Evaluation des deutschen Früherkennungsprogramms Missverständliche Meldungen zum Mammografie-Screening

Vergangene Woche hat das Bundesamt für Strahlenschutz Wirksamkeitsdaten zum deutschen Mammografie-Screening-Programm vorgelegt, die auf breites Medieninteresse gestoßen sind. Dabei sind einige Punkte zur Einordnung etwas unterbelichtet geblieben. Eine kurze Nachlese. Am 9. Juli hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) den von ihm koordinierten Bericht zur „Evaluation der Brustkrebsmortalität im deutschen Mammographie-Screening-Programm“ veröffentlicht [1, 2]. Die zentralen Erkenntnisse aus dem über 500 Seiten starken Report lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstmals liegen Ergebnisse einer umfassenden Wirksamkeitsevaluation zum systematischen Mammografie-Screening-Programm (MSP) auf Brustkrebs für beschwerdefreie Frauen in Deutschland vor. Analysezeitraum waren die Jahre 2009 bis 2018. Die verantwortlichen Forscherinnen und Forscher haben sich intensiv darum bemüht, methodische Schwachstellen zu umschiffen, die drohen, wenn Krebsfrüherkennungsprogramme außerhalb randomisierter kontrollierter Studien untersucht werden (siehe unten). Die Daten können in dieser Hinsicht als besonders robust gelten, wobei eine Veröffentlichung als Fachpublikation mit Peer-Review noch aussteht. Die Wirksamkeit des deutschen MSP rangiert in einem Bereich, wie er aus der internationalen Literatur erwartbar war, mit einer Reduktion der Brustkrebsmortalität um relativ 20–30% (siehe unten) [vgl. 3]. Größe der Effekte ist auch eine Frage der Perspektive „Unter den Teilnehmerinnen war die Brustkrebssterblichkeit über eine Nachbeobachtungszeit von bis zu 10 Jahren um 20 bis 30 Prozent geringer als bei den Nichtteilnehmerinnen“, heißt es in einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zum Hauptergebnis des BfS-Berichts [4]. Das ist nicht falsch – lässt aber außen vor, dass es sich dabei um Angaben zum relativen Risiko handelt. Auch die BfS-Pressemitteilung und dutzende weitere Medienberichte thematisieren das nicht explizit. „Das Problem relativer Risikoangaben ist jedoch, dass durch das Weglassen der Referenzklasse [...] der absolute und damit letztlich der klinisch relevante Effekt nicht mehr abschätzbar ist“, wie Odette Wegwarth, Heisenberg-Professorin für medizinische Risikokompetenz und evidenzbasiertes Entscheiden an der Charité Berlin, 2023 in einem Übersichtsbeitrag zur Risikokommunikation in der Onkologie bemängelt hat [5]. Empfehlung der Redaktion Mammografie – Themenseite Die Mammografie als Screening- oder Einzeluntersuchung in der Diagnostik bzw. zur Früherkennung des Brustkrebs ist Thema dieser Artikelsammlung. Hier finden Sie aktuelle Studienergebnisse, Übersichtsarbeiten, aber auch CME-Beiträge zum Thema. Auf Tagesschau.de hat Elke Nekolla, Epidemiologin am BfS, den Bezugsrahmen für die aktuellen Zahlen nachgeliefert – und die beobachteten Effekte mit Blick auf das absolute Risiko an einem Beispiel veranschaulicht [6]: „Von 1.000 Frauen zwischen 50 und 69 Jahren, die nicht zur Früherkennung gehen, sterben 19 irgendwann an Brustkrebs. Von 1.000 Frauen, die zehn Jahre lang jedes zweite Jahr teilnehmen, sterben 13 bis 15. Also werden vier bis sechs [durch das MSP] gerettet.“ Werden nur Angaben zum relativen Risiko berichtet, führe dass dazu, dass Laien und Behandelnde den Nutzen von Früherkennungsmaßnahmen um das bis zu Hundertfache und mehr überschätzten, was eine informierte Entscheidungsfindung erschwere, warnt Wegwarth. Sie und ihr Team loben daher explizit die Aufklärungsbroschüre des G-BA [3], die Nutzen und Nachteile des MSP auch anhand absoluter Risiken veranschaulicht (diese Entscheidungshilfe basiert auf den internationalen Daten und [noch] nicht auf den aktuellen aus Deutschland) [7]. Rettet die Mammografie Leben? Unter der Überschrift „Brustkrebs-Studie: Mammografie rettet tausenden Frauen das Leben“ berichtet etwa auch der WDR auf seiner Website über die BfS-Daten [8]. Und die BILD schreibt im Vorspann zu ihrem Online-Bericht [9]: „Seit 20 Jahren rettet das Mammografie-Screening in Deutschland nachweislich Leben.“ Ob das MSP Leben rettet, weiß man bei strenger Auslegung bisher aber gar nicht – zumindest nicht in dem Sinne, wie wohl die meisten Menschen einen solchen Satz intuitiv verstehen würden: nämlich, dass beschwerdefreie Frauen, die am Screening teilnehmen, im Mittel länger leben, als die, die das nicht tun [vgl. 10, 11, 12]. Ausgewertet wurde vom BfS indes der Endpunkt „Brustkrebsmortalität“ – so, wie es in einschlägigen internationalen Untersuchungen zur Brustkrebsfrüherkennung üblich ist. Die Untersuchung lässt daher nur Aussagen dazu zu, ob weniger Frauen an Brustkrebs verstorben sind – und nicht, ob Gescreente tatsächlich auch insgesamt länger gelebt haben als Frauen ohne Screening. Letzteres bezieht sich auf den Endpunkt „Gesamtmortalität“, also auf Todesfälle jedweder Ursache. Diese Unterscheidung von Brustkrebs- und Gesamtmortalität mag kleinlich bis kontraintuitiv erscheinen, lässt sich aber durchaus begründen [10, 11]. Denn es könnte ja theoretisch sein, dass eine Früherkennungsmaßnahme direkt oder indirekt dazu beiträgt, dass Menschen schneller bzw. häufiger an anderen Ursachen als an dem gescreenten Krebs versterben – wodurch der Effekt auf die Gesamtmortalität null oder womöglich sogar steigernd wäre, etwa, wenn das Screening selbst erhebliche gesundheitliche Risiken birgt oder zu toxischen Therapien von Tumoren führt, die zu Lebzeiten den Betroffenen wahrscheinlich keine Probleme beschert hätten. Einige Forscherinnen und Forscher sehen daher in der Gesamtmortalität den ultimativen Maßstab, anhand dessen die Wirksamkeit eines Screenings zu bewerten ist – auch, weil man diesen Endpunkt besser messen kann (dass eine Person tot ist, lässt sich sicher bestimmen – anders als dass sie an einem spezifischen Tumor verstorben ist) [10, 11]. Dem entgegen steht allerdings ein gewaltiges Problem für die Praxis: Weil Brustkrebs auf Bevölkerungsebene nur einen sehr kleinen Teil an der Gesamtmortalität ausmacht, müssten randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit unfassbar großen Stichproben aufgelegt und diese über Dekaden nachverfolgt werden, um etwaige Effekte auf die Gesamtsterblichkeit feststellen zu können [12, 13]. Je nachdem, welche Screeningeffekte erwartet werden und wie häufig der gescreente Tumor ist, kann das schnell eine Stichprobengröße von mehreren Millionen bedeuten (bei Brustkrebs gemäß einer Berechnung wohl ungefähr 1,7 Millionen) [12]. Solche Mammut-RCTs halten viele Forscherinnen und Forscher für unrealistisch bzw. den Endpunkt Gesamtmortalität für fragwürdig [vgl. 12, 13, 14]. Das ändert aber nichts daran, dass derzeit streng betrachtet keine harte Evidenz dafür vorliegt, dass das MSP Gescreenten mehr Lebenszeit schenkt [11] – wobei es hier fairerweise ein methodologisches Bonmot zu bedenken gilt: Absence of evidence is not evidence of absence (Das Fehlen von Evidenz ist nicht Evidenz für das Fehlen [eines Effektes]). Und was ist mit den Risiken? „Die Teilnehmerinnen des Programms können sich darauf verlassen, dass der Nutzen der Untersuchung größer ist als das Risiko – insbesondere weil der Strahlenschutz in der Medizin in Deutschland auf einem sehr hohem Niveau ist“, wird Bundesumweltminister Carsten Schneider in der BfS-Pressemitteilung zitiert. Während Schneider damit explizit auf das geringfügig erhöhte Krebsrisiko durch die Röntgenuntersuchung selbst eingeht, werden dieses und andere Risiken (psychische Belastungen, falsch positive Befunde sowie Überdiagnosen und daraus folgende Übertherapien etc.) im Report selbst gar nicht behandelt. Der Fairness halber: Die Mission des Berichtsteams bestand von Vornherein nur in der Ermittlung der MSP-Wirksamkeitsdaten. Gleichwohl schreiben die Forscherinnen und Forscher selbst: Diese Daten „sollten idealerweise im weiteren Verlauf für eine umfassende Nutzen-Risiko-Abwägung mit Daten zur Lebensqualität, zu Überdiagnosen, zu falsch positiven Befunden und zu gesundheitlichen Folgen der durch das MSP generierten Strahlenexposition zusammengeführt und in einem entsprechenden Modell gegeneinander abgewogen werden“. Empfehlung der Redaktion Mammakarzinom – Themenseite Unsere Themenseite Mammakarzinom widmet sich der deutschlandweit häufigsten Krebserkrankung bei Frauen und liefert Ihnen die aktuellsten Nachrichten und Übersichtsarbeiten zum Thema Brustkrebs – von der Diagnose bis zur Therapie nach Leitlinie. Zum Strahlenrisiko heißt es auf der BfS-Website [15]: „Dem Nutzen [des MSP] steht ein – wenn auch geringes – Strahlenrisiko gegenüber: Weniger als 1 von 1.000 Frauen könnte wegen der bei der Untersuchung eingesetzten Röntgenstrahlung im weiteren Verlauf ihres Lebens an Krebs erkranken.“ Weitere Angaben zu etwaigen Nachteilen und Risiken finden sich zum Beispiel in der einschlägigen Aufklärungsbroschüre des G-BA [5]. Noch ein Wort zur Methodik Losgelöst davon, wie das Nutzen-Risiko-Verhältnis des MSP zu bewerten ist, stellt sich die Frage: Wie solide ist überhaupt die methodische Grundlage, auf der die aktuelle Schätzung der Wirksamkeit basiert? Goldstandard für die Bewertung von Interventionen in der Medizin sind RCTs. Die aktuelle Analyse basiert dagegen auf Beobachtungsdaten. Beobachtungsdaten bergen gerade bei der Betrachtung von Früherkennungsmaßnahmen prinzipiell ein hohes Risiko, dass die Wirksamkeit eines Screenings überschätzt wird [vgl. 3, 5, 16]. Das liegt an kritischen Verzerrungsphänomenen wie dem Lead-Time-Bias (Diagnose wird nur vorverlegt, ohne dass dies überlebensrelevant wäre; für eine detaillierte Darstellung siehe hier) oder Selektionseffekten (zum Beispiel, wenn diejenigen, die am Screening teilnehmen, auch ansonsten gesundheitsbewusster leben etc.) [3, 5, 16]. Für die aktuelle Auswertung haben die Forscherinnen und Forscher aber sehr umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um diese Verzerrungsrisiken so klein wie möglich zu halten – darunter: Auswertung verschiedener Datenquellen mit verschiedenen Methoden (Triangulation). Die analysierten Daten stammten im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Ansätzen: Abrechnungsdaten von fünf verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen (kassenbasierter Ansatz; n > 23 Millionen) [17] Bevölkerungsdaten aus Nordrhein-Westfalen (weibliche Gesamtbevölkerung im MSP-anspruchsberechtigten Alter [50–69 Jahre]; n > 3 Millionen); bevölkerungsbasierter Ansatz) [18] Analyse durch sogenannte Emulated Target Trials. Bei diesem Ansatz ahmt man, so gut es geht, eine sorgfältig geplante RCT nach. Weil dabei die Mortalität von Screening- und Nichtscreening-Gruppe ab einem gemeinsamen Startzeitpunkt (der virtuellen „Randomisierung“) berechnet wird, lassen sich zeitabhängige Bias wie der Lead- oder Length-Time-Bias rechnerisch kontrollieren [16]. Selektionseffekten wurde mit Ansätzen wie der Instrumentvariablenschätzung, Propensity-Score-Verfahren und Negative-Control-Outcome-Analysen begegnet. Beim Negative-Control-Outcome-Analysen prüft man zum Beispiel, ob ein Screening auch Effekte entfaltet, die unplausibel sind. Würde die Teilnahme am MSP etwa auch die Darmkrebsmortalität bedeutsam senken, wäre das ein Anzeichen für verzerrende Selektionseffekte (zum Beispiel, weil Screening-Teilnehmerinnen insgesamt mehr auf ihre Gesundheit achten als Nichtteilnehmerinnen etc.). Die Negative-Control-Outcome-Analysen hätten aber keine Hinweise auf relevante Verzerrungen ergeben, schreiben die Forscherinnen und Forscher. Bei den jeweiligen Analyseschritten habe man im Zweifel eher die konservative Berechnungsvariante gewählt, so André Karch, Professor für klinische Epidemiologie an der Universität Münster und einer der Projektbeteiligten, gegenüber Tageschau.de. Das würde bedeuten, dass die für das MSP errechneten Effekte unter Umständen auch größer ausfallen könnten [6, 19]. Dem steht der Umstand gegenüber, dass sich auch bei einer so ambitionierten Kontrolle von Verzerrungen, wie sie in den BfS-Analysen erfolgt ist, nicht gänzlich ausschließen lässt, dass unbeobachtete Störeinflüsse eine Rolle gespielt haben.

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