Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien
Allgemeine Voraussetzungen
Die Verbreitung von Verschwörungstheorien setzt die Bereitschaft voraus, an Verschwörungen zu glauben. Diese Bereitschaft scheint keine Seltenheit zu sein. Mehrere empirische Studien weisen darauf hin, dass ein relevanter Anteil der Allgemeinbevölkerung eine Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien aufweist. In Deutschland sind je nach Definition 10–30 % der Allgemeinbevölkerung für Verschwörungstheorien empfänglich (Roose
2020). Dabei interessieren sich Männer gleichermaßen wie Frauen für Verschwörungstheorien. Es gibt zudem Hinweise auf einen leichten Alterseffekt, wobei sowohl junges als auch hohes Alter zu einer leicht erhöhten Ansprechbarkeit führen (Roose
2020). Menschen in den neuen Bundesländern, Personen mit einem geringeren Bildungsstand und Bürger, die politisch rechts stehen, zeigen sich verschwörungstheoretischen Inhalten gegenüber offener als der Rest der Bevölkerung Deutschlands (Roose
2020) Immerhin: Es gibt keine Bevölkerungsgruppe, keine politische Partei, deren Anhänger sich in der Mehrzahl für Verschwörungstheorien interessieren.
Gemäß US-amerikanischen Studien liegt die Prävalenz für die Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien mit über 50 % etwas höher, wobei der Autor insbesondere bei der Bevölkerungsgruppe, die tatsächlich Opfer einer heimlich durchgeführten Misshandlung war, wie z. B. die Syphilisexperimente an Afroamerikanern im Rahmen der Tuskegee-Studie, eine deutlich höhere Bereitschaft nachwies, Verschwörungstheorien Glauben zu schenken (Goertzel
1994).
Selbst unter Berücksichtigung konservativer Definitionen von Verschwörungstheorien ist die Prävalenz von Verschwörungstheorien so hoch, dass die Frage berechtigt ist, ob nicht jeder eine gewisse Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien aufweist und es nur um die Frage gehen kann, wie stark ausgeprägt die Ansprechbarkeit ist.
Experimentelle Untersuchungen sprechen eindeutig für die Hypothese der generellen Ansprechbarkeit, wobei es interindividuelle Variationen gibt.
„Urheber“ von Verschwörungstheorien
Personen, die „degenerativ-destruktiven Verschwörungstheorien“ folgen, zeigen Gemeinsamkeiten mit Personen mit einer querulatorischen Persönlichkeit. Letztere weisen ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken auf, sind misstrauisch und erkennen überall ein Unrecht, das sie aufdecken möchten. Das führt häufig dazu, dass sich ein zunächst überschaubarer Konflikt ausdehnt, die Auseinandersetzung auf Kosten von sozialen Beziehungen oder der Leistungsfähigkeit geht und eine Lösung des Konflikts nicht mehr möglich ist.
Personen, die Verschwörungen „entdecken“, tun dies stark aus der Ablehnung gegenüber etablierten Autoritäten heraus. Wie auch in anderen extremistischen Organisationen werden bestehende behördliche Strukturen abgelehnt oder, wie im Falle von QAnon, als der eigentliche Feind wahrgenommen („deep state“). Daneben werden aber die Personen, die von weiten Teilen der Gesellschaft als zuverlässige Informationsquellen wahrgenommen werden, abgelehnt. Dies betrifft insbesondere Wissenschaftler, die sich Anfeindungen ausgesetzt sehen, wie z. B. der Arzt und Coronaberater des damaligen Präsidenten Trump, Anthony Fauci, in den USA, der in unterschiedlichen zentralen Rollen der Verschwörung gesehen wird. So soll er, je nach Lesart, als Teil des „deep state“ deren Agenda fördern, als Panikmacher Menschen zur Impfung nötigen oder als Gegner von Donald Trump diesen daran hindern, das Land aus den Klauen der liberalen Eliten zu befreien. Der formale Aufbau von veröffentlichten Verschwörungstheorien erinnert an wissenschaftliche Texte, indem einzelne Elemente mit Quellenangaben hinterlegt werden. In QAnon-Foren wird explizit darauf hingewiesen, selber zu recherchieren („do your own research“). Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen werden dann allerdings immunisierend zur Unterstützung der Verschwörungstheorie verwendet. Resultate, die eine Theorie falsifizieren würden, werden ausgeblendet oder neu interpretiert, wohingegen die Ergebnisse, die zur Theorie passen, herausgestrichen werden.
Gerade bei
„progressiv-destruktiven Verschwörungstheorien“ spricht vieles für die Annahme, dass einige Verschwörungstheorien bewusst lanciert werden. Die
Protokolle der Weisen von Zion sind nachweislich eine Fälschung. Benz (
2011) führt aus, dass eine der Voraussetzungen für Verschwörungstheorien das „Fehlen von einer verantwortungsbewussten Moral auf der Anbieterseite“ sei. Roose (
2020) bezeichnet denn Verschwörungstheorien auch als Ergebnis eines hohen Maßes an krimineller Energie.
Psychische Störungen
US-amerikanische Ärzte weisen vor dem Hintergrund des hohen Bevölkerungsanteils, der sich für Verschwörungstheorien interessiert, darauf hin, dass die psychiatrische Perspektive nicht geeignet ist, um dieses ubiquitäre Phänomen zu erklären (Oliver und Wood
2014).
Wenn es darum geht zu prüfen, ob die Ansprechbarkeit auf Inhalte von Verschwörungstheorien Ausdruck einer psychischen Störung ist, steht man vor einem logischen Problem: Die Unvermittelbarkeit der eigenen Überzeugungen ist ein zentrales Element schwerer psychischer Störungen (Pierre
2020). Anders formuliert: Wenn jemand davon überzeugt ist, dass reptilienähnliche Wesen die Demokraten unterwandert haben und Hillary Clinton von einer Pizzeria aus einen Pädophilenring betreibt, gilt dies dann als gesund, wenn es dieser Person gelingt, 1000 andere von dieser Geschichte zu überzeugen und sie diese Ansicht fortan mit dem Urheber teilen. Gelingt es nicht, irgendjemanden von der Wahrheit dieser Theorie zu überzeugen, gilt diese Person wohl als wahnhaft. Das Kranke wird somit nicht an der Wahrheit, der Absurdität oder Bizarrheit einer Theorie festgemacht, sondern an der Anzahl ihrer Anhänger. Sobald eine gewisse Anzahl von Personen eine noch so absurde Theorie für plausibel einstuft, gelten diese als psychiatrisch weitgehend unauffällig.
In einer jüngst veröffentlichten koreanischen Arbeit wird darauf hingewiesen, dass u. a. Ängste, negative Emotionen und der allgemeine Gesundheitszustand mit der Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien korrelieren (Kim und Kim
2021). Es handelt sich dabei um Kriterien, die das Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen im Allgemeinen und von depressiven Episoden im Besonderen erhöhen. So ist davon auszugehen, dass ähnliche Risikomerkmale das Risiko sowohl für psychische Störungen als auch für eine Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien erhöhen.
Persönlichkeitsmerkmale
Empirische Ergebnisse sprechen dafür, dass es eine Disposition für die Bereitschaft einer Person gibt, an Verschwörungstheorien zu glauben. Wenn jemand einer Verschwörungstheorie Glauben schenkt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er auch andere Ereignisse auf eine Verschwörung zurückführt. Und jemand, der Zweifel gegenüber einer Verschwörungstheorie hat, der wird auch Zweifel gegenüber anderen Verschwörungstheorien haben (Brotherton
2015). Völlig beliebig sind die Verschwörungstheorien dabei nicht: So konnte gezeigt werden, dass gewisse Verschwörungstheorien linke und rechte Extremisten gleichermaßen ansprachen, wohingegen ideologiespezifische Theorien nur von einer Seite der extremistischen politischen Flügel aufgegriffen wurden (van Prooijen und Acker
2015).
Eine wichtige Funktion von Verschwörungstheorien ist es, einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte anzubieten (Benz
2011). In unübersichtlichen Situationen lässt sich die Neigung messen, Muster und Intentionen zu erkennen. Diese Neigung fördert sowohl eine Ansprechbarkeit für Verschwörungen als auch das Denken in Vorurteilen (Brotherton
2015).
Zurückführen lässt sich diese Neigung auf Kontrollüberzeugungen: Je ausgelieferter sich jemand fühlt, desto eher ist er/sie bereit, im Chaos eine Struktur zu erkennen. Weiter kann nachgewiesen werden, dass ein – in einem Experiment simulierter – Kontrollverlust die Anfälligkeit für Erklärungen mit verschwörungstheoretischen Elementen erhöht (Whitson et al.
2015). Die Relevanz von Kontrollüberzeugungen für Verschwörungstheorien zeigt sich auch in der Allgemeinbevölkerung: Personen, die sich eher als sozial abhängig erleben oder sich eher von Zufallseinflüssen gesteuert wahrnehmen, sind offener für Verschwörungstheorien. Van Prooijen und Acker (
2015) vermuten denn auch, dass die Funktion der Verschwörungstheorie darin besteht, Kontrolle über einen bedrohlichen Zustand zurückzuerhalten, was sich nicht zuletzt daran erkennen lässt, dass es viel mehr Verschwörungstheorien zu bedrohlichen als erfreulichen Ereignissen gibt. Im Verhaltensexperiment weisen Van Prooijen und Acker (
2015) denn auch nach, dass Personen, die ein Priming einer durch sie kontrollierbaren Situation erhalten haben, weniger dazu neigen, in einem bestimmten Kontext eine Verschwörung zu vermuten. In einer weiteren Studie mit Priming, diesmal mit prosozialem Priming, konnte eine weitere Möglichkeit der Attenuierung einer Ansprechbarkeit für verschwörungstheoretische Inhalte aufgezeigt werden (Douglas und Sutton
2011).
Doch auch Kontextfaktoren wie Stress spielen eine Rolle: Empirisch lässt sich zeigen, dass unter Stress die Bereitschaft zunimmt, Muster und Zusammenhänge zu erkennen – auch da, wo keine vorhanden sind (Whitson und Galinsky
2008).
Ebenfalls dimensional zu verstehen sei die Neigung, Ereignisse als Ergebnis intentionaler Handlungen zu verstehen. Verschwörungstheoretiker neigen dazu, eine Absicht dort zu erkennen, wo keine ist (Brotherton
2015).
Brotherton (
2015) fasst zusammen, dass Verschwörungstheorien bei Personen populär sind, die paranoide Persönlichkeitsanteile haben, sowie bei Personen, die sich von der Mainstream-Gesellschaft entfremdet und sich anderen Kräften ausgeliefert fühlen.
Verschiedene Studien konnten Hinweise auf spezifische Persönlichkeitseigenschaften geben. In einer Untersuchung an über 800 Briten wurde untersucht, mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen die Ansprechbarkeit für eine Verschwörungstheorie zu den Anschlägen vom 07.07.2005 in London korreliert (Swami et al.
2011). Dabei konnten die Autoren zunächst zeigen, dass alle Items zu entsprechenden Verschwörungstheorien auf einem Faktor laden, wobei die interne Konsistenz mit CR-alpha von 0,93 hoch war – die Ansprechbarkeit also im wahrsten Sinne des Wortes eindimensional ist. Diese korrelierte mit der Ansprechbarkeit für weitere Verschwörungstheorien, mit einem Gefühl des Ausgesetztseins gegenüber Verschwörungstheorien, mit der Ablehnung von demokratischen Prinzipien, mit politischem Zynismus und mit einer negativen Haltung gegenüber Autoritäten. Auf der Persönlichkeitsebene korrelierte die Ansprechbarkeit für eine Verschwörungstheorie zu den Anschlägen vom 07.07.2005 mit einer geringen Verträglichkeit, mit einer hohen Offenheit für neue Erfahrungen, mit einem geringen Selbstbewusstsein und mit einer geringen Lebenszufriedenheit sowie negativ mit selbsteingeschätzter Intelligenz. In einer österreichischen Population konnte ein Zusammenhang zwischen der Ansprechbarkeit auf eine „Red-Bull“-Verschwörungstheorie und der Ansprechbarkeit für Paranormales, Aberglaube, psychometrisch gemessene Intelligenz (negativer Zusammenhang) und soziale Angepasstheit aufgezeigt werden (Swami et al.
2011). Douglas und Sutton (
2011) untersuchten den Zusammenhang zwischen Machiavellismus und der Unterstützung für Verschwörungstheorien. Dabei konnten die Autoren anhand eines pfadanalytischen Modells zeigen, dass machiavellistische Personen eher bereit, sind an Verschwörungstheorien zu glauben, weil sie selber eher bereit sind, sich zu verschwören.
Es gibt somit eine Reihe von Persönlichkeitszügen und Einstellungen, die mit der Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien korrelieren. Wenngleich es noch zu wenige Untersuchungen gibt, um von robusten Prädiktoren sprechen zu können, ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl angemessen davon auszugehen, dass es ein persönlichkeitsimmanentes Risikoprofil für die Ansprechbarkeit von Verschwörungstheorien gibt.
Forensische Perspektive
Verschwörungstheorien und Strafrecht
Der Glaube an eine Verschwörungstheorie ist für sich genommen kein Straftatbestand und soll – in einer offenen Gesellschaft und einem Rechtsstaat – auch keiner werden. Das Verbreiten der Inhalte gewisser Verschwörungstheorien kann hingegen strafrechtlich relevant sein (z. B. Leugnen des Holocaust, Deutschland: § 130 StGB: Volksverhetzung; Schweiz: Art. 261bis StGB Rassendiskriminierung), und, wohl eher in Einzelfällen, Gegenstand forensischer Abklärungen werden.
Verbreitung von Verschwörungstheorien als „Leaking“
Verschwörungstheorien, wie dargestellt, dienen häufig als Legimitationen für schwere Verbrechen – von Attentaten bis hin zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Teilweise geht ihre Verbreitung – wie beim Attentat von Pittsburgh – den Verbrechen voraus. Hier zeigt sich eine Parallele zu „Leaking“-Verhaltensweisen etwa bei Attentaten auf Schulen (sog. School Shootings): Drohen Verschwörungstheoretiker Gewalt an, können sie im Rahmen eines forensischen Bedrohungsmanagements Gegenstand einer forensischen Abklärung sein.
Bei Abklärungen von Verschwörungstheoretikern infolge von „Leaking“ oder auch Drohungen sehen sich forensische Fachpersonen mit der Herausforderung konfrontiert, dass sehr viele Verschwörungstheoretiker in irgendeiner Form Gewalt androhen, sehr wenige allerdings die Schwelle zur Gewalt überschreiten; eine methodische Herausforderung, mit der sich das forensische Bedrohungsmanagement schon im Umgang mit dem thematisch eng verwandten Bereich des politischen und religiösen Extremismus auseinandersetzen musste.
Verschwörungstheorien und politischer Extremismus
Verschwörungstheorien und politischer Extremismus weisen einen sehr hohen Überlappungsbereich auf. Zum einen weisen viele politische Extremisten Affinitäten für Verschwörungstheorien auf (Roose
2020), zum anderen sind viele Verschwörungstheorien nichts anderes als extremistische Positionen bzw. Bestandteile einer extremistischen Strömung. Oder anders formuliert: Extremistische Einstellung und Verschwörungstheorien sind zwei unterschiedliche Bausteine einer destruktiven Entwicklung (Lamberty und Leiser
2019). Bartlett und Miller (
2010) untersuchten weltweit 50 extremistische Gruppen, die bereits die Schwelle zur Gewalt überschritten haben. Im Zentrum der Untersuchung stand die Neigung der Extremisten für Verschwörungstheorien. Die Autoren schlussfolgern in ihrer Untersuchung, dass Verschwörungstheorien die Funktion eines Multiplikators für Radikalisierungsprozesse haben.
Verschwörungstheorien und Gewalthandlungen
In der Rückschau lässt sich eine Reihe von schweren Gewalttaten finden, bei denen ein Bezug zu Verschwörungstheorien hergestellt werden kann:
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1995 wurde in Oklahoma City eine Autobombe gezündet. 168 Menschen starben. Der Hauptattentäter Timothy McVeigh bewegte sich im Umfeld von rechtsextremen Bürgerwehren („militias“), hing selbst zahlreichen Verschwörungstheorien an, und es gibt Grund zur Annahme, dass eine rechtsextremistische Verschwörungstheorie ihn zu der Tat, aber auch zu deren Ausgestaltung animierte.
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2009 erschoss James Wenneker von Brunn, ein Anhänger der „weißen Vorherrschaft“ und Holocaust-Leugner, einen Wachmann des Holocaust-Museums in Washington. Wenneker war davon überzeugt, dass Obama von den Juden erschaffen wurde und von diesen kontrolliert wird.
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2011 tötete Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen. Kurz vor der Tat hatte er im Internet ein Manifest veröffentlicht, in dem er postulierte, dass radikale Islamisten Europa infiltrieren würden, um die abendländische Kultur zu zerstören. Europäische Regierungen würden diesen Komplott stützen (Butter
2020).
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2013 verübte Tamerlan Zarnajew einen Anschlag während des Boston-Marathons. Der Täter war gemäß
Boston-Globe-Reporterin Sally Jacobs davon überzeugt, dass sich die US-Regierung gegen ihre Bürger verschwört. Weitere Hinweise auf Verschwörungstheorien waren, dass er seinem Vermieter eine Kopie der „Protokolle“ übergeben hatte (Brotherton
2015).
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2016 wurde im deutschen Georgensgmünd ein Polizist erschossen, als er in seiner Funktion des Mitarbeiters eines Sondereinsatzkommandos die Wohnung eines „Reichsbürgers“ nach illegalen Waffen durchsuchen wollte (Butter
2020).
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Schon 2020 wies das FBI darauf hin, dass es sich bei „QAnon“ um eine extremistische Organisation handle, die ein Sicherheitsrisiko für die USA darstelle (Quinn
2021). Spätestens nach dem 06.01.2021 wurde klar, dass die Warnungen des FBI berechtigt waren, als ein gewaltbereiter Mob das US-Capitol stürmte und der „QAnon Schamane“ vor den Kameras der anwesenden Journalisten im Senatssaal posierte.
Die Basisrate von schweren Gewalttaten unter Anhängern von Verschwörungstheorien ist sehr gering. Die überwiegende Mehrheit der Anhänger von Verschwörungstheorien begeht kein Attentat. Dennoch kann der Glaube an Verschwörungstheorien – so Butter (
2020) – problematische Auswirkungen haben.
Empirische Untersuchungen an einer repräsentativen Stichprobe von Deutschen (Rottweiler und Gill
2020) sowie an einer Stichprobe von 646 US-Amerikanern (Vegetti und Littvay
2020), zeigten, dass Verschwörungstheorien die Bereitschaft erhöhen, Gewalt anzuwenden. Dieser Effekt ist bei den Personen stärker ausgeprägt, die hohe Kompetenzerwartungen und dissoziale Persönlichkeitseigenschaften aufweisen (Amarasingam und Argentino
2020).
Bei Personen, die eine extremistische Haltung vertreten, die eine direkte Ablehnung von Bevölkerungsgruppen oder gar dem ganzen demokratischen System zum Ausdruck bringt, bietet die Verschwörungstheorie die Legitimation für den Extremismus. Ein Zusammenhang zwischen dem Rückgriff auf Verschwörungstheorien und der Bereitschaft Gewalt anzuwenden, konnte sowohl für Rechtsradikale als auch für Salafisten aufgezeigt werden (Rousis et al.
2020).
Verschwörungstheorien haben eine Relevanz im Bereich der extremistischen Gewalt, indem sie vermutlich die Gewaltanwendung legitimieren und so die Schwelle für die Bereitschaft, die Handlungsschwelle zur Gewalt zu überschreiten, senken.
Diskussion und Ausblick
In den letzten 10 Jahre ereignete sich ein deutlicher Shift weg vom klassischen Medienkonsum hin zur Informationssammlung über Foren sowie soziale Netzwerke. Dieser Trend spielt wohl eine wichtige Rolle in der zunehmenden Verbreitung und möglicherweise gar der Entstehung von Verschwörungstheorien.
Je nach Definition bewegt sich der Anteil der Personen in der Gesamtbevölkerung, die eine Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien aufweisen, zwischen 10 und 50 %, wobei teilweise auch relativ weite Definitionen von Verschwörungstheorien verwendet werden. Diesem Beitrag liegt eine spezifische Definition von Verschwörungstheorien zugrunde: Eine Verschwörungstheorie ist eine von mehreren Personen geteilte faktisch falsche Überzeugung, dass eine kleine Gruppe ein destruktives Ziel verfolgt, dieses auch über einen längeren Zeitraum minutiös plant sowie den Plan fast perfekt umsetzt, aber dank kleiner Ausführungsfehler als Verschwörung erkennbar ist.
Eine Verschwörungstheorie ist keine inhaltliche Denkstörung, da sie von einer größeren Gruppe von Personen als wahr beurteilt wird und damit ähnlich wie naturwissenschaftlich widerlegte religiöse Theorien (Erschaffung der Welt in 6 Tagen) oder politische Prognosen (Kollaps des Kapitalismus in der marxistischen Theorie) als eine von vielen Weltanschauungen in einer offenen Gesellschaft toleriert werden muss.
Herausfordernd ist der Umgang mit einer Verschwörungstheorie, wenn sie einen Radikalisierungsprozess so weit unterstützt, dass damit das Risiko für Gewalt beim einzelnen (z. B. „lone-actor terrorist“), einer Gruppe (z. B. „al-Qaida“) oder einer Gesellschaft (z. B. NS-Regime, Ruanda-Genozid) erhöht wird.
Für die Forensischen Humanwissenschaften ist primär die erste Fragestellung – also das Risiko beim Einzelnen – relevant. Bei der Risikoeinschätzung muss dabei berücksichtigt werden, dass die Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien für sich genommen kaum einen Erklärungswert für das Risiko gewalttätiger Übergriffe hat. Das Phänomen ist so hoch prävalent, dass die Korrelation mit Gewalt insgesamt sehr tief ist. Allerdings gilt auch hier, dass, obwohl die überwiegende Mehrheit der Personen, die sich intensiv mit Verschwörungstheorien beschäftigen, friedlich bleibt, man bei nahezu allen Extremisten, die massive Gewalt angewendet haben, sieht, dass sie sich mit Verschwörungstheorien beschäftigt haben. Verschwörungstheorien sind somit forensisch gesehen relevant, etwa so wie extremistische Weltanschauung, Drohungen und querulatorisches Verhalten, was bedeutet, dass eine Risikoeinschätzung anhand der üblichen Risikofaktoren (wie z. B. Dissozialität, Impulsivität, Substanzkonsum, imperative Stimmen etc.) sowie der üblichen Beurteilungsschritte eines Bedrohungsmanagementprozederes zu erfolgen hat.
Menschen, die sich für eine Verschwörungstheorie begeistern, interessieren sich in der Regel für weitere Verschwörungstheorien. Die Persönlichkeiten von Verschwörungstheoretikern sind zwar nicht psychopathologisch auffällig, es lässt sich aber ein salientes Profil erkennen: Sie sind weniger verträglich, offen für neue Erfahrungen, schätzen sich als weniger intelligent ein, sie sind ansprechbar für Paranormales sowie für Abergläubisches und weisen einen hohen Fatalismus bzw. eine hohe soziale Abhängigkeit auf. Gegenwärtig gibt es noch zu wenige Replikationsstudien und einen zu uneinheitlichen Gebrauch des Konstruktes der Verschwörungstheorie, um von robusten Risikoeigenschaften für die Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien sprechen zu können. Aufgrund der Studiengüte der berücksichtigten Literatur kann allerdings davon ausgegangen werden, dass einige dieser Merkmale sich als robuste Marker herausstellen werden, sodass man es mit einem Persönlichkeitsrisikoprofil für Verschwörungstheorien zu tun hat.
Es ist fraglich, ob es überhaupt die Rolle eines Psychotherapeuten sein kann, jemanden von einer Verschwörungstheorie abzubringen, nachdem festgestellt worden ist, dass die Person per definitionem nicht psychisch krank ist, kein besonderes Gewaltrisiko aufweist und letztlich einfach eine persönliche Überzeugung hat, die einfach der offiziellen Lehre widerspricht. Es mag aber nun Fälle geben, wo die psychotherapeutische Bearbeitung der Verschwörungstheorie trotzdem zur Diskussion steht. Sei es, weil es der Klient selber wünscht (was eher unwahrscheinlich ist), sei es weil das Umfeld auf eine Behandlung drängt, oder weil es Teil einer forensisch-psychotherapeutischen Fallkonzeption ist. Da empfiehlt es sich, die Theorie selber nicht anzugreifen, weil Verschwörungstheorien, insbesondere die degenerativ-destruktiven Form, sich selbst immunisieren und nicht zu falsifizieren sind. Die einzelnen Persönlichkeitszüge, die in einem Zusammenhang mit der Ansprechbarkeit für Verschwörungstheorien stehen, sind auch schwierig psychotherapeutisch anzugehen. Vor dem Hintergrund, dass der wahrgenommene bzw. befürchtete Kontrollverlust eine wichtige Rolle bei der Ansprechbarkeit der Verschwörungstheorien aufweist, kann die Anwendung von therapeutischen Techniken, die bei der Selbstwirksamkeit ansetzen, diskutiert werden. Gegenwärtig sind uns allerdings keine methodisch angemessenen Untersuchungen bekannt, die genau dies zum Ziel gehabt hätten, sodass aktuell unsere Reflexion dazu lediglich als Grundlage weitergehender Überlegungen zu verstehen ist.
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