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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 2/2023

Open Access 03.02.2023 | Affektive Störungen | Forschungsforum

Unipolare Depression – psychodynamische Vielfalt

Eine qualitative Analyse von Fallkonzeptualisierungen im Rahmen von Psychotherapieanträgen

verfasst von: Lena Maier, M. Sc. Psych., Dipl.-Psych. Julian Blanck, Prof. Dr. Susanne Singer

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 2/2023

Zusammenfassung

Versorgungsengpässe in der ambulanten Psychotherapie haben in den letzten Jahren zu diversen Gesetzesinitiativen geführt. Eine davon war die Einführung von diagnosespezifischen Behandlungskontingenten. Ausgehend von diesem gesundheitspolitischen Vorhaben fragten wir uns, inwiefern empirische Daten für oder gegen eine solche Praxis sprechen, das heißt, wie „homogen“ Patient:innen mit derselben ICD-10-Diagnose aus psychodynamischer Sicht sind. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse wurden 13 Berichte von Patient:innen mit der Erstdiagnose F33.1 (Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode) ausgewertet, die im Rahmen des Gutachtenverfahrens geprüft wurden. Zusätzlich schätzten wir das generelle Funktionsniveau ein und verglichen die Reife der Abwehr mit dem Vorliegen komorbider psychischer Diagnosen. Es wurden 56 Seiten Textmaterial analysiert. Wir identifizierten 4 Konflikttypen (Selbstwert, Nähe-Distanz, Unterwerfung, Schuld) sowie strukturelle Beeinträchtigungen in 4 Bereichen (Selbst- und Objektwahrnehmung, Selbstregulierung, Bindung und Identität), bei Vorliegen verschiedener Therapieziele und Interaktionsformen. Die Abwehr bewegte sich auf unreifem bis neurotischen Niveau, was nicht im Zusammenhang mit dem Vorliegen komorbider Diagnosen stand. Das Funktionsniveau ließ auf ein breites Spektrum genereller Beeinträchtigung schließen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Depressionen vielfältige psychodynamische Hintergründe haben. Dies steht im Widerspruch zu der Idee einer Zuordnung von ICD-10-Diagnose und Behandlungskontingent.
Hinweise
Lena Maier und Julian Blanck haben zu gleichen Teilen zu dieser Arbeit beigetragen.
Dieses Manuskript wurde nach den Vorgaben der Consolidated Criteria for Reporting Qualitative Research (COREQ) erstellt.
Der Artikel ist Teil einer Dissertation.

Einleitung

Affektive Störungen stellen nach den Angststörungen die in Deutschland am häufigsten vorkommende (Jacobi et al. 2016) und in der ambulanten Psychotherapie am häufigsten behandelte Störungskategorie dar (Gaebel et al. 2016). Darüber hinaus ist die Bedeutung depressiver Erkrankungen im Versorgungsgeschehen im Verlauf der letzten Jahrzehnte zunehmend gestiegen (Nübel et al. 2019). Was einfach klingen mag, wenn von „depressiven Erkrankungen“ oder einzelnen Störungsbildern wie der „unipolaren Depression“ gesprochen wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung schnell als sehr komplex. Die Diskussionen um die Berechtigung und den Stellenwert einer „depressiven Persönlichkeitsstörung“ als eigener nosologischer Einheit (Bronisch 2008) und die Herausforderungen der adäquaten Diagnostik und Therapie chronisch depressiver Verläufe (Arolt und Wesselmann 2010) zeigen die Heterogenität des Feldes depressiver Phänomene auf. Die leitliniengemäße Behandlungsplanung (BÄK, KBV & AWMF (Hrsg.) NVL Unipolare Depression, Version 3.0 2022), die sich am Schweregrad der Depression orientiert, kann in dieser Hinsicht als empirisch begründeter Versuch verstanden werden, einen hinreichend guten Umgang mit depressiver Vielfalt zu finden. Untersuchungen im Kontext psychodynamischer Psychotherapie konnten immerhin zeigen, dass Patient:innen mit chronischen oder komplexen Störungsbildern eher von lang- als von kurzzeitpsychotherapeutischen Verfahren profitieren (Leichsenring und Rabung 2011).
Während sich die Behandlungsansätze der einzelnen Richtlinienverfahren stark voneinander unterscheiden, liegen zugleich verfahrensübergreifend Wirksamkeitsnachweise vor (NVL Unipolare Depression, Version 3.0 2022).1 Die analytische Psychotherapie, die sich mitunter dem Vorwurf zu umfangreicher Behandlungskontingente ausgesetzt sieht, konnte bei chronisch depressiven Patient:innen nachweisen, dass nach 3 Jahren positive Veränderungen nicht nur auf der symptomatischen, sondern bei 60 % der Patient:innen auch auf der strukturellen Persönlichkeitsebene erreicht werden können (in der Gruppe der mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelten Patient:innen waren dies 36 %), was sich wiederum positiv auf die Symptomreduktion auswirkte (Kaufhold et al. 2019).
Der nachgewiesenen psychotherapeutischen Wirksamkeit stehen immer wieder politische Überlegungen zur Einsparung von Kosten in diesem Bereich des Gesundheitssektors gegenüber. Im Jahr 2021 wurde die Idee einer an der ICD-10-Diagnose orientierten „Berasterung“ von Psychotherapiekontingenten politisch forciert und öffentlich diskutiert. Diese Idee der „Rasterpsychotherapie“ (Benecke 2021) warf die Frage auf, ob innerhalb ein und derselben ICD-10-Diagnose überhaupt sinnvoll von einer hierzu erforderlichen hinreichend großen Homogenität der zu behandelnden Patient:innengruppe ausgegangen werden kann. Insbesondere vor dem Hintergrund der Diversität klinischer Konzeptualisierungen zu Nosologie und Ätiologie depressiver Erkrankungen in den einzelnen Richtlinienverfahren erschien dieser Aspekt bedenkenswert. Diese politische Idee wurde nicht zuletzt aufgrund vielzähliger Stellungnahmen psychotherapeutischer Verbände (zum Beispiel bvvp et al. 2021), einer groß angelegten Petition, eines hohen medialen Echos und politischer Gegeninitiativen fallen gelassen (zum Beispiel TAZ 2021). Ein Blick in die Versorgungspraxis bestätigt die Kritik an der „Berasterung“ der Behandlungskontingente, insofern als am Beispiel von unipolaren Depressionen gezeigt werden konnte, dass die Stundenkontingente innerhalb dieser Diagnosekategorie heterogen sind und in keinem linearen Zusammenhang mit dem kodierten Schweregrad der Erkrankung stehen (Singer et al. 2022). Ausgehend von unterschiedlichen ätiologischen Konzeptualisierungen depressiver Störungen aus dem Kontext analytischer Psychotherapie und daraus abgeleiteter Behandlungsstrategien (Bleichmar 2010) interessierte uns die Frage der psychodynamischen Homo- bzw. Heterogenität einer realen Patient:innengruppe mit identischer ICD-10-Erstdiagnose.

Methoden

Material und Stichprobenziehung

Aus einem Datenpool von ca. 40.000 Psychotherapieanträgen, die im Rahmen des Gutachterverfahrens geprüft wurden, wählten wir 1000 Berichte aus den Jahren 2003 bis 2017 zufällig aus.
Personenidentifizierende Daten wurden geschwärzt und alle Berichte mit einer fortlaufenden Identifizierungsnummer pseudonymisiert. Anschließend wurden Basisinformationen der Patient:innen und Psychotherapeut:innen (zum Beispiel Alter, Geschlecht, Diagnose der Patient:innen, berufliche Qualifikation der Therapeut:innen) sowie des Psychotherapieantrags (zum Beispiel beantragte/befürwortete Stunden, beantragtes Verfahren) extrahiert. Die Prüfung des Studienprotokolls durch die Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz ergab eine zustimmende Bewertung (#2018-13221).
Von diesen 1000 Berichten selektierten wir von allen Erstanträgen (n = 269) diejenigen, bei denen die Diagnose F33.1 (Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode) vergeben worden war (44 Berichte) und wählten hiervon 13 per Zufall für die umfangreiche qualitative Analyse aus.

Datenanalyse

Die Berichte wurden in Anlehnung an Mayring (2016) mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Auswertung wurde von zwei Wissenschaftler:innen (L.M. und J.B.) mit der Software MAXQDA (VERBI Software, Berlin, Deutschland) durchgeführt. Ausgehend von vorab definierten Analyseeinheiten (kleinste Analyseeinheit: in sich schlüssige Teilsätze; größte Analyseeinheit: mehrere zusammenhängende Sätze) wurden für die Fragestellung relevante Textsegmente definiert. Unter Einbezug psychodynamischer Konzepte zu Diagnostik, Genese und Theorie von Depressionen wurden diese anschließend schrittweise in ein Kategoriensystem gruppiert und inhaltlich aufgearbeitet. Alle Berichte wurden von beiden Wissenschaftler:innen unabhängig voneinander kodiert. Unklarheiten und Abweichungen in der Zuordnung von Kategorien zu den Textsegmenten wurden im Autorenteam kritisch diskutiert, bis ein Konsens gefunden werden konnte.
Zusätzlich wurden die in den Berichten beschriebenen Abwehrmechanismen in Anlehnung an bestehende Abwehrkonzeptualisierungen (Arbeitskreis OPD 2014; Di Giuseppe und Perry 2021) sowie vor dem Hintergrund der klinischen Erfahrung der Forscher:innen hinsichtlich ihres „Reifegrads“ auf einer Skala von 0 (psychotisch) bis 3 (reif) eingeschätzt. Ausgehend von der Annahme, dass ein Abwehrmechanismus auf unterschiedlichen Strukturniveaus vorkommen kann, wurde der jeweils entsprechende Berichtskontext in diese Beurteilung einbezogen.
Für jeden Patienten/jede Patientin wurde aus den summierten Reifgraden der vorkommenden Abwehrmechanismen sowie der jeweiligen Zahl der Abwehrmechanismen ein Quotient berechnet, der eine Beurteilung des „generellen Abwehrniveaus“ ermöglicht. Zusätzlich verglichen wir das Vorliegen von Komorbidität und die Reife der Abwehr mithilfe des Mann-Whitney-U-Tests.
Neben der Konzeptualisierung der psychischen Beeinträchtigung in den Berichten interessierte uns das soziale und berufliche Funktionsniveau der Patient:innen. Dieses wurde anhand der Global Assessment of Functioning Scale (GAF-Skala; American Psychiatric Association 1996), basierend auf den Berichten, eingeschätzt.

Ergebnisse

Stichprobe und Überblick

Die Anträge stammten von 3 männlichen und 10 weiblichen Patient:innen. Das Alter der Patient:innen bei Antragsstellung betrug zwischen 18 und 58 Jahre, bei einem Durchschnitt von 38 Jahren. Die Zahl befürworteter Therapiesitzungen umfasste 25 bis 160 h, im Median 50 h (Mittelwert [M] = 76 h, Standardabweichung [SD] ± 50 h). Alle Patient:innen waren gesetzlich versichert. Der GAF-Wert betrug zwischen 41 und 72 Punkte, im Median 57 Punkte (M = 55 Punkte, SD ± 8 Punkte; Tab. 1). Sieben Patient:innen hatten neben der Diagnose F33.1 keine weitere psychische Diagnose, bei 5 Patient:innen lag eine weitere und bei einer Patientin lagen zwei weitere psychische Erkrankungen vor (Abb. 1).
Tab. 1
Stichprobencharakteristika (n = 13)
Merkmal
Ausprägung
Verteilung
Geschlecht, n (%)
Weiblich
10 (77)
Männlich
3 (23)
Alter (Jahre, n (%))
< 30
2 (15)
30–39
6 (46)
40–49
3 (23)
50–59
2 (15)
Erwerbstätigkeit, n (%)
Ja
7 (54)
Nein
6 (56)
– In Ausbildung/Studium
2 (15)
– Erwerbslos
1 (8)
– Erwerbsminderungsrente
2 (15)
– Unbekannt/nicht eindeutig
1 (8)
Krankenversicherung, n (%)
Gesetzlich
13 (100)
Antragsart, n (%)
Kurzzeittherapie
2 (15)
Langzeittherapie
11 (85)
Beantragtes Therapieverfahren, n (%)
Tiefenpsychologisch fundierte PT*
9 (69)
Analytische PT
4 (31)
Therapiestunden, M (± SD; Range)
Beantragt
78 (± 48; 25–160)
Befürwortet
76 (± 50; 25–160)
Global Assessment of Functioning, M (± SD; Range)
 
55 (± 8; 41–72)
*PT Psychotherapie
Bei den Psychotherapeut:innen waren 12 Personen weiblich und eine Person männlich. Neun Personen verfügten über eine tiefenpsychologische, 3 Personen über eine analytische und eine Person über eine doppelte Verfahrensqualifikation. Drei Personen gehörten zur Berufsgruppe der Ärzt:innen, und 10 Personen waren Psycholog:innen.

Textmaterial und qualitative Auswertung

Die 13 Berichte hatten einen Umfang von 3 bis 6 Seiten, im Durchschnitt 4 Seiten. Das gesamte Textmaterial umfasste 56 Seiten und 18.921 Wörter. Hiervon wurden 290 relevante Textstellen identifiziert.

Kategorien

Die deduktiv und induktiv gewonnenen Codes lassen sich in 3 Oberkategorien gruppieren: 1) Psychodynamik, 2) Interaktion zwischen Patient:in und Therapeut:in sowie 3) Behandlungsziele.

Psychodynamik

Die Kategorie Psychodynamik ist als Zusammenspiel aller psychischer Kräfte, die in Form von affektivem Erleben repräsentiert werden, definiert. Anhand des Berichtmaterials wurden hieraus entstehende innerseelische Konflikte und deren Abwehrmechanismen sowie strukturelle Einschränkungen herausgearbeitet und in entsprechende Unterkategorien (s. unten) gruppiert.
Konflikte
Die Psychotherapeut:innen beschrieben in den Berichten eine differenzierte Konfliktpathologie. Diese wurde sowohl im Rahmen biografischer Angaben deutlich als auch bei der Beschreibung psychodynamischer Hypothesen. Insgesamt wurden 5 verschiedene Konflikttypen anhand des Materials extrahiert. Bei den meisten Patient:innen (n = 10) konnte ein zentraler Konflikt herausgearbeitet werden. Über alle Berichte hinweg gesehen waren Selbstwertkonflikte sowie ein problematisches Nähe-Distanz-Erleben (Versorgung vs. Autarkie- und Autonomie vs. Abhängigkeit-Konflikt) vorherrschend (Abb. 1).
In 5 Berichten wurden Selbstwertkonflikte beschrieben. Diese zeichneten sich durch massive Minderwertigkeits- und Einsamkeitsgefühle“ (A072)2, „Scham und Versagensgefühle“ (D056) sowie „ständige[n] Druck, die Erwartungen anderer zu erfüllen“ (A070) aus. Neben Wünschen nach „Gesehenwerden, Anerkennung und verlässlicher Nähe“ (C088) sowie dem Bemühen darum (A070) wurden Ängste vor „Überflutung/Übernahme […] und Zurückweisung“ (C088) sowie „Enttäuschungsaggressionen“ (A072) deutlich, was sich unter anderem als „Fragilität auf hohem Erregungsniveau […] vermittelt[e]“ (A070).
Neben Selbstwertproblemen gehörte eine gestörte Nähe-Distanz-Regulierung zu den häufigsten Konfliktthemen in den Berichten (n = 7). In den meisten Berichten mit dieser Problematik standen existenzielle Individuations- und Abhängigkeitsängste hinsichtlich Beziehungen im Vordergrund (n = 5). Beispiel: „Ich kann so nicht mehr, werde von ihr verschlungen“ (D056). Dagegen wurden Nähe- und Versorgungswünsche bzw. deren Abwehr innerhalb einer Beziehung seltener beschrieben (n = 2). Beispiel: „Im Kontakt zeigt sie sich freundlich und zugewandt, verdeckt klagend – als hätte sie nicht das Recht dazu und die eigene Verantwortung überzogen betonend, zugleich entsteht das Bild, dass sie diese gar nicht tragen kann“ (C044).
Mitunter konnten sich Patient:innen nicht von den Erwartungen Anderer lösen („dann wieder sehe ich mich mit den Augen meines Vaters, habe starke Scham- und Versagensgefühle“; D056), entwickelten angesichts eigener elementarer Nähe- und Versorgungsbedürfnisse „frühkindliche Verlustängste“ (D022), gegensätzliche Handlungsimpulse (Beendigung einer Beziehung, die „benötigt [wird], um die Kohärenz und Vitalität ihres Selbst zu erhalten“; A092) oder, nach fachlicher Einschätzung der Behandlerin, auch reaktive Erinnerungslücken, zum Beispiel an die eigene Kindheit. Beispiel: „Es fällt auf, dass die Pat. wenig über ihre frühe Kindheit weiß oder zu berichten vermag, was wohl mit ihrer Ambivalenz, einerseits die Nähe elterlicher Bezugspersonen suchend, andererseits das Eigene entwickeln zu wollen, zusammenhängt.“ (C053).
Bei einer Patientin wurde eine Unterwerfungsproblematik in Form von Bestrafungsängsten gegenüber dem Vater deutlich, die „expansive Bestrebungen, Trotz und ein Ausbrechen verhindert haben“ (C032).
Bei einer anderen Patientin verursachte ein strafendes Über-Ich konflikthafte Schuldgefühle, die dann ausgelöst wurden, als sie den Versuch unternahm, „sich selbst [Anm.: vor Prügeln] zu schützen, indem sie dem Vater aus dem Wege ging […], da sie die Mutter damit ja ideell verraten hatte“ (D023).
Abwehr
In den Berichten wurden 27 verschiedene Abwehrmechanismen benannt. Von diesen wurden 9 von uns als „unreif“, 14 als „neurotisch“ und 4 als „reif“ beurteilt (Abb. 2). Auf psychotischem Niveau lagen keine Abwehrmechanismen vor. Die Zahl der beschriebenen Abwehrmechanismen pro Patient:in betrug zwischen 1 und 16, bei einem Durchschnitt von 8 (SD ± 4). Der am häufigsten genannte Abwehrmechanismus war Wendung gegen die eigene Person (n = 11), am seltensten wurden einige „reife“ Abwehrmechanismen (n = 1), wie beispielsweise Sublimierung, beschrieben. Die Einschätzung des Gesamtreifegrads pro Patient:in ergab bei 5 Patient:innen ein unreifes Niveau der Abwehr, bei 7 Patient:innen ein unreif bis neurotisches und bei einer Patientin ein neurotisches (Abb. 1). Die Patientin mit neurotischem Strukturniveau war die Person mit den meisten komorbiden Diagnosen (F34.1 „Dysthymia“, F43.1 „Posttraumatische Belastungsstörung“). Der Vergleich zwischen Patient:innen mit Komorbiditäten (n = 6) und ohne (n = 7) zeigte keinen statistisch signifikanten Unterschied bei der Reife der Abwehrmechanismen (ohne Komorbiditäten vs. mit Komorbiditäten: unreif 2 vs. 3, unreif-neurotisch 5 vs. 2, neurotisch 0 vs. 1; p = 0,75).
Struktur
Auf struktureller Ebene ließen sich 3 Unterkategorien bilden: Selbst- und Objektwahrnehmung, Selbstregulierung/Impulssteuerung und Bindung. Die vertiefte Sichtung des Materials ergab, dass alle Patient:innen strukturelle Einschränkungen in mehreren Bereichen aufwiesen, wobei die Zusammensetzung kein bestimmtes Muster erkennen ließ (Abb. 1).
In 12 Berichten fanden sich Hinweise auf die Selbst- und Objektwahrnehmung der Patient:innen. Dabei wurde vorrangig eine eingeschränkte Selbstwahrnehmung beschrieben (n = 10). Diese äußerte sich durch eine zum negativen Pol verschobene Einschätzung der eigenen Person (zum Beispiel C044: „Unwert und Insuffizienzgefühle“; C095: „Selbst abhängig von Bestätigung durch äußere Objekte“), eine eingeschränkte Fähigkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen (D020: „kaum möglich […], seine Bedürfnisse wahrzunehmen, geschweige zu verbalisieren“) oder Affekte zu differenzieren (A070: „keine Grundlage für die Differenzierung von Trieben und Affekten“). Teilweise führten abwesende oder unzuverlässige frühe Objektbeziehungen dazu, dass kein kohärentes Selbst im Sinne einer stabilen Identitätswahrnehmung (n = 2) ausgebildet werden konnte. Beispiel: „Sie konnte weder ausreichend gute Objektrepräsentanzen integrieren noch Objektkonstanz und ein kohärentes Selbst entwickeln. Stattdessen zog sie sich von den frustrierenden Objekten zurück und entwickelte nach außen hin ein teilweise falsches Selbst“ (A072). Vereinzelt wurden eine gute Introspektionsfähigkeit (n = 4) bei gutem emotionalem Kontakt zu sich selbst und dem Therapeuten/der Therapeutin beschrieben (n = 3).
Hinsichtlich regulativer Fähigkeiten (n = 6) zeigten sich Beeinträchtigungen in der Affekttoleranz, der Impulskontrolle und auch der Selbstregulierung. Affektspannungen wurden als kaum aushaltbar beschrieben und beispielsweise „durch Alkoholabusus vor der Bewusstheit ferngehalten“ (A011) oder durch Regression reguliert, zum Beispiel „auf ein orales Niveau, bei dem der Versuch, sich per oraler Zufuhr in die heile Säuglingswelt zurückzuholen, Suchtcharakter bekam (Essattacken)“ (D023). Teilweise gaben die Therapeut:innen an, dass geschwächte Selbstrepräsentanzen zu narzisstischen Abwehrformationen führten. Beispiel: „Seither bricht die auf Sexualisierung angewiesene Kompensationsstruktur des Patienten weg, und seine narzisstische Leere mit entsprechender Wut und Gefühlen von Kränkung und Unzufriedenheit klingt massiv an. Diese Affekte kann er jedoch im Banne seines Kontrolle, Übermacht und Durchhalten signalisierenden Größenselbst nicht zulassen …“ (A011).
In den Berichten gingen depressive Erkrankungen häufig mit strukturellen Einschränkungen im Bereich der Bindung (n = 11) einher. Defizite waren primär auf eine eingeschränkte Internalisierung guter Beziehungsobjekte zurückzuführen. Ein inkonsistentes Beziehungsverhalten seitens wichtiger Objekte (Beispiele A092: „widersprüchliche Beziehungsangebote“; A070: „unempathische, hochambivalente Haltung“; C053: „wenig verlässlich und spiegelnd“) verhinderte die „Entwicklung eines basalen Sicherheitsgefühls“ (A070) als Voraussetzung der Bindungsfähigkeit. Die Patient:innen hielten wichtige Beziehungspersonen einerseits auf emotionalem oder physischem Abstand (D056: „Fernpartnerschaft“; C053: „Rückzug“), andererseits behinderte die unzureichende strukturelle Reifung eine altersgemäße Autonomiefähigkeit. Beispiel: „Der Wunsch, autonom leben zu können, zeigt sich auch in ihren Ausbruchsversuchen (Auslandsaufenthalte). Ihr fehlt jedoch die notwendige seelische Ausrüstung, um diesen Wunsch zu verwirklichen“ (A070).

Interaktion zwischen Patient:in und Psychotherapeut:in

Die Interaktion zwischen Patient:in und Psychotherapeut:in ließ sich in 4 verschiedene Unterkategorien gruppieren. Bei der Mehrzahl der Patient:innen (n = 8) lagen unterschiedliche Arten der Beziehungsgestaltung sowie teils konfligierende Gefühle im Kontakt zwischen Psychotherapeut:in und Patient:in vor (Abb. 1).
Die Beziehungsgestaltung war geprägt durch:
Ängstlich-ambivalente Übertragungsgefühle (n = 7): Es dominierten Gefühle von Angst, Anspannung und Unsicherheit. Beispiel: „Die […] Pat. wirkt deprimiert, sehr angespannt, ängstlich und erschöpft. Zugleich wirkt sie ‚sprungbereit‘, wie um einen erwarteten Angriff abzuwehren“ (A070). Kontakt- und Versorgungswünsche zeichneten sich durch das Bemühen, alles richtig machen zu wollen aus, wodurch unter anderem ein fassadärer Eindruck, eine „pseudofreundliche Attitüde“ oder auch eine kontrolliert-rationalisierende Distanzierung bei der Therapeutin/dem Therapeuten spürbar wurden. Beispiel: „Um Kontrolle und Souveränität bemüht, sitzt sie gerade, lehnt sich nicht an, spricht mit weicher, kräftiger Stimme, ruhig, etwas selbstdistanziert von ihrer Verzweiflung, entschuldigt sich abwehrend, als dennoch spontan Tränen aufsteigen: ‚Ich will hier nicht rumheulen.‘ Ihr Ausdruck wirkt glatt, schafft Distanz (‚Rüstung‘), ich hüte mich, die offensichtliche Verletzlichkeit zu übersehen. Ihre einfache Kleidung (Jeans, Turnschuhe, dicke Strickjacke) soll vielleicht unsichtbar machen“ (C088).
Vertrauensvoller Kontakt (n= 7): Die Interaktion zeichnete sich hier durch eine angenehme und wohlwollende Atmosphäre bei einer positiven Übertragung aus. Basierend auf einem guten, emotionalen Kontakt wurde eine tragfähige Beziehung beschrieben. Beispiel: „Im Verlauf der Probatorik wurde damit begonnen, eine mild-positive Übertragungsbeziehung aufzubauen, innerhalb derer die Pat. sich wertgeschätzt und geachtet fühlt“ (C044).
Vorherrschen von Aggression (n = 6): Es wurden in diesen Berichten offene Wutaffekte, aber auch passiv-aggressive Gefühle in der Interaktion zwischen Psychotherapeut:in und Patient:in geschildert. Hierbei fiel auf, dass offene Wut häufiger von Therapeut:innen thematisiert wurde (zum Beispiel in Bezug auf Therapeut:in: A011: „fühle mich wie auf einem Pulverfass“), wohingegen die Patient:innen dies eher indirekt auszudrücken schienen (zum Beispiel in Bezug auf Patient:in: C044: „verdeckt klagend“; C032: „schwankt zwischen Skepsis und Idealisierung“).
Narzisstische Aspekte (n = 5): Die Interaktion war hier durch eine Suche nach Bestätigung und Lob sowie den Wunsch des Patienten/der Patientin, etwas Besonderes sein zu wollen, geprägt (zum Beispiel C032: „Die Patientin ist sichtlich bemüht, ihre Individualität zu unterstreichen“). Aufseiten der Therapeut:innen wurden mitunter Gefühle von Unzulänglichkeit (C053: „als könnte ich Frau O. nichts bieten“) sowie „ein starker Erwartungsdruck“ (D056) ausgelöst. In einigen Berichten wurde eine besondere Referenz auf das äußere Erscheinungsbild gezogen (Beispiele C053: „eine 18-jährige hübsche Frau“; A072: „die rot geschminkten vollen Lippen“; C095: Impuls des Therapeuten „sie in ihrer Attraktivität zu bestätigen“).

Therapieziele

Aus den Berichten konnten insgesamt 6 verschiedene primäre Ziele herausgearbeitet werden, die wir danach unterschieden, ob sie von den Therapeut:innen oder den Patient:innen selbst genannt wurden (Abb. 3). Die größten Übereinstimmungen zwischen Therapeut:innen und Patient:innen gab es hinsichtlich der Ziele Autonomieentwicklung (Therapeut:innen 8‑mal ; Patient:innen 7‑mal) und Förderung von Emotionsverarbeitung (Therapeut:innen 5‑mal ; Patient:innen 5‑mal ).
Therapieziele, die eher unbewusste/abgewehrte Bereiche betrafen oder auf therapeutischen Konzepte basierten, wurden ausschließlich von Therapeut:innen benannt. Dies betraf die Ziele Bearbeitung narzisstischer Problematik (Therapeut:innen 7‑mal; Patient:innen 0‑mal), Bearbeitung abgewehrter Aggressionen (Therapeut:innen 5‑mal; Patient:innen 0‑mal) sowie Entwicklung eines kohärenten Selbst (Therapeut:innen 3‑mal; Patient:innen 0‑mal).
Wenngleich mehrere Patient:innen auch über somatische Beschwerden klagten, wurde ein besserer Umgang mit körperlichen Beschwerden nur von einer Patientin als konkretes Ziel definiert.

Diskussion

Ziel der Studie und Interpretation der Ergebnisse

Ausgehend von zwischenzeitlich wieder verworfenen Überlegungen in der Gesundheitspolitik über eine normierte Zuordnung von festem Behandlungskontingent anhand der ICD-Diagnose, interessierte uns die Frage der psychodynamischen Homo- bzw. Heterogenität einer realen Patient:innengruppe mit der ICD-10-Erstdiagnose F33.1. Neben einem mangelnden Selbstwertgefühl (Vorstellung eigener Wertlosigkeit) sowie geringem Selbstvertrauen – zentrale Symptome der unipolaren Depression im Sinne des ICD-10 – fanden wir im Großteil der untersuchten Fälle ein konflikthaftes Nähe-Distanz-Erleben. Die aufgefundenen Konflikte decken sich mit den Angaben von Rudolf (2003), der vor dem Hintergrund seines Konzeptes des „depressiven Grundkonflikts“ postuliert, dass es sich, in der Sprache der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik ausgedrückt (Arbeitskreis OPD 2014), um die Konflikte „Autonomie versus Abhängigkeit oder Autarkie versus Versorgung“ handele. Mag die Stichprobengröße von nur 13 Patient:innen als Manko der vorliegenden Studie erscheinen, ist immerhin festzuhalten, dass bereits bei dieser recht geringen Fallzahl eine Varianz aus 5 verschiedenen psychodynamischen Konflikttypen sowie eine hohe Diversität von Abwehrmechanismen gefunden wurde. Somit scheint die Möglichkeit einer Zuordnung von festem Behandlungskontingent und ICD-10-Diagnose aus der Perspektive unseres qualitativ-psychodynamischen Forschungsfokus infrage zu stehen. Die von uns vorgefundene psychodynamische Heterogenität unterstützt die Kritik an diagnosespezifischen klinischen Studien, die häufig an „cherry-picked patient-samples“ (Shedler 2018), welche nicht der realen Praxis entsprechen, durchgeführt werden (Stellungnahme zum Änderungsantrag 49 zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung [GVWG] 2021 von Benecke 2021). Wie aber lässt sich ein sinnvoller Umgang finden, mit der Vielfalt des Phänomens Depression einerseits und dem Versuch der einheitlichen Konzeptualisierung andererseits?
Der Versuch, unterschiedliche Typologien der Depression zu entwerfen, ist so alt wie die Psychoanalyse und damit die psychodynamische Denkweise selbst (Fenichel 1945). Die Versuche psychiatrisch-klassifikatorischer Diagnostik, Depression als Phänomen über unterschiedliche deskriptive Kategorien „zu fassen zu bekommen“, können ebenfalls als in dieser Richtung mehr oder weniger gelungen interpretiert werden. Als entgegengesetzte Tendenz zur Bildung unterschiedlicher Depressionstypen wurde in der psychoanalytischen Theoriegeschichte aber auch diskutiert, ob es eine „Grundstruktur der Depression“ (Bibring 1952) gäbe, welche die Essenz unterschiedlicher Depressionstypologien ausmacht. Dieser Denkweise entsprechend wurde später auch von Hoffmann (2003) im Zuges des Wechsels von der ICD‑9 zur ICD-10 das Aufgeben des Konzeptes der „neurotischen Depression“ kritisiert. Bis heute betont Hoffmann (2021) die Bedeutung von Bibrings Verständnis für die psychoanalytisch orientierte Behandlung depressiver Patient:innen. Die Frage nach Einheitlichkeit und Vielfalt der Depression scheint also – psychodynamisch und deskriptiv-diagnostisch – gewissermaßen schon am Gegenstand selbst zu haften.
Ein für unsere Fragestellung wichtiger Aspekt betrifft die Frage, ob die in unserer Studie aufgefundene psychodynamische Vielfalt durch die Komorbiditäten der untersuchten Patient:innengruppe erklärbar sein könnte. Wie soll sich – so könnte ein Einwand lauten – die Frage untersuchen lassen, ob eine psychodynamische Einheitlichkeit oder Vielfalt im Rahmen ein und derselben ICD-10-Diagnose vorliegt, wenn zugleich etwa die Hälfte der untersuchten Patient:innen eine Zweit- oder Drittdiagnose aufweist? Läge eine psychodynamische Vielfalt dann möglicherweise im Phänomen der Komorbidität begründet, sodass letztlich nicht untersucht werden kann, ob eine „Berasterung“ des Behandlungskontingentes anhand der ICD-10-Diagnose F33.1 sinnvoll erscheint? Aus der Perspektive realer psychotherapeutischer Versorgung kann diesem Einwand mit dem Argument begegnet werden, dass Komorbidität bei psychischen Störungen im Allgemeinen und bei der unipolaren Depression im Speziellen keine Ausnahme darstellt. Im Fall der unipolaren Depression wurde in einer Studie gezeigt, dass bei 61 % der Betroffenen eine zusätzliche Diagnose und bei 24 % drei und mehr zusätzliche Diagnosen vorlagen (Jacobi et al. 2014). Zudem hatten 7 unserer 13 untersuchten Fälle ausschließlich die Diagnose F33.1, und auch innerhalb dieser Subgruppe findet sich die beschriebene Varianz in Bezug auf Konflikt, Abwehr, Struktur und Interaktionsverhalten. Insofern kann die Komorbidität nicht als alleinige Erklärung unserer Ergebnisse dienen.
Die Untersuchung der beschriebenen Abwehrmechanismen zeigte, dass sich diese auf einem unreifen bis vorwiegend unreif-neurotischen Niveau bewegen. Innerhalb der deskriptiven Diagnose F33.1 ergab sich jedoch kein einheitliches Bild, was die Verwendung einzelner Mechanismen angeht. Bloch et al. (1993) fanden in einer DSM-III-basierten Studie am Beispiel der Dysthymie, dass diese sich anhand der verwendeten Abwehrmechanismen sinnvoll von der nosologischen Einheit der Panikstörung abgrenzen ließ. Neuere Forschungsergebnisse hingegen legen nahe, dass sich für Depressionen kein spezifisches „Set“ an Abwehrmechanismen ausmachen lässt (Bond 2004). Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass der Reifegrad der Abwehr von Patient:innen, die an Depressionen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen litten, im Verlauf von psychodynamischen Langzeitbehandlungen zunahm (Bond und Perry 2004). Für den Fall, dass sich in einer größeren Untersuchung zeigen ließe, dass für die Diagnose F33.1 ein spezifisches „Set“ an Abwehrmechanismen auszumachen ist, müsste aus unserer Sicht dennoch bezweifelt werden, dass dies für eine Behandlungsplanung im Sinne der Zuordnung eines bestimmten Stundenkontingentes hinreichend wäre. Hierfür müssten weitere psychodynamische Faktoren (zum Beispiel Konflikte, Struktur, szenische Interaktion) mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus gilt ebenso zu bedenken, dass ein und derselbe Abwehrmechanismus auf unterschiedlichen Strukturniveaus verwendet werden kann (zu unterscheiden wäre etwa eine zwanghafte Abwehr vor dem Hintergrund eines analen Triebkonfliktes oder zum Schutz vor einem psychotischen Zusammenbruch).
Hinsichtlich der Untersuchung persönlichkeitsstruktureller Merkmale ergab sich patientenübergreifend der Eindruck von Einschränkungen in mehreren Dimensionen. Am häufigsten davon betroffen waren die Selbst- und Objektwahrnehmung sowie die Dimension der Bindung. Es liegen vielfältige Forschungsergebnisse vor, die enge Verbindungen zwischen einer unsicheren Bindung und einer depressiven Erkrankung postulieren (Bifulco et al. 2002).
An den von uns analysierten Interaktionsszenen war auffällig, dass offene Wutaffekte eher durch die Therapeut:innen in der Gegenübertragung wahrgenommen und beschrieben wurden. Dies deckt sich mit der psychodynamischen Annahme, dass die Vermeidung von direkter Aggression gegenüber als wichtig erlebten Anderen ein „Generalnenner“ (Hoffmann 2003) depressiver Phänomene ist. Dies passt ebenso zu unserem Ergebnis, dass bei aller Varianz der vorherrschenden Abwehrformen der Abwehrmechanismus „Wendung gegen die eigene Person“ mit Abstand am häufigsten vorkam. Weiterhin wiesen die Patient:innen in den uns untersuchten Fällen häufig ängstlich-ambivalente Übertragungsgefühle auf. McIntyre und Schwartz (1998) fanden, dass depressive Patient:innen, im Vergleich zu Patient:innen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, von ihren Psychotherapeut:innen in der Gegenübertragung eher als unterwürfig und freundlich erlebt wurden. Wir interpretieren dies vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen dem Vorhandensein depressiver Symptome und negativer Erwartungen zukünftiger Ereignisse, hier bezogen auf die therapeutische Situation. Ausgehend von Rudolfs Schilderungen seines Konzepts des depressiven Grundkonflikts (Rudolf 2003) verstehen wir die in dem Material aufscheinende freundlich-unterwürfige, ängstlich-gespannte, direkte Aggression vermeidende und von (narzisstischer) Bedürftigkeit geprägte Interaktion der Patient:innen als Ausdruck des Konfliktes zwischen „Objektbedürftigkeit“ und der Angst vor „Objektenttäuschung“.
Bezüglich der durch die Therapeut:innen und Patient:innen formulierten Therapieziele ergab sich kein einheitliches Bild. Die Unterschiede zwischen den Zielen der Therapeut:innen und Patient:innen lassen sich aus unserer Sicht im Wesentlichen über die jeweils unterschiedliche Perspektive auf den bevorstehenden psychotherapeutischen Prozess verstehen. Während die Patient:innen Behandlungsziele bewusstseinskonform und „lebensweltnah“ vor dem Hintergrund ihres Leidens formulierten, bezogen die Therapeut:innen psychodynamische Überlegungen in ihre Zielformulierung ein; diese betrafen auch unbewusste Prozesse und strukturbildende Maßnahmen. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass die von Therapeut:innen und Patient:innen formulierten Ziele einer Behandlung auch mit der jeweiligen Störung zusammenhängen, die es zu behandeln gilt. Untersuchungen zeigen aber, dass die Formulierung von Therapiezielen auch Lebensbereiche der Patient:innen betrifft, die als der Störung übergeordnet anzusehen sind (Michalak et al. 2007) und dass die Zielformulierung auch von der fachlichen therapeutischen Ausrichtung abhängt (Hasler und Schnyder 2002). Eine inhaltliche Spezifität hinsichtlich der Therapeut:innen- und Patient:innenziele, was einzelne F‑Diagnosen angeht, nehmen wir jedoch auch hier nicht an.

Potenzielle Limitationen der Studie

Mögliche Limitation unserer Studie könnten in dem verwendeten Material zu sehen sein, nämlich der retrospektiven Verwendung von Berichten, die im Rahmen von Kassenanträgen zur Übernahme der Kosten von ambulanter Psychotherapie verfasst wurden. Nachteilig könnte sich auswirken, dass die Autor:innen dieser Berichte nicht systematisch zur Psychodynamik ihrer Patient:innen befragt wurden, sondern, dass deren persönliche Arbeitsschwerpunkte und psychodynamische Perspektiven in die Berichte einflossen. Aufgrund der relativ fest vorgegebenen Berichtsstruktur sowie der Tatsache, dass ganz unterschiedliche Therapeut:innen die Berichte verfassten, gehen wir jedoch davon aus, dass die Vorteile des gewählten Materials und der verständnisoffenen Auswertungsmethode gegenüber diesen Nachteilen überwiegen. Eine weitere Einschränkung könnte darin bestehen, dass unsere eigene Erwartung die Datenauswertung beeinflusst haben könnte („confirmation bias“). Dem versuchten wir entgegenzuwirken, indem alle Berichte von zwei der Forscher:innen unabhängig voneinander kodiert wurden. Hierbei ist auch zu bedenken, dass eine Auswertung der vorliegenden Daten ohne ein zugrunde liegendes theoretisches und klinisches Wissen nicht durchführbar gewesen wäre. Nicht zuletzt ist die Repräsentativität der kleineren Fallzahl möglicherweise eingeschränkt, wie bei qualitativer Forschung üblich. Der Vergleich unserer Stichprobe mit der Gesamtzahl der vorhandenen Anträge ergibt jedoch im Wesentlichen ein ähnliches Bild hinsichtlich der wichtigsten demografischen Daten.

Schlussfolgerung

Patient:innen mit depressiven Störungen weisen auch beim Vorliegen ein und derselben ICD-10-Diagnose einen hohen Grad an individueller psychodynamischer Komplexität und Vielfalt auf. Für die psychodynamischen Behandlungsverfahren gilt, dass die Therapieplanung sich an der individuellen Psychodynamik zu orientieren hat, welche die jeweilige pathologische Störung begründet (Rudolf 2003). Mit der Darstellung unserer Forschungsergebnisse möchten wir infrage stellen, dass es bei Aufrechterhaltung aktueller Qualitätsstandards in der psychotherapeutischen Versorgung möglich ist, bestimmte Behandlungskontingente sinnvoll einer ICD-10-Diagnose zuzuordnen, wenn die individuellen Psychodynamiken sowie die daraus abzuleitende Indikationen und Behandlungsplanungen sich so stark unterscheiden. Dies ist aus unserer Sicht zugleich ein Argument für die Aufrechterhaltung der gutachterlichen Praxis bei der Bewilligung psychotherapeutischer Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung, da hierdurch eine dem individuellen Patienten/der individuellen Patientin angemessene psychotherapeutische Indikation und Vorgehensweise diskursiv entwickelt werden kann.

Förderung

Die Studie wurde anteilig durch die International Psychoanalytical Association (IPA) finanziert (# 4954).

Interessenkonflikt

L. Maier, J. Blanck und S. Singer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
Benecke (2021) kritisiert zu Recht, dass die Leitlinien auf der Basis von Studien mit geringer externer Validität, welche die praktische Behandlungsrealität nicht hinreichend gut widerspiegeln, basieren.
 
2
Entsprechend den Vorgaben für Publikationen qualitativer Daten (COREQ-Checkliste) werden die Identifikationsnummern (ID) der Patient:innen bei jedem Zitat angegeben.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Unipolare Depression – psychodynamische Vielfalt
Eine qualitative Analyse von Fallkonzeptualisierungen im Rahmen von Psychotherapieanträgen
verfasst von
Lena Maier, M. Sc. Psych.
Dipl.-Psych. Julian Blanck
Prof. Dr. Susanne Singer
Publikationsdatum
03.02.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-022-00496-3

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