GFR im Alter: Haben wir die richtigen Normwerte?

Der altersbedingte renale Funktionsverlust ist ein normales biologisches Phänomen. Dieser physiologische Sachverhalt wird durch fixe Normwerte nicht abgebildet. Altersadaptierte Werte könnten helfen Fehldiagnosen zu vermeiden. Der fixe GFR-Schwellenwert als singuläre Definition der Niereninsuffizienz ist nicht mehr zu halten, meint Professorin Elke Schäffner (Charité Berlin). Eine errechnete GFR im Bereich 59–45 sollte beim alten Menschen nach heutigem Kenntnisstand nicht als pathologisch gelten, sofern keine Albuminurie vorliegt. Die “60-ziger Schwelle” ist demnach als historisches Relikt anzusehen und beruht auf veralteten Daten aus dem Jahr 1969, so die Berliner Expertin. Sie kritisiert damit die offizielle von der KDIGO herausgegebene Stufeneinteilung der Niereninsuffizienz anhand der geschätzten GFR und der Albuminurie (1). Gleich zwei Fehler liegen dem Fixwert zugrunde. Zum einen zeigen aktuelle Daten, dass die eGFR für junge gesunde Menschen nicht bei 120, wie ursprünglich vermutet, sondern eher bei 100 ml/min anzusiedeln ist. Zum anderen belegt eine Studie aus 2016, dass die GFR erst ab einem Bereich von 30-44 ml/min ein signifikantes Progressionsrisiko zur Dialysepflicht indiziert (2). Professorin Schäffner geht deshalb davon aus, dass eine eGFR von 45-59 ml/min ohne Albuminurie im Alter nur in weniger als einem Prozent der Fälle eine Progression Richtung Dialyse indiziert. Diese Befunde relativieren zudem Alarmmeldungen über immer mehr chronische Nierenerkrankungen. Nach heutigem Verständnis werden biologische Funktionsparameter besser altersabhängig definiert. Was für die Lungenfunktion gilt, sollte auch für die Nierenfunktion gelten, so Schäffner. Eine These, die auch durch die Ausführungen von Prof. Dr. Roland Schmitt untermauert wird. Er verweist auf das typische morphologische Muster der Nierenalterung, dass sich wesentlich von der akuten nephrotoxischen Schädigung unterscheidet. Biopsiebefunde belegen, dass mit zunehmendem Alter die kapselnahen Regionen degenerieren, während bei Erkrankungen die gesamte Rinde gleichmäßig betroffen wird. Den Kompensationsmechanismus der Hyperfiltration, der Nierenerkrankungen auszeichnet, fehlt der Altersniere. Der Alterungsprozess lässt sich auch in Zahlen fassen: Durch eine Biopsiestudie bei Lebend-Nieren-Spendern ist bekannt, dass durchschnittlich 7000 Glomeruli pro Jahr, altersbedingt, verloren gehen. Hieraus resultiert eine jährliche Reduzierung der GFR von 0,5 bis 0,8 l/min. Auch wenn dieser Prozess als physiologisch anzusehen ist, gilt es doch die Altersniere vor iatrogenen Noxen zu schützen. Er verweist hier auf den in der Literatur als “Triple Whammy” bekannten Medikamentenmix aus Prostaglandinsynthesehemmer, ACE- oder AT-1-Blocker und Schleifendiuretika. Leider ist diese gefährliche Mischung auch bei betagten Patienten keine Seltenheit. Doch im Alter ist immer Vorsicht geboten, denn die Nieren des alten Menschen können nicht mehr funktionell kompensieren. In der anschließenden Diskussion wird kritisiert, dass die Berechnung der GFR anhand des Serumkreatinins im Alter wahrscheinlich zu ungenaue Werte liefert. Der Kreatininwert hängt zu sehr von der Muskelmasse ab. Die Cystatin C-Bestimmung als Alternative, scheidet aus Kostengründen aus. Ideal wäre ein Routineverfahren zur direkten GFR-Messung, bei minimaler Kontrastmittelbelastung. Ein solches Verfahren wird gerade an der Charité entwickelt und könnte bald klinische Reife erlangen (3). Durch die geringe Kontrastmittelbelastung (Iohexol < 5 ml) eignet sich das Verfahren potenziell auch zur Messung beim alten Menschen. Sollte sich die Methode etablieren, ergeben sich unter Umständen überraschende, neue Erkenntnisse und Bewertungen zur Nierenfunktion des alten Menschen. Literatur (1) https://www.kidney-international.org/article/S0085-2538(20)30718-3/fulltext?rss=yes (2) Denic A, Glassock RJ, Rule AD. Structural and Functional Changes With the Aging Kidney. Adv Chronic Kidney Dis. 2016;23(1):19-28. doi:10.1053/j.ackd.2015.08.004 (3) Eriksen, Bjørn O., et al. "GFR in Healthy Aging: an Individual Participant Data Meta-Analysis of Iohexol Clearance in European Population-Based Cohorts." Journal of the American Society of Nephrology (2020). Quelle: 12. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (2020), Berlin. Seminar: Niere und Alter

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