Chronischer Schmerz führt zum Verlust von Alltagsgewohnheiten und Freizeitaktivitäten, geht oft mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch von sozialen Kontakten einher, verändert die sozialen Rollen in der Familie oder im Freundeskreis. Selbstwert- und Identitätserleben geraten ins Wanken, weil Vorstellungen und Lebensziele, auf deren Verwirklichung die Betroffenen hingelebt haben, womöglich (so) nicht mehr erreichbar sind. Erfahrungen dieser Art gehören zu den existenziellen Herausforderungen chronischer Schmerzen. Mit diesem Begriff wird die Konfrontation mit Gegebenheiten unserer Existenz umschrieben, denen wir nicht entkommen können und für die wir keine Lösungen haben. Irvin D. Yalom [
51] spricht in diesem Zusammenhang, angelehnt an Paul Tillich [
46], von den „ultimate concerns of life“, zu denen insbesondere Tod, Isolation, Freiheit und Sinnlosigkeit gehören. Auch wenn chronisch schmerzkranke Menschen meist nicht von einem unmittelbar bevorstehenden Tod bedroht sind, so sind sie doch betroffen von Einsamkeit, Autonomieverlust und Sinnlosigkeit. Aus der Doppelperspektive einer Ärztin, die selbst zur betroffenen Patientin geworden ist, beschreibt Petrow [
37, S. 190], wie sich die Konfrontation mit einer existenziellen Herausforderung anfühlen kann: „Mein inneres Koordinatensystem entsprach nicht mehr der aktuellen Situation. […] Woran […] konnte ich mich in mir selbst und in der Außenwelt (weiterhin) orientieren? Auf welche Eigenschaften konnte ich vertrauen, welche Fähigkeiten würden zurückkehren?“ Chronischer Schmerz ist keine vorübergehende Krankheit, die ohne Weiteres wieder in den eigenen Lebensverlauf integriert werden kann. Durch die anhaltende Omnipräsenz der Schmerzen sowie durch die Tatsache, dass sie in ihrer Intensität und in ihrem Aufkommen nicht immer gleichbleibend sind, wird der Umgang mit ihnen zu einer lebenslangen Aufgabe. Zu realisieren, dass ein Schmerzleiden chronisch ist und die gesamte weitere Lebenszeit (mit)bestimmen wird, ist ein radikaler Einschnitt in die eigene Lebensplanung. Plötzlich wird das Leben selbst fragmentiert wahrgenommen, geteilt in ein
Vorher und ein
Nachher, ähnlich der Situation nach einem schweren Unfall oder dem Verlust eines nahestehenden Menschen [
37]. Gelebte Selbstverständlichkeiten werden erschüttert, die bislang zum kohärenten Selbstbild gehört haben: „[T]here’s an adaptation period […] which is extremely […] painful where it does feel as if your life is over. […] That seems like just running into a dead end entirely and you can’t see a way out“ (CP 31, w, 41 J., [
22]). Der Weg aus dieser Sackgasse heraus führt nur über eine Neuorientierung: „Forget what you used to do. Forget how life used to be. Plan for a new and different, and equally rewarding life“ (CP 32, m, 57 J., [
22]). Solche und ähnliche Selbstreflexionen, in denen sich Erkrankte deutend mit der eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen, stellen Versuche dar, angesichts der erlebten Brüche im eigenen Leben auf neue Weise Kohärenz zu stiften.
Geht man von Selbstaussagen Betroffener in Interviews [
22,
31] und Autobiographien (z. B. [
12,
19]) aus, so zeigt sich der existenzielle Charakter chronischer Schmerzen v. a. an zwei Aspekten: zum einen an der
Verzweiflung am Schmerz, zum anderen an
Fragen der Sinngebung und Neuorientierung. Exemplarisch für den Aspekt der Verzweiflung sind die Worte der Malerin Frida Kahlo [
26, S. 69]: „… weil mir zu Hause niemand glaubt, dass ich wirklich krank bin. Ich darf nicht einmal davon sprechen, […] . Und so bin ich ganz alleine in meinem Leid und meiner Verzweiflung.“ Den Aspekt der Neuorientierung beschreibt eine Patientin so: „And I think that gradually over time it’s taken […] a couple of years for me to kind of properly get my life back and I feel like now that I have got my life back and although it’s not how I’d like it to be and I feel like I’m suffering […,] I am living the life that […] I almost would have led before“ (CP 16, w, 25 J., [
22]).
In Theorie und Praxis der Schmerztherapie wird insbesondere der erstgenannte Aspekt der
Verzweiflung am Schmerz selten erwähnt. Für das Leiden von Menschen angesichts der Erkenntnis, dass ein Teil ihres Ichs gebrochen oder gestorben ist, gibt es im Rahmen multimodaler Schmerztherapie kaum Raum. Der Schwerpunkt liegt auf einer möglichst frühzeitigen „Analyse und Modifikation dysfunktionaler Kognitionen“ sowie auf der „Anpassung körperlicher und sozialer Aktivitäten“ [
13, S. 358, 356]. Der Blick der Behandelnden ist nach vorn auf die Zukunft gerichtet. Der Blick der Erkrankten dagegen verweilt noch in der Vergangenheit – bei dem, was sie verloren haben. Da die Chronifizierung von Schmerz schmerzpsychologisch v. a. mit dem Vorliegen dysfunktionaler Überzeugungen und Verhaltensweisen erklärt wird [
20], besteht die Gefahr, dass Äußerungen der Verzweiflung und Trauer mitunter vorschnell pathologisiert, d. h. als Ausdruck unzureichender Krankheitsverarbeitung, als Anpassungsstörung, beschrieben werden. Eine Störung meint man, therapieren zu können. Dem existenziellen Leiden schmerzkranker Menschen aber weiß man zunächst nichts entgegenzusetzen – eine Erfahrung, die nicht zuletzt auch viele Therapeutinnen und Therapeuten als belastend erleben. Im Folgenden wollen wir deshalb kurz umreißen, wie Betroffene dabei unterstützt werden können, den Herausforderungen durch ihren Schmerz zu begegnen.