Standards erleichtern medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung

Seit zehn Jahren bietet die Initiative „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ betroffenen Frauen eine vertrauliche Spurensicherung. Damit kann auch ein Jahr nach der Tat noch Anzeige erstattet werden. Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung werden, wenden sich häufig nicht an die Polizei. Aus Scham, oder aus Angst vor Repressalien des Täters. Oft bleiben sie auch medizinisch unversorgt, weil sie befürchten, dass andere über ihren Kopf hinweg entscheiden und die Behörden einschalten. Um den Betroffenen dennoch fachlich kompetent und möglichst niedrigschwellig helfen zu können, hat die Beratungsstelle Frankfurter Frauennotruf vor zehn Jahren das Projekt „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ ins Leben gerufen. Kern des Programms ist die vertrauliche Spurensicherung: Die bei den Untersuchungen gesicherten Täterspuren werden dabei ein Jahr lang rechtssicher aufbewahrt. In dieser Zeit können sich die Frauen dann doch noch entscheiden, Anzeige zu erstatten. Dunkelziffer ist hoch Von Beginn an dabei ist Sonja Pilz, seit 2001 Gynäkologin am Klinikum Frankfurt-Höchst. Auch sie hat die Erfahrung gemacht, dass viele Frauen nach einem derartigen Erlebnis keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen. „Die Dunkelziffer ist relativ hoch, auf eine Frau, die sich bei uns meldet, kommen neun, die es nicht tun.“ Haben sich die Opfer dann doch dazu durchgerungen, sich den Medizinerinnen und Medizinern anzuvertrauen, empfänden sie das geschützte Setting in einer Klinik als überaus hilfreich, sagt die Oberärztin. Nicht immer berichten die Patientinnen direkt, was ihnen Schlimmes widerfahren ist. Oftmals kommen sie unter einem Vorwand in die Klinik. In diesen Fällen hilft Sonja Pilz ihre lange Berufserfahrung als Frauenärztin: „Wenn man gut zuhört, findet man schnell raus, worum es eigentlich geht.“ Die meiste sexualisierte Gewalt passiert im privaten Bereich, besonders im scheinbar sicheren Rückzugsort des eigenen Schlafzimmers. Die Täter sind in den wenigsten Fällen Fremde, sondern Freunde, Bekannte, Ex-Partner oder die eigenen Ehemänner. Angestoßen wurde das Modellprojekt im Jahr 2013 durch eine Anfrage des Frankfurter Stadtparlaments, das sich nach der medizinischen Versorgung von Opfern sexualisierter Gewalt erkundigt hatte. Mittlerweile ist daraus eine bundesweite Initiative mit rund 40 angeschlossenen Krankenhäusern aus vier Bundesländern entstanden. Mehr als 1.100 Frauen wurden in den vergangenen zehn Jahren darüber versorgt. Ein Drittel erstattet Anzeige In Frankfurt beispielsweise, wo sich acht Kliniken an dem Projekt beteiligen, nutzten im vergangenen Jahr 72 Betroffene die vertrauliche Spurensicherung, 2021 waren es 55. Etwa ein Drittel entscheide sich dann doch dafür, den Vorfall innerhalb eines Jahres zur Anzeige zu bringen, sagt die Ärztin. Danach werden die Proben und Befunde automatisch vernichtet. Über diese festgelegten zwölf Monate werde immer wieder diskutiert. Für die Oberärztin ist das jedoch ein ausreichender Zeitraum. „Die Frauen wollen schließlich irgendwann abschließen. Haben sie beispielsweise drei Jahre lang Zeit, rechtliche Schritte gegen den Täter einzuleiten, tragen sie das Thema eben auch drei Jahre mit sich herum.“ Finanzierung Seit dem 1. März 2020 übernehmen gesetzliche Krankenversicherungen die Finanzierung der vertraulichen Spurensicherung für Betroffene von sexualisierter und körperlicher Gewalt (SGB V § 27 und § 132k). Künftig soll eine vertrauliche Spurensicherung nach erlebter Gewalt einschließlich Dokumentation, Laboruntersuchungen und Aufbewahrung der Befunde finanziert werden. Dieses Gesetz muss noch auf Länderebene umgesetzt werden, in einigen Bundesländern wurden entsprechende Regelungen bereits getroffen. In Niedersachsen beispielsweise soll die Landesförderung für das Netzwerk ProBeweis im kommenden Jahr um rund ein Drittel auf 410.000 Euro aufgestockt werden. Über ProBeweis können Betroffene an 45 Standorten anonym und kostenlos Spuren von Ärztinnen und Ärzten sichern lassen. Um den Prozess rechtssicher zu etablieren, entwickelten Ärzte und Rechtsmediziner im Vorfeld gemeinsam mit den Behörden entsprechende Standards. „Früher hatte ich immer mal wieder Täterproben in meinem Schrank, die allerdings nicht als Beweismittel geeignet waren“, berichtet Sonja Pilz im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. „Nun bin ich natürlich sehr froh, dass es dafür festgelegte Vorgehensweisen gibt.“ Spuren werden nicht nur im Intimbereich gesammelt, immer wieder findet sich auch in Bisswunden oder an der Kleidung fremdes Material. Das dafür notwendige Spurensicherungskit stellt die Initiative zur Verfügung. Wichtig: Spuren sind nicht nur bei einer Strafverfolgung des Täters von Bedeutung, sondern auch bei eventuellen Schmerzensgeld- oder Schadensersatzforderungen. Einzigartige Nachsorge Einzigartig macht das Projekt auch die breit aufgestellte Nachsorge – sowohl medizinisch als auch psychosozial. Es gibt ein breites Netzwerk aus Hilfeeinrichtungen und über das Projekt informierte Arztpraxen. Was nach der Untersuchung passiert, hängt zunächst vom Zustand der Patientinnen ab. Sind sie in der Lage nach Hause zu gehen oder so stark traumatisiert, dass ein stationärer Aufenthalt nötig ist? Können sie entlassen werden, kommen die Mitarbeiterinnen des Frankfurter Frauennotrufs zum Einsatz. Sie kümmern sich um die Patientinnen, vermitteln traumatisierten Opfern psychologische Betreuung oder auch eine Rechtsberatung. „Früher hatte ich manchmal Sorge, die Frauen nach unserer Untersuchung alleine nach Hause zu schicken. Nun weiß ich sie in guten Händen“, betont Pilz. „Die Zusammenarbeit mit dem Frauennotruf ist wirklich Gold wert.“ Für die medizinische Nachsorge sind niedergelassene Gynäkologen zuständig, die teilweise früher auch selbst an einer der beteiligten Kliniken beschäftigt waren und mit dem Projekt vertraut sind. Sie übernehmen im Rahmen der Infektionsdiagnostik notwendige Folgeuntersuchungen, prüfen also beispielsweise auf HIV, Hepatitis oder Chlamydien. Grundsätzlich werden alle Ärztinnen und Ärzte der Initiative umfassend vorbereitet. Die standardisierten Prozesse sind in Leitfäden niedergelegt, alle Handlungsschritte detailliert aufgeführt. Spezielle Dokumentationsbögen sollen Handlungssicherheit geben. Einmal im Jahr gibt es außerdem zertifizierte Fortbildungen, in denen die Teilnehmer für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisiert werden. Alle Dokumente werden laufend aktualisiert. Finanzierung ist geregelt Fachliche Begleitung erhalten auch die Kommunen und Landkreise, die das Versorgungsmodell implementieren wollen, so gibt es beispielsweise umfangreiches Kampagnenmaterial. Für Bekanntheit soll Schirmherrin und Autorin Susanne Fröhlich sorgen. Das Projekt wurde mit dem Förderpreis 2023 des Fonds der Arzneimittelfirmen Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland ausgezeichnet. Die Finanzierung ist in Hessen ebenfalls geregelt: Das Hessische Sozialministerium zahlt derzeit pauschal 200 Euro pro Frau. Ein Meilenstein findet Sonja Pilz, denn mit der geltenden Notfallpauschale ließen sich die Kosten für das gesamte Prozedere auf gar keinen Fall abdecken. Sonja Pilz ist überzeugt: „Der Vernetzungsprozess entlastet nicht nur das medizinische Personal, sondern erleichtert auch den Frauen und Mädchen, sich zu offenbaren.“ Ein weiterer Vorteil sei, dass durch das strukturierte Vorgehen eine unheimlich gute Dokumentationsgrundlage geschaffen werde. Quelle: Ärzte Zeitung

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