Die Abbildung von Pflegequalität in digitalen Pflegedokumentationssystemen
Die Frage, was gute Pflege ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten, da sich Pflegeziele aus mehreren Perspektiven heraus formulieren lassen. Soll Pflege den Menschen in somatisch-funktionaler Hinsicht oder auch in psychosozialer und existentieller Hinsicht unterstützen? Soll Pflege präventiv und ressourcenorientiert-aktivierend bzw. rehabilitierend tätig werden, d. h. zur Selbsthilfe anleiten, oder sich lediglich auf die Bewältigung der gegenwärtigen Situation richten?
Ein engeres Wahrnehmungs- und Aufgabenspektrum ist – unmittelbar betrachtet – kostengünstiger und in Aus- und Fortbildungen rascher vermittelbar. Jedoch verpassen Pflegebedürftige, die eine rein somatisch ausgerichtete Grund- oder Akutpflege erhalten, unter Umständen Rehabilitationschancen, oder sie bleiben mit ihren psychosozialen und existentiellen Sorgen, die mit der Pflegebedürftigkeit einhergehen, allein.
Die meisten Pflegetheorien, Pflegekonzepte und Pflegeverständnisse wollen unter Absetzung von einer rein somatischen Pflege den pflegebedürftigen Menschen als Leib-Seele-Einheit sehen und streben daher eine „ganzheitliche“ Pflege an, die auch die psychische und existentielle Verfassung der zu pflegenden Person berücksichtigt. Der pflegewissenschaftliche und pflegeethische Diskurs der vergangenen Dekaden hat zudem herausgearbeitet, dass Pflege immer auch ein Beziehungsgeschehen ist.
10 Pflege als Sorge für die pflegebedürftige Person im Rahmen einer zwischenmenschlichen Beziehung ist gemeinsamer Ausgangspunkt von Pflegeverständnissen und Pflegetheorien (u. a. Juchli
1997 [1973]; Kellermann
1999). Dieser Aspekt sollte in der professionellen Pflege also keinesfalls vernachlässigt werden.
In diesem Sinne wurden in einem Schweizer Modell zur Messung von Pflegequalität (Schmid-Büchi et al.
2006,
2008) als Kriterien für die Qualität pflegerischen Handelns unter anderem genannt, dass sich die Patient*innen „aufgehoben fühlen“, „mit ihren Gefühlen, Ängsten und Sorgen ernst genommen werden“, dass Pflegende „genügend Zeit […] für ihr Anliegen haben und aufwenden“, und dass Patient*innen „fair, freundlich […] mit Geduld und Interesse“ gepflegt werden und „an Entscheidungsprozessen […] teilhaben können“ (Schmid-Büchi et al.
2006, S. 16). Danach gehören zu guter Pflege neben dem durch Pflegediagose und Pflegestandards unterstützten Fachwissen (Zentrum für Qualität in der Pflege
2013) und praktischem Geschick auch personale Kompetenzen der Pflegenden: Reflexionsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Wertorientierung, Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Fürsorglichkeit, die Fähigkeit zu trösten und zu ermutigen. Zur Wertorientierung gehören insbesondere der Respekt vor der Person des Patienten und seinen Eigenheiten, die Förderung der Autonomie und das Eintreten für eine pflegebedürftige und daher vulnerable Person im Sinne einer „Anwaltschaft“, wenn grundlegende Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben oder berechtigte moralische Ansprüche unterzugehen drohen.
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Die Gestaltung einer zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient*in gehört zum Wesen guter Pflege. Vergleicht man dieses Ziel mit den Anforderungen und Strukturen des Leistungserfassungssystems LEP, so fällt ins Auge, dass eine auf psychosoziale und existentiell-spirituelle Bedürfnisse gerichtete pflegerische Fürsorge im Rahmen einer digitalen Leistungserfassung nicht abgebildet wird. Weil die meisten digitalen Pflegedokumentationssysteme auf der LEP aufbauen, bedeutet dies, dass digitale Systeme in der Pflege tendenziell zur Verengung des Pflegeverständnisses beitragen und damit einem „ganzheitlichen“ Verständnis beruflicher Pflege, wie es seit den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum ausgearbeitet worden ist, zuwiderlaufen.
12 Dass faktisch in der professionellen Pflege der zentrale Bestandteil der Beziehungsarbeit oftmals zurückgestellt wird oder aus Personalmangel zurückgestellt werden muss, sollte nicht in digitalen Systemen der Pflegeplanung und Pflegedokumentation repliziert werden.
2016 kritisierte auch der Deutsche Ethikrat, dass eine Pflege zurückgedrängt werde, die ihre Hilfe- und Sorgemaßnahmen auf den ganzen Patienten ausrichte. Die Pflegearbeit werde zunehmend durch betriebswirtschaftliche Instrumente wie etwa das Scoring-Verfahren TISS
13 gesteuert, mit dem sich „medizinisch-technische Maßnahmen deutlich besser abbilden lassen als zeitaufwendige Pflegearbeit (zum Beispiel, einen Patienten in den Arm zu nehmen, Gespräche zu führen, […] mit eventueller Luftnot umzugehen) […]“ (Deutscher Ethikrat
2016, S. 80).
Wenn digitale Systeme ein wesentliches Merkmal beruflicher Pflege nicht oder nur rudimentär erfassen, verändert sich die berufliche Pflege in Bezug auf ihr Betätigungsfeld und ihr Selbstverständnis. Es ist zugegebenermaßen schwieriger, professionelle Tätigkeiten digital zu erfassen, die auf der psychischen und sozialen Ebene angesiedelt sind, also beispielsweise Interaktionen der Anteilnahme oder des Trostes, Kommunikation zur Gesundheitsbildung, Gespräche mit anderen helfenden Berufsgruppen oder mit Angehörigen, um etwa soziale oder Freizeitaktivitäten anzuregen.
Darüber hinaus sollte professionelle Pflege – im Rahmen des Möglichen – individuell angepasst erfolgen. Vom Geplanten abzuweichen, ist in den digitalen Systemen grundsätzlich möglich, da bei den geplanten Maßnahmen Begründungen eingegeben werden können für den Fall, dass eine Maßnahme nicht durchgeführt wurde. Auch die spontane Durchführung einer abweichenden Maßnahme ist möglich und kann entsprechend in die Dokumentation eingegeben werden. Entscheidend ist jedoch, ob ein System zu offener Handhabung einlädt oder aber eher einen Mangel an Flexibilität mit sich bringt, weil es lediglich bestimmte Diagnose- und Handlungskorridore vorgibt (Hübner
2010; Hülsken-Giesler
2016).
Ein Vorteil digitaler Systeme besteht darin, dass pflegewissenschaftliche Erkenntnisse zur Ermittlung der Pflegeziele und Vorschläge für entsprechende Pflegemaßnahmen hinterlegt sind und von Pflegekräften abgerufen werden können. So lassen sich auf Dauer ein einheitlicher Kenntnisstand und ein normiertes Pflegeniveau etablieren. Damit erhalten insbesondere nicht optimal aus- und fortgebildete Pflegende die Möglichkeit, aus fachlich richtigen Maßnahmen auszuwählen. Allerdings gibt es auch hier Grenzen: Schon auf die fachliche Korrektheit der Durchführung hat das System keinen Einfluss mehr. Außerdem können Pflegekräfte nur Verantwortung tragen, wenn sie ein digitales System überschauen und souverän bedienen können. Dazu bedarf es neben EDV-Fortbildungen einer verständlichen und übersichtlichen Aufbereitung der Daten und Entscheidungsprozesse.
Des Weiteren kann die Einführung eines digitalen Dokumentationssystems Ausdruck der Verantwortung einer Institution für die Sicherung der Pflegequalität sein. Allerdings lassen sich ohnehin schon problematische institutionelle Bedingungen auf diese Weise nicht kompensieren. Zudem setzen digitale Dokumentationssysteme – meist nur implizit – auf das Funktionieren bestimmter Umgebungsbedingungen. Diese müssten jedoch deutlich gemacht werden, um bei Nicht-Vorliegen wichtiger Voraussetzungen reagieren zu können. Im Falle eines andauernden Fachkräftemangels beispielsweise wäre der Einsatz eines digitalen Dokumentationssystems unter Umständen generell zu hinterfragen, weil die Expertise zum angemessenen Einsatz des Systems fehlt; oder aber das Programm wäre an den Kenntnisstand der gering qualifizierten Kräfte und die reduzierten Möglichkeiten anzupassen.
Grundsätzlich können digitale Systeme stets nur
ein Baustein angemessener pflegerischer Versorgung sein. Gute, verantwortungsvolle Pflege bedarf institutioneller Rahmenbedingungen, die dies ermöglichen. Dazu zählen ein förderliches Arbeitsumfeld (angemessener Personalschlüssel, ausreichend Sachmittel), eine gute Teamkultur sowie Freiräume für Reflexion und kollegiale Beratung.
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Tendenz zur Verengung des Pflegeverständnisses
Durch die Notwendigkeit der Operationalisierung besteht die Tendenz, dass Pflegehandlungen, die sich nicht so leicht operationalisieren lassen, nicht in den „Leistungskatalog“ eines digitalen Systems überführt werden. Alle digitalen Systeme fokussieren auf abgrenzbare Pflegetätigkeiten und sind somit versorgungsorientiert. So lassen sich Informationsgespräche, was Umfang und Zweck anbelangt, relativ gut erfassen. Gespräche über das Gesundheitsverhalten oder Gespräche über das Befinden und die Lebensperspektive, die Anteilnahme und Erleichterung vermitteln können, sind hingegen weniger gut erfassbar. Zwar können Gespräche mit Patient*innen mit Zeitwerten erfasst und die Inhalte im frei zu formulierenden Verlaufsbericht dokumentiert werden. Faktisch liegt der Fokus bei den digitalen Systemen jedoch auf Informationsgesprächen, obwohl auch begleitende, ermutigende und tröstende Gespräche zum Wesenskern der Pflege gehören. Da sie oft während der Durchführung anderer Pflegemaßnahmen erfolgen, werden sie von den Pflegenden selbst häufig nicht als eigenständige Tätigkeit wahrgenommen. Es wäre jedoch wünschenswert, begleitende Gespräche als feste Kategorie im System vorzusehen, da sie nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und dies auch so bleiben sollte.
Zwar beanspruchen Software-Entwickler*innen nicht, Pflege umfassend abzubilden; dies wäre angesichts der Vielfalt von Pflegediagnosen und Pflegetheorien auch unrealistisch. Jedoch greift die naheliegende Neigung digitaler Erfassungssysteme, angesichts unterschiedlicher Pflegeverständnisse und Leistungserstattungen vorzugsweise einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zugrunde zu legen, zu kurz. Hinzu kommt, dass ein ausgearbeitetes, wissenschaftlich fundiertes System bei den Anwender*innen häufig den Eindruck erweckt, dass die gesamte zu leistende Pflege darin abgebildet sei. Die Wahrnehmung dessen, was Pflege ausmacht, könnte sich also sich bei einem breitflächigen Einsatz von stark auf eine somatische Versorgung ausgerichteten Dokumentationssystemen verändern. Die Kleinteiligkeit und hohe Anzahl der hinterlegten Items suggeriert Präzision, kann aber auch den Blick für eine ganzheitliche Wahrnehmung der Patent*innen verstellen.
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Insofern ist es von zentraler Bedeutung für das pflegerische Selbstverständnis und für das Handeln vor Ort, welche Leistungsaspekte bzw. Pflegeaufgaben ein digitales System abfragt. Werden diejenigen Pflegeleistungen, die sich mit einem vorgegebenen Programm nicht oder nur über besondere Aktionen, etwa über Freitext oder Anhänge, dokumentieren lassen, auf Dauer erhalten bleiben oder mit der Zeit in Vergessenheit geraten? Ähnlich wie bei „Checklisten“ besteht die Tendenz, dass das, was nicht abgefragt wird, weder ausgeführt noch vermisst wird.
Transparenz des Gegenstandsbereiches Pflege
Die Vorteile digitaler Pflege-Dokumentationssysteme liegen auf der Hand: Sie machen Pflegeleistungen gut nachvollziehbar, unterstützen die Einheitlichkeit des Vorgehens und damit die Sicherheit von Patient*innen und gewährleisten die Auswahl von Pflegediagnosen und -maßnahmen entsprechend dem Stand der pflegewissenschaftlichen Forschung. Darüber hinaus bieten sie Vernetzungsmöglichkeiten in Bezug auf medizinische Informationen (auch zwischen verschiedenen Institutionen) und können Grundlage für Personalbedarfsplanung und Abrechnung der Pflegeleistungen sein.
Ein wichtiger Vorteil dieser Systeme ist vor allem ihr Beitrag zur Transparenz des Pflegehandelns. Das Pflegehandeln wird durch die digitale Dokumentation nachvollziehbarer und sichtbarer. Dies kann das berufliche Selbstbewusstsein der Pflege und ihre Anerkennung fördern. Transparenz des „Gegenstandsbereichs“ ist für alle Beteiligten von Vorteil: Sowohl die Kostenträger als auch eine noch zu schaffende Selbstverwaltung der Pflege (über Pflegekammern)
16 werden sich dafür interessieren, inwieweit digitale Systeme diejenigen Leistungen zu dokumentieren vermögen, die z. B. im Leistungsspektrum der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen enthalten sind.
Die Klärung dessen, was Pflege ausmacht, und die Frage möglicher Ergänzungen digitaler Dokumentationssysteme sind jedoch nicht nur Probleme eines digitalen Systems, sondern auch der Bildung und der Grundhaltung der Pflegenden. Es wird wichtig sein, dass Pflegende in der Aus- und Fortbildung zum kritischen Umgang mit digitalen Systemen befähigt werden, so dass Pflegefachpersonen digitale Systeme nicht überschätzen und deren implizite Steuerungsmechanismen erkennen.
Weil digitale Systeme indirekt normieren, was Pflege ausmacht, sollten Pflegekräfte als Nutzer*innen nicht nur individuell, sondern vor allem als Berufsgruppe diskutieren und regeln, welche erforderlichen Pflegeleistungen zusätzlich zuverlässig erfasst und wertgeschätzt werden sollen. Zu fordern ist daher eine Kern-Software, die sich leicht, d. h. von den Pflegefachkräften einer Institution erweitern lässt, um eine individuell angepasste Pflege zu gewährleisten. Nach Möglichkeit sollten Pflegefachpersonen auf allen Berufserfahrungs- und Hierarchieebenen partizipieren,
17 um Systemzusammenhänge zu erkennen, um struktureller Hilflosigkeit entgegenzuwirken und auch politische Partizipation zu fördern (Wehrstedt und Wiedermann
2020). Außerdem sollten die Systeme unter Mitwirkung und Mitsprache nicht nur von einigen Pflegewissenschaftler*innen, sondern auch von Berufsorganisationen der Pflege
18 entwickelt werden.