Müller-Ladner: Ein Jahr bis zur Diagnose Rheumatoide Arthritis ist zu lang

Auf typische Symptome und Befunde achten, zwei Entzündungswerte bestimmen: „Eigentlich“ ist die Diagnose einer rheumatoiden Arthritis relativ einfach, sagt Rheumatologe Ulf Müller-Ladner. Der DGIM-Kongresspräsident spricht im Interview über Entzündungsprozesse im Körper – und was dagegen möglich ist. Herr Professor Müller-Ladner, Sie sind Rheumatologe und als jemand bekannt, der sehr an grundlagenwissenschaftlichen Themen interessiert ist. Eine Erkenntnis der Rheumaforschung aus den vergangenen Jahren ist, dass die Autoimmunität, etwa bei rheumatoider Arthritis, der Entzündung um Jahre vorausgeht. Lassen sich daraus Konsequenzen ableiten? Wir wollen eine Erkrankung erkennen, um therapeutisch eingreifen zu können, bevor irreversible Organschäden entstehen. Wenn wir bei rheumatoider Arthritis noch durchschnittlich ein Jahr und bei Spondyloarthropathien oft mehrere Jahre bis zur Diagnose brauchen, besteht eindeutig Verbesserungsbedarf. Wir müssen dahin kommen, versteckte Symptome wie unspezifisches Unwohlsein, immer mal Fieber, topische Hauterscheinungen oder merkwürdige Laborauffälligkeiten schneller als bislang richtig zu interpretieren und die Diagnose zu sichern. Wenn die Autoimmunität der Entzündung um Jahre vorausgeht, stellt sich die Frage: Wann und wie fange ich an zu suchen und lässt sich in sehr frühem Stadium eine Diagnose tatsächlich per definitionem sichern? Alles, was innerhalb von ein bis zwei Wochen verschwindet, dürfte mit einer Rheumadiagnose nichts zu tun haben. Aber immer, wenn die körperliche Leistungsfähigkeit reduziert ist, wenn Symptome nach zwei bis drei Wochen nicht verschwunden sind und sich nicht erklären lassen oder wenn Entzündungszeichen im Blut persistieren, dann müssen wir schauen, was Sache ist. Ich meine, dann muss ich die Fragen in den Vordergrund stellen, ob dies alles mit einer beginnenden systemisch-entzündlichen Erkrankung zu tun hat, die chronifizieren könnte. Denn viel länger als zwei, drei Wochen dürfen Reparaturprozesse im Körper nicht dauern. Gibt es denn Strategien, um zum Beispiel eine rheumatoide Arthritis Monate oder Jahre vor Ausbruch der klassischen Symptome zu erkennen? Ja, die gibt es. „Eigentlich“ ist die Diagnose einer rheumatoiden Arthritis (RA) relativ einfach: typische Klinik, zwei Entzündungswerte – fertig! Diagnostische Probleme bereiten jene mit immer mal wieder auftretenden Gelenkschmerzen, die wieder verschwinden, die nicht so recht fassbar sind. Es gibt eine Gruppe von Patienten, die bereits in diesem Stadium hohe Antikörper-Titer, also CCP (zyklisches citrulliniertes Peptid) und Rheumafaktor, aufweisen. In verschiedenen Studien wurden solche Menschen ohne gesicherte Diagnose mit entzündungshemmenden Rheumamedikamenten behandelt. Und das hat tatsächlich funktioniert! Wir tun also so, als wüssten wir, was passieren wird und behandeln – natürlich ... leider noch ... off-label. Und das ist im Moment noch das Problem: Wir benötigen Instrumente, um die Diagnose vorzuterminieren. Dazu laufen Validierungsstudien. Aber es ist durchaus schwierig. Was ist schwierig? Man stelle sich vor, es treten Therapie-assoziierte Komplikationen auf. Wie lässt sich die Behandlung dann rechtfertigen? Auf der anderen Seite sehe ich zum Beispiel eine junge Frau mit rechtsbetonten morgendlichen Gelenkschmerzen der Hände, die mit Analgetika und etwas Kortison behandelt wird, das Kernspintomogramm ergibt nichts, aber die Antikörper-Titer sind extrem hoch. Nach heutigem Verständnis ist das noch keine RA. Ich habe eine solche Patientin schon behandelt, als hätte sie eine RA. Später stellte sich heraus: Ich hatte recht. Unter der Therapie traten jedoch bereits unerwünschte Wirkungen auf. Bei einer anderen Frau habe ich es ebenso gehandhabt: alle Symptome verschwanden. Nach anderthalb Jahren kamen die Symptome nach Pausierung der Medikation doch wieder – diesmal umso schneller. Eine andere, noch relativ junge Erkenntnis ist, dass scheinbar unterschiedliche Erkrankungen eine gemeinsame Wurzel haben können wie bei IgG4-assoziierten Autoimmunerkrankungen. Das erinnert an Grimms Märchen vom tapferen Schneiderlein, das angeblich sieben auf einen Streich erledigen konnte. Können Sie das bei IgG4-assoziierten Krankheiten nun auch? Ja, wenn ich die IgG4-assoziierte Erkrankung entsprechend behandle, greift diese Therapie ja an allen pathophysiologisch relevanten Stellen an. Es gibt bei dieser Gruppe von Autoimmunerkrankungen, die zunächst unerklärliche Symptome in allen möglichen Körperregionen haben und die von der Augenheilkunde und HNO über alle internistischen Schwerpunkte hinweg bis hin zur Orthopädie als Erstes vorstellig werden können, meist ein führendes Organ, das betroffen ist. Es kann aber sein, dass die Autoantikörper noch an weiteren Stellen des Körpers aktiv sind. Bei der Sarkoidose und beim Lupus erythematodes ist es ähnlich. Auch enteropathische Arthritiden, also die extraintestinalen Manifestationen einer chronisch-entzündlichen Darmkrankheit an den Gelenken, machen uns therapeutisch teils Probleme. Es ist daher wichtig, als Internist bei Patienten mit entzündlichen Erscheinungen stets den ganzen Körper in den Blick zu nehmen, uns zu fragen, ob der Lokalbefund nicht Teil eines umfassenderen, systemischen Geschehens ist. Daher haben wir beim diesjährigen Internistenkongress ja auch das Kongressmotto „Systemisch denken, individuell therapieren“ gewählt. Nun versuchen Rheumatologen zunehmend spezifisch in die immunologische Pathophysiologie einzugreifen. Andererseits sind biologische Systeme meist redundant ausgelegt. Ist die immer spezifischere Therapie die richtige Strategie? Ja, denn die spezifischere Therapie ist vergleichsweise weniger nebenwirkungsbehaftet. Ist die Behandlung selektiv genug, fallen die anderen Mitspieler im Entzündungsprozess wie Dominosteine. Das ist ein bisschen so, als wenn Sie einem Orchester die Dirigentin oder den ersten Geiger wegnehmen. Das „Entzündungsorchester“ kann nicht mehr spielen. Das heißt, es kommt nicht vor, dass bei Blockade des einen Entzündungsmechanismus ein anderer Mechanismus greift, der den pathologischen Prozess weiter am Laufen hält? Das kann leider auch passieren, wenn entsprechend aktive Entzündungsspieler aktiv bleiben oder, um im Bild zu bleiben, der zweite Geiger des Orchesters zum ersten Geiger aufsteigt. In solchen Fällen müssen wir einen anderen therapeutischen Weg nehmen. Und glücklicherweise stehen uns dafür heute ja eine Palette an Instrumenten zur Verfügung. Eine logische Schlussfolgerung wäre die kombinierte Blockade verschiedener Entzündungsmechanismen ... Ja, nur kann das in voller Dosierung solcher Kombinationspartner zu einer immunologischen Trägheit führen, die Infekte begünstigt. Deshalb traut sich niemand so recht, Biologika zu kombinieren. Wir wissen aber, dass es funktionieren kann. Ab und zu kombinieren wir auch. Das sind aber Einzelfallentscheidungen. In den letzten Jahren gibt es zunehmend antifibrotische Therapieansätze, etwa bei systemischer Sklerose oder bei fibrosierenden Lungenerkrankungen. Lässt sich denn ein fibrotischer Gewebeumbau wieder rückgängig machen? Rückgängig machen lässt sich ein fibrotischer Umbau nicht. Narbe bleibt Narbe! „Antifibrotisch“ heißt, dieser Prozess lässt sich aufhalten. Würden diese Medikamente den fibrotischen Umbau rückgängig machen können, würde kein Knochenbruch mehr heilen oder eine gerissene Sehne nicht wieder zusammenwachsen. Der Punkt ist: Wie weise ich Fibrose nach? Sichern lässt sich das nur histologisch. Was wir in der Bildgebung sehen, ist meistens eine Kombination aus Fibrose und Entzündung. Dränge ich die Entzündung zurück, wird die Bildgebung besser: Ein Strang, der sich bereits formiert hatte, verblasst und ist dann gegebenenfalls nicht mehr zu sehen. Das ist jedoch keine Fibroserückbildung, sondern es handelt sich um einen Schrumpfungsprozess infolge der antiinflammatorischen Wirkung des Medikaments. Welche mittelfristigen Forschungsziele gibt es derzeit in der Rheumatologie? Das Hauptaugenmerk richtet sich im Moment auf die entzündlichen Bindegewebserkrankungen, also auf Myositiden, auf die systemische Sklerose, auch beim Lupus erythematodes tut sich sehr viel. Wir sehen viele Behandlungsansätze, die neu sind. Einige sind bereits zugelassen, ein Interferonhemmer, einige Small Molecules, die genannten Fibrosehemmer. Hinzu kommen ein neuer IgE-Hemmer und neue Komplementhemmer. Kurz: Verschiedene Zielstrukturen wurden inzwischen mit medikamentösen Wirkstoffen versorgt, die nun eingesetzt werden können. Und in grundlagenwissenschaftlicher Hinsicht ...? ... setzen sich Forschende mit den Ursachen der Chronizität auseinander, etwa mit der Frage: Was treibt Chronizität an? Im Moment können wir häufig nur Messwerte aus dem Blut erheben und daraus schließen, was gerade Sache ist, Proben aus sensitiven Organen wie zum Beispiel der Aorta, dem Lungenparenchym oder kleinen Gelenken zu entnehmen, ist nicht wirklich realistisch. Die Tendenz geht jedoch dahin, dass wir früher und intensiver als bislang in Krankheitsprozesse eingreifen, um damit Chronizität zu verhindern. Das gilt letztlich für alle chronisch-entzündlichen Erkrankungen. Um nicht missverstanden zu werden: Im besten Falle erreichen wir die Remission und können Medikamente ausschleichen, manchmal vielleicht auch absetzen. Das kann ein reelles Therapieziel sein, wobei alle Beteiligten viel Geduld brauchen. Schnell geht das nicht und die chronische Entzündung bleibt natürlich, denn das Immunsystem ist ja noch da. Das heißt, die Notwendigkeit einer lebenslangen Therapie berührt das nicht? Heilung gibt es nicht. Wir müssen das den Patienten richtig vermitteln. Wenn wir ihnen sagen: „Ich weiß, was Sie haben und ich weiß, wie wir es behandeln können“, dann ist vielen Patienten schon sehr geholfen. Denn zuvor ging es ihnen nicht gut und niemand wusste, warum. Sobald wir der Krankheit einen Namen geben, wird vieles einfacher: Man hat eine gemeinsame Arbeitsgrundlage und manches lässt sich leichter ertragen als zuvor. Ich erkläre das so: Wer zuerst die Geduld verliert, der hat verloren – der Patient oder eben die Krankheit. Vertreter anderer internistischer Disziplinen schauen gerne: Was machen eigentlich die Rheumatologen in dieser oder jener Entzündungssituation? Welche Bedeutung hat die Rheumatologie für andere Fachgebiete der Medizin? Wir sehen uns als Stimulator und Ideengeber, weil rheumatische Erkrankungen auf Entzündungsprozessen im gesamten Körper beruhen und unsere Forschung darauf ausgerichtet ist, auf diesem Gebiet neue Strategien zu entwickeln. Umgekehrt nehmen wir Rheumatologen aber ebenso gerne neue Ideen anderer Fachgebiete auf. Zum Beispiel sind die Medikamente für Patienten mit Psoriasisarthritis vielfach aus der Dermatologie gekommen. Auch von den Gastroenterologen haben wir manches übernommen, was bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird. Das ist ein guter Austausch und so sollte es auch sein. Beim systemischen Denken sehen wir Rheumatologen uns als Vorreiter, weil dies der Natur unseres Faches entspricht. Salopp gesagt: Manche Patienten sind echte Wundertüten, weil sie hochvariabel Symptome in bestimmten Sequenzen bieten, so dass sich selbst mit Erfahrung nicht gleich erkennen lässt, was dahintersteckt. Wenn zur bestehenden chronischen noch eine andere Erkrankung hinzukommt, besteht die Gefahr, unberechtigterweise alles in einen Topf zu werfen. Da wird dann zum Beispiel die Tumorvorsorge vernachlässigt und plötzlich ist man mit einem völlig anderen Problem konfrontiert. Wachsamkeit ist also gefragt bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Krankheiten. Und dabei kommt Ihnen systemisches Denken zugute ... Das kann anstrengend sein, weil wir uns nicht auf wenige Körperregionen fokussieren und zurückziehen können. Andererseits macht das unseren Beruf so spannend. Ich kann mich an keine einzige Woche in meinen über 30 Arbeitsjahren erinnern, in der nicht irgendetwas Neues aufgetaucht wäre in der Rheumatologie. Ich darf sagen: Als Rheumatologen wird es einem grundsätzlich nie langweilig! Professor Müller-Ladner, vielen Dank für das Gespräch! Professor Ulf Müller-Ladner Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) 2022/23. Ärztlicher Direktor der Abteilung für Rheumatologie und Klinische Immunologie der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim. Leiter und Koordinator zahlreicher Forschungsprojekte auf dem Gebiet chronisch entzündlicher rheumatischer Erkrankungen, vor allem der rheumatoiden Arthritis, der systemischen Sklerose und zur pathophysiologischen Rolle von Fibroblasten, Adipokinen und weiteren Faktoren. Alle Beiträge vom DGIM-Kongress 2023 finden Sie hier im Dossier zur Veranstaltung. Quelle: Ärzte Zeitung

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