Inwieweit lässt sich zeigen, ob mHealth im Bereich T2DM soziale Gesundheitsungerechtigkeiten verringert oder verschärft? Die gegenwärtig vorliegende empirische Forschungsliteratur zu Auswirkungen von mHealth-Technologien im Bereich T2DM auf gesundheitliche Ungleichheiten ist äußerst begrenzt. Bisher gibt es keine wegweisenden Erkenntnisse darüber, ob Nutzen oder Schaden von mHealth innerhalb von benachteiligten Gruppen überwiegen oder benachteiligte Gruppen weniger oder mehr als sozial besser gestellte Gruppen von mHealth-Technologien profitieren. Grundsätzlich ist diese Frage sehr komplex, und eine eindeutige Antwort ist auch in Zukunft nicht zu erwarten. Allerdings halten wir es für notwendig, der Frage mehr Raum in Forschung und Praxis einzuräumen und sie so weit wie möglich, auch in Zukunft, empirisch und normativ auszuleuchten. In diesem Abschnitt werden wir daher auf Aspekte verweisen, die in der ethischen Diskussion von mHealth noch immer zu wenig berücksichtigt werden. Für die folgende Analyse dieser Frage gehen wir von den oben erarbeiteten zentralen Punkten aus:
1.
mHealth soll im Bereich T2DM den Trend hin zu gesundheitlichem Empowerment und Eigenverantwortung für Gesundheit fördern,
2.
Ausbildung und Verlauf von T2DM werden durch einen sozialen Gradienten mitbestimmt,
3.
gesundheitliche Ungleichheiten haben eine ethische Relevanz und müssen auch aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive diskutiert werden.
Verringern mHealth-Technologien soziale Gesundheitsungerechtigkeiten im Bereich T2DM?
Soziale Gesundheitsungerechtigkeiten im Bereich T2DM hängen mit sozialen Determinanten wie Wohnort, Altersgruppe, Arbeitsbedingungen, Rassismuserfahrungen und Einkommen zusammen. Wie oben erwähnt, ist eine zentrale Hoffnung, die mit der Nutzung von mHealth verknüpft wird, die Zugangserleichterung zu Gesundheitsdienstleistungen. Ermöglicht wird diese durch die zunehmende Anzahl von Smartphone-Nutzenden und der niedrigschwelligen Verfügbarkeit von Anwendungen. Studien zeigen, dass Patient*innen in benachteiligten Regionen schlechtere Behandlungsergebnisse erzielen als in wohlhabenderen Regionen [
42]. Gerade für vulnerable Bevölkerungsgruppen, die zeitlich und örtlich eingeschränkt sind, ist es somit gut vorstellbar, dass mHealth die Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten erleichtert und verbessert [
43,
44].
Eine systematische Übersichtsarbeit zum Einsatz von mHealth-Technologien bei Personen mit T2DM aus benachteiligen und vulnerablen Gruppen zeigt tatsächlich Hinweise darauf, dass mHealth die Diabeteskontrolle verbessern sowie die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens und gesundheitsbezogene Kosten reduzieren kann. Die Autor*innen betonten jedoch, dass die in der Arbeit evaluierten Studiendesigns inadäquat sind, um herauszuarbeiten,
wie Technologie Nutzer*innen-zentrierter werden kann, um Zugang und Nutzbarkeit der Interventionen für benachteiligte Gruppen zu verbessern sowie deren Bedürfnisse und Bedarfe besser zu berücksichtigen [
24]. Insgesamt ist die Datenlage zu benachteiligten oder vulnerablen Bevölkerungsgruppen schwach. Einzelstudien haben gezeigt, dass unterversorgte Bevölkerungsgruppen mit T2DM ein hohes Maß an Interesse und Bereitschaft zeigen, mHealth-Lösungen zu verwenden [
45,
46].
Song und Frier führen an, dass besonders bei Kindern und Jugendlichen die Prävalenz für T2DM zunimmt und vermehrt präventive Maßnahmen benötigt werden [
47]. Für die sogenannten
Digital Natives stellt mHealth dabei eine Möglichkeit dar, dieser Herausforderung zu begegnen.
Einige Studien zeigen, dass ethnische Minderheiten häufiger von T2DM betroffen sind und häufiger kardiovaskuläre Komplikationen entwickeln [
48,
49]. Es ist zudem bekannt, dass diese Personengruppen – auch in Interaktionen mit Klinikpersonal – Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen machen. Auch hier könnten mHealth-Technologien zumindest symptomatisch Abhilfe verschaffen. Der digitalisierte Zugang zu Gesundheitsversorgung könnte dazu beitragen, Ängste vor Diskriminierung und Stigmatisierung zu verringern, welche bei persönlichen Interaktionen in Kliniken oder Praxen entstehen könnten [
50].
Somit hat mHealth auch im Bereich T2DM das Potenzial, die Teilhabe aller zu erleichtern und die Gesundheit insbesondere auch sozial benachteiligter Gruppen zu verbessern sowie soziale Gesundheitsungerechtigkeiten zu reduzieren.
Verschärfen mHealth-Technologien soziale Gesundheitsungerechtigkeiten im Bereich T2DM?
Die digitale Partizipation innerhalb der Bevölkerung ist ungleich verteilt, was in der Literatur als
Digital Divide beschrieben wird [
51]: Menschen ohne Internetzugang oder Zugang zu digitalen Angeboten werden von den potenziell positiven Versorgungseffekten durch mHealth ausgeschlossen. Anders als oft vermutet, spielt dabei nicht nur das Alter eine entscheidende Rolle, sondern auch Bildung, Einkommen, Geschlecht und Migrationshintergrund [
12,
13,
51].
Ein gleichberechtigter Zugang zur Technologie ist notwendig, um soziale Gesundheitsungerechtigkeiten zu reduzieren, jedoch nicht hinreichend. Die Gerechtigkeitsdimension geht über Fragen des Zugangs hinaus. Die umfassenderen Aspekte der Gerechtigkeit kommen in der ethischen Fachliteratur bisher im gesamten Bereich der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz (KI), aber auch im Bereich mHealth nur unzureichend zur Sprache [
13,
52,
53].
mHealth-Technologien werden oft mit einem engen Verständnis der Nutzenden entwickelt und sind nicht unbedingt auf die Bedürfnisse aller ausgerichtet. Die fehlende Berücksichtigung bestimmter Gruppen während der mHealth-Entwicklung bettet sich ein in eine komplexe Historie ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse und struktureller Benachteiligungen, die wir hier nicht annähernd wiedergeben und diskutieren können. Allerdings wird dieses Problem konkret benannt und zunehmend kritisch diskutiert. Aus den Science and Technology Studies (STS) ist bekannt, dass Designer*innen und Entwickler*innen oft unterbewusst eine sogenannte
I‑Methodology anwenden, sich also bei der Technologieentwicklung primär selbst als Referenz für potentielle Nutzer*innen heranziehen [
54]. Beispielsweise werden Prototypen meist erst im Team ausprobiert, bevor es größer angelegte Nutzer*innenstudien gibt. Wenn das Team aber – wie im Bereich digitaler Gesundheitstechnologien noch immer häufig – vorrangig männlich und gut ausgebildet ist, werden Bedürfnisse anderer Personengruppen (z. B. Frauen, LGBTQI-Personen und
People of Colour) übersehen oder nur in klischeehafter Weise mitbedacht [
52,
55]. Damit werden bereits im Designprozess Nutzer*innenmerkmale des Entwicklungsteams eingeschrieben [
50,
52,
54]. Studien zeigen, dass Schwarze und ethnische Minderheiten, die besonders negative Erfahrungen in der Gesundheitsversorgung machen, oft nicht mitbedacht werden und Algorithmen einen rassistischen Bias aufweisen können [
56‐
58]. Diese Einschreibungsprozesse in der Technologieentwicklung müssen erkannt und stärker reflektiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sich soziale Gesundheitsungerechtigkeiten noch verschärfen, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht im gleichen Maße profitieren können wie der „ideale Prototyp“. Hier gibt es auch erste Ideen zur Gegensteuerung, wie beispielsweise das
Digital Health Social Justice Tool Kit, konzipiert mit Technologieentwickler*innen als Zielgruppe [
12]. Ob gesundheitliche Ungerechtigkeit aufgrund rassistischer Verzerrungen in digitalen Gesundheitstechnologien angesichts solcher Toolkits erkannt und adressiert werden können, muss sich noch erweisen. Für eine gerechte, auf mHealth basierende Gesundheitsversorgung ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass diese Technologien so konzipiert sind, dass sie soziale Diversität berücksichtigen, in keiner Bevölkerungsgruppe Schaden anrichten und dass sie besondere Anstrengungen unternehmen, um soziale Gesundheitsungerechtigkeiten auszugleichen.
Neben Geschlecht, Schichtzugehörigkeit oder Ethnie spielt auch das Alter eine determinierende Rolle. Doukani (2021) hat beispielsweise aufgeführt, dass bei der mHealth-Entwicklung ältere Menschen zu wenig mitbedacht werden oder als homogene Gruppe gesehen werden, die wenig Interesse an neuer Technologie habe [
50]. Bagge-Petersen et al. zeigen, dass im mHealth-Designprozess auch die Bedürfnisse von Kindern nicht unbedingt mitbedacht werden [
55].
Durch die Erkenntnisse langjähriger Forschung aus STS und Soziologie von Designprozessen ist bekannt, dass Technologie nie neutral sein kann [
52,
54]. Um mögliche Verzerrungen und Stereotypen in der Entwicklung von T2DM-bezogenen mHealth-Technologien zu adressieren, sollten weitere empirische Studien durchgeführt werden. Diese können dazu beitragen, dass mHealth allen Bevölkerungsgruppen nutzt und nicht – wenn auch ungewollt – soziale Gesundheitsungerechtigkeiten verschärft.
Erste Arbeiten weisen außerdem darauf hin, dass Menschen mit prekärem sozialem Hintergrund schlechtere Möglichkeiten zur Integration digitaler Technologien zur Gesundheitsprävention in ihren Alltag haben. Selbst wenn prinzipiell Zugang zur Technologie besteht, können oder wollen manche Personen entsprechende Apps angesichts vieler anderer Verpflichtungen und Belastungen nicht priorisieren [
14,
59‐
61]. Die Betonung von Eigenverantwortung für Gesundheit bei gleichzeitig fehlenden psychischen, sozialen und praktischen Freiheitsgraden – und ohne Sensibilität für die strukturellen (teilweise historisch gewachsenen) Benachteiligungen – kann also zusätzlichen Druck und Belastung bedeuten, was zu einer Verschärfung sozialer Gesundheitsungerechtigkeiten führen kann. Um zu verstehen, wie und ob vulnerable Bevölkerungsgruppen digitale Technologien im Bereich T2DM integrieren und nutzen können bzw. wollen, ist auch hier mehr empirische Forschung, die besonders auf die Erfahrungen von Personen zielt (z. B. qualitative Interviewstudien), wünschenswert.
Kritisch diskutiert wird auch der durch mHealth unterstütze Wandel von der Krankheitsbehandlung als Aufgabe des medizinischen Personals hin zu einem
Do-it-yourself-Projekt der
Gesundheit. Gesundheit wird dabei zunehmend als individuelle moralische Verpflichtung verstanden und als andauernde Aufgabe der moralischen Selbsttransformation („ongoing moral self transformation“; [
62, S. 172]). Es besteht eine individuelle und allgemeine, unermüdliche Erwartung an den perfektionistisch orientierten, disziplinierten Körper, dessen Gesundheitsstatus durch Technologien unterstützt und überwacht werden kann. [
62]. Elitarismus, wie er in Online-Communities in den sozialen Medien und bei
Self-Care-Bewegungen (beispielsweise der
Quantified-Self-Community) beobachtet wird, kann jedoch zum Ausschluss benachteiligter Menschen führen. Dies ist bei T2DM besonders kritisch zu reflektieren, da aus der sozialpsychologischen Literatur bekannt ist, dass Peer-to-Peer-Unterstützung signifikant ist für eine T2DM-Therapie und soziale Medien hier mittlerweile eine besonders große Rolle spielen [
63]. Die Erforschung solcher sozialen Dynamiken in Peer-Support-Gruppen in den sozialen Medien und ihre potenziellen Auswirkungen auf gesundheitliche Ungleichheit stellt ein wichtiges Forschungsdesiderat dar.
Die Risiken im Bereich des Datenschutzes gehören zu den am meisten diskutierten ethischen Aspekten in Bezug auf mHealth. Auch in diesem Bereich können sich soziale Gesundheitsungerechtigkeiten verschärfen, z. B. wenn kostenlose, dafür aber weniger sichere Apps von sozioökonomisch schlechter gestellten Gruppen genutzt werden oder wenn gesundheitsbezogene Daten an Dritte wie Arbeitgeber*innen und Krankenkassen weitergegeben werden. Dadurch können Nutzende als „nicht gesund“ kategorisiert werden und finanziell und psychisch benachteiligt werden. Insbesondere ökonomisch schlechter gestellte Personen könnten somit – angesichts des bestehenden sozialen Gradienten bei T2DM – besonders unter Druck gesetzt werden [
37].