erwerbsperspektive in die erwartete Richtung.
 
2.
Längsschnittanalysen offenbaren, dass bei Beschäftigten der Anteil derer, die meinen, dass sie bis zur Regelaltersgrenze erwerbstätig sein können, mit zunehmender Annäherung an das Ruhestandsalter ansteigt [eigene unveröffentlichte Ergebnisse]. Folglich modifizieren ältere Beschäftigte im höheren Erwerbsalter hier ihre Einschätzung.
 
3.
Es ist bekannt, dass bestimmte, v. a. wirtschaftlich oder gesundheitlich vulnerable Gruppen trotz schlechter Gesundheit oder Arbeitsfähigkeit weiter erwerbstätig bleiben, weil sie sich einen (gewünschten) vorzeitigen Austritt aus finanziellen Gründen nicht erlauben können [15, 25].
 
Die drei genannten Punkte haben Konsequenzen für die betriebliche Prävention. Die ersten beiden Punkte legen nahe, dass Präventionsbemühungen, nicht zuletzt eine Verbesserung der Arbeitsqualität, dazu führen könnte, dass ältere Beschäftigte ihre Einschätzung, bis wann sie arbeiten können, nach hinten korrigieren. Der dritte Punkt beschreibt das, was Andersen et al. [2] als „stuck“ (zu Deutsch: feststecken) beschreiben: Beschäftigte arbeiten unfreiwillig länger, weil ein früherer Erwerbsaustritt negative, oft finanzielle Folgen für ihr Leben hätte. Ergebnisse von König et al. [25] deuten außerdem an, dass ein verlängertes Erwerbsleben aufgrund solcher „Job-lock“-Szenarien gesundheitliche Risiken für die älteren Beschäftigten mit sich bringt. Neben diesen individuellen sind auch gesellschaftliche Konsequenzen möglich. Denkbar ist, dass durch die Diskrepanz zwischen individuellen Vorstellungen sowie Ressourcen einerseits und den durch politische Reformen steigenden Regelaltersgrenzen andererseits auch affektive Reaktionen wie (Zukunfts‑)Ängste und auch Wut bei älteren Beschäftigten ausgelöst werden [38] – ein möglicher Nährboden für die mentale und emotionale Distanzierung von der eigenen Arbeit im Betrieb [21] und für eine sinkende Akzeptanz politischen Handelns [20].

Mediation des Effekts der Arbeitsqualität durch Arbeitsfähigkeit und Gesundheit

Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass der Effekt der Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive zum Teil durch Arbeitsfähigkeit und Gesundheit mediiert wird, was dem entspricht, was Hasselhorn et al. [16] im lidA-Denkmodell postuliert haben. Überraschend ist, dass ein großer Anteil dieses Effekts durch geringe Arbeitsfähigkeit vermittelt wird und nur ein vergleichsweise geringer Anteil durch schlechte Gesundheit. Immerhin wird schlechte Gesundheit gemeinhin als ein Hauptfaktor für den vorzeitigen Erwerbsaustritt angesehen [22] und mehrere Übersichtsstudien belegen den Zusammenhang von Gesundheit und Erwerbsteilhabe deutlich [3, 32, 34]. Eine mögliche Erklärung könnte die konzeptionelle Nähe der Arbeitsfähigkeit zur Zielvariable sein, eine weitere, dass die Arbeitsfähigkeit sensitiver (oder früher) auf Qualität und Veränderungen der Arbeitsumstände reagiert als die Gesundheit. Dies jedenfalls legen Ergebnisse von Galatsch et al. [12] nahe, die gezeigt haben, dass Pflegepersonal auf die (Nicht‑)Erfüllung von Wünschen an die Schichtform prospektiv mehr Veränderungen ihrer Arbeitsfähigkeit als ihrer Gesundheit aufweisen.
Analog dazu lässt sich der im Vergleich geringe Mediationseffekt der Gesundheit möglicherweise dadurch erklären, dass sich stärkere Effekte der Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit erst bei einer längeren, kumulativen Exposition abzeichnen. Darauf deuten Ergebnisse von Godin et al. [13] sowie Boini et al. [7] hin, die die Auswirkungen psychosozialer Arbeitsfaktoren auf die psychische Gesundheit untersuchten. Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass im höheren Erwerbsalter „Arbeit mit Krankheit“ immer häufiger vorkommt (unter den 51- bis 65-Jährigen berichtet ein Drittel aller Erwerbstätigen eine „mäßige bis sehr schlechte Gesundheit“ [17]), und dass die Arbeitsfähigkeit aber trotz schlechter Gesundheit oft nicht eingeschränkt ist [47]. Zudem ist zu betonen, dass in der vorliegenden Studie die allgemeine Gesundheit als Mediator untersucht wurde. Diese wird allerdings neben der Arbeitsqualität durch eine Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst, darunter z. B. das Gesundheitsverhalten, die Wohnbedingungen, die sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (z. B. [27]). Lincke et al. [26] diskutieren dies im Rahmen der Validierung des COPSOQ III in Deutschland und betonen, dass je nach Wahl der Zielvariablen (z. B. Arbeitszufriedenheit oder aber allgemeine Gesundheit) in Regressionsmodellen, arbeitsbezogene Faktoren mehr oder weniger Varianz erklären, nämlich in Abhängigkeit davon, inwiefern die Zielvariable von anderen Faktoren außerhalb der Arbeitsdomäne beeinflusst wird. Möglich wäre also, dass die Arbeitsfähigkeit deshalb einen größeren Anteil des Effekts der Arbeitsqualität mediiert als die Gesundheit, weil das Konstrukt einen stärkeren Bezug zur Arbeit hat. Der Umstand, dass auch die Konstrukte Gesundheit und Arbeitsfähigkeit eine konzeptionelle Nähe aufweisen [11], erklärt vermutlich die Überschneidung der Mediationseffekte der beiden Faktoren in unserer Untersuchung.
Nach unserer Kenntnis gibt es derzeit keine andere Studie, die untersucht, inwieweit die Effekte der Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive durch Gesundheit und Arbeitsfähigkeit mediiert werden. Dennoch schließen sich unsere Ergebnisse einer Vielzahl internationaler Belege an, die die zentrale Rolle der Arbeitsqualität für die Arbeitsfähigkeit einerseits und die der Arbeitsfähigkeit für die Verlängerung des Erwerbslebens andererseits betonen [44, 46, 48].

Stärken und Schwächen der Studie

Neben dem Studiendesign, der Größe der Stichprobe und ihrer Repräsentativität für ältere sozialversicherungspflichtige Beschäftigte der Geburtskohorten 1959 und 1965 in Deutschland [35, 36, 39] ist die Anwendung einer kausalen Mediationsanalyse eine Stärke der vorliegenden Studie. Ein Vorteil dieser Methode ist, dass mögliche Interaktionen zwischen der Exposition/dem Prädiktor (Arbeitsqualität) und den Mediatoren deaktiviert werden, indem der Mediator in keinem der Regressionsmodelle enthalten ist, in denen sich AV und Prädiktor befinden [28, 42]. Der Mediator wird lediglich über ein Gewicht (IOW) berücksichtigt. Die Methode in Verbindung mit dem Längsschnittdesign der Studie und der Berücksichtigung möglicher Confounder in den Regressionsmodellen erlauben eine kausale Interpretation der Ergebnisse.
Im Hinblick auf die ermittelten relativen Risiken (PQ vs. RM: TE RR = 1,06; SnM vs. SR+HF: TE RR = 1,06–1,08) wird deutlich, dass die advers exponierten manuell (PQ) und nicht-manuell (SnM) Tätigen, je nach Analysemodell, ein maximal 6–8 % erhöhtes Risiko gegenüber ihren Vergleichsgruppen aufweisen, anzugeben, nicht bis zur individuellen Regelaltersgrenze arbeiten zu können. Es kann als Limitation angesehen werden, dass die Effektstärken nur gering und teilweise grenzwertig signifikant sind. Zur Einordnung der TE sind allerdings mehrere Aspekte zu beachten. Zunächst handelt es sich um eine längsschnittliche Untersuchung, bei der die Effekte der Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive in einem Abstand von 7 Jahren untersucht wurden. Dadurch können Ursache und Wirkung zweifellos unterschieden und intermediäre Faktoren sinnvoll untersucht werden. Möglich ist allerdings, dass der Beobachtungszeitraum zu lang ist und die Effekte der Arbeitsqualität auf die Zielvariable dadurch attenuiert wurden. Stiller et al. [40] zeigten, dass ältere Beschäftigte über einen Zeitraum von 7 Jahren häufiger zwischen Arbeitsqualitätsprofilen wechseln. Wechsel fanden sowohl von ungünstigen zu günstigen Profilen als auch vice versa statt [40]. Im Vergleich zur Gruppe, die über 7 Jahre in einem ungünstigen Profil verblieb, führte ein früher Wechsel in ein günstigeres Profil zu einer Verbesserung der Motivation zur Erwerbsteilhabe [40]. Es ist anzunehmen, dass ein solcher Wechsel auch Einfluss auf die Einschätzung nimmt, wie lange man arbeiten kann. Daher könnten Profilwechsel tendenziell zu einer Unterschätzung der relativen Risiken beigetragen haben. Eine Stärke der Studie ist, dass für Basiswerte der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit adjustiert wurde, die – wie eingangs beschrieben – einen starken Zusammenhang mit der Erwerbsperspektive haben. Eine alternative Interpretation der Effektstärken ist daher, dass die advers exponierten Beschäftigtengruppen trotz Adjustierung für Gesundheit und Arbeitsfähigkeit ein erhöhtes Risiko haben, anzugeben, nicht bis zur individuellen Regelaltersgrenze arbeiten zu können. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass jeweils manuelle und nicht-manuelle Profile untereinander verglichen wurden. Unterschiede zwischen diesen Profilen („between-group variation“) sind daher nuanciert und die Effektstärken durch mögliche Unterschiede Beschäftigter innerhalb der Profile („within-group variation“) tendenziell abgeschwächt. Die Herangehensweise zur Bildung der Arbeitsqualitätsprofile beschreiben Hasselhorn et al. [19]. Insgesamt sind die Effektstärken daher als konservativ zu betrachten.
Eine Limitation der vorliegenden Studie ist, dass mögliche weitere Confounder („residual confounding“) der Assoziation zwischen Exposition und Mediator, Mediator und AV sowie Exposition und AV nicht ausgeschlossen werden können. Die Ergebnisse sind zudem nur begrenzt für Beschäftigte älterer oder jüngerer Geburtskohorten als der untersuchten valide, da anzunehmen ist, dass sich die dargestellten Mechanismen altersabhängig verändern können [30].

Implikationen

Immer wieder wird in Deutschland über eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters diskutiert, welches zum Erhalt einer vollen Altersrente berechtigt. Eine solche Erhöhung wird im Gutachten „Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) empfohlen, allerdings mit dem Zusatz, dass „ein einheitliches Renteneintrittsalter […] nicht sinnvoll“ sei, dies mit Verweis auf die ausgeprägten gesundheitlichen Unterschiede der Beschäftigten im höheren Erwerbsalter und auf die damit erhöhte Akzeptanz eines solchen politischen Eingriffs [6, S. 46]. Allerdings scheint die Gesundheit – das legen die vorliegenden Ergebnisse nahe – nur ein begrenzter Indikator für schlechte Arbeit und die Erwerbsperspektive zu sein. Dagegen deuten unsere Ergebnisse an, dass die Arbeitsqualität selbst und die Arbeitsfähigkeit als wichtiger Mediator ihres Effekts auf die subjektive Erwerbsperspektive mehr präventive Beachtung finden müssten. Politische Maßnahmen zur Verlängerung der Erwerbsteilhabe sollten daher mit Initiativen einhergehen, die sowohl zur Verbesserung der Arbeitsqualität als auch der Arbeitsfähigkeit beitragen, damit ältere Beschäftigte nicht nur länger arbeiten „(…) müssen, sondern auch können und wollen (…)“ [16, S. 405].
In zukünftigen Befragungswellen der lidA-Studie werden immer mehr ältere Beschäftigte die Arbeit verlassen und in den Ruhestand übergehen. Es können dann ähnliche Studien durchgeführt werden, die nicht die Erwerbsperspektive, sondern das tatsächliche Ausstiegsverhalten als Zielvariable untersuchen. Die Bedeutung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit als Effektmediatoren der Arbeitsqualität muss dann diesbezüglich erneut bewertet werden. Weiterhin wird sich im Rahmen der lidA-Studie zukünftig die Möglichkeit bieten, die Assoziation der Erwerbsperspektive mit dem tatsächlichen Ausstiegsverhalten zu untersuchen und damit den prädiktiven Wert der Erwerbsperspektive zu beurteilen.

Fazit

Die Ergebnisse weisen auf wichtige Stellhebel hin, mit denen die subjektive Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter positiv beeinflusst werden kann, nämlich durch bessere Arbeitsqualität und frühzeitige präventive Maßnahmen, um schlechter Gesundheit und vor allem geringer Arbeitsfähigkeit entgegenzuwirken. Bei der Debatte über die Gestaltung der Regelaltersgrenze und über die Erwerbsteilhabe älterer Beschäftigter sollten die Arbeitsqualität und Arbeitsfähigkeit stärker berücksichtigt werden.

Förderung

Die beiden ersten Wellen der lidA-Studie (2011; 2014) wurden durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (Förderkennzeichen: 01 ER 0806, 01 ER 0825, 01 ER 0826, 01 ER 0827), die dritte Welle der lidA Studie (2018) durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Förderkennzeichen: FP403). Der Erstautor erhielt finanzielle Unterstützung durch die Graduiertenförderung der Bergischen Universität Wuppertal.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Rohrbacher und H.M. Hasselhorn geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission (Ethikkommission der Universität Wuppertal vor [5. Dezember 2008, erneuert am 20. November 2017]), im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Alle befragten Studienteilnehmer haben ihr informiertes Einverständnis („informed consent“) gegeben.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Mediieren Gesundheit und Arbeitsfähigkeit die Auswirkungen widriger Arbeitsqualität auf die subjektive Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter?
Eine Längsschnittuntersuchung mit Daten der lidA-Kohortenstudie
verfasst von
Max Rohrbacher, M.Sc.
Hans Martin Hasselhorn
Publikationsdatum
31.05.2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie / Ausgabe 5/2022
Print ISSN: 0944-2502
Elektronische ISSN: 2198-0713
DOI
https://doi.org/10.1007/s40664-022-00470-0

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