Psychische Probleme: Was ist pathologisch und was nicht?

Rund jeder Dritte entwickelt irgendwann im Leben eine psychische Störung. Dennoch sind die allgemeinen Vorstellungen über psychische Erkrankungen weit weg von dem, was Behandelnde täglich in der klinischen Praxis erleben. Professor Manfred Lütz berichtete auf dem aktuellen DGGPN-Kongress von seinen Erfahrungen. Ohne Zweifel, die Welt ist in den vergangenen Jahren nicht weniger verrückt geworden und in vielen Ländern scheint es wieder modern zu sein, sich von irren oder zumindest verhaltensauffälligen Präsidenten und Potentaten regieren zu lassen: Ein Trump in den USA, ein Bolsonaro in Brasilien, ein Kim Jong Un in Nordkorea oder ein Erdoğan in der Türkei – für den Psychiater, Buchautor und Komiker Professor Manfred Lütz Grund genug, sich erneut in einem Buch über die „neuen Irren“ die Frage zu stellen: Behandeln wir die Falschen? Auf dem aktuellen DGPPN-Kongress versuchte er wieder den ganzen Wahnsinn der Normalen von tatsächlichen psychischen Störungen abzugrenzen. Das, so Lütz, sei zumindest in der Allgemeinbevölkerung dringend nötig: „Die Menschen sind heute über die psychische Situation von Bäumen und Bienen aufgeklärt, wissen aber nichts über ihre psychisch kranke Nachbarin.“ Umgekehrt hielten viele Zeitgenossen Leute für psychisch krank, die sich pudelwohl und kerngesund fühlen. „Ich habe daher den Begriff Narzissmus in unserer Klinik verboten, es sei denn, es werden die DSM-5-Kriterien erfüllt.“ Echte Narzissten litten massiv unter den Auswirkungen ihrer Erkrankung – sie vereinsamen, haben keine Freunde mehr. „Eine Diagnose dient ausschließlich der Behandlung von leidenden Menschen, alles andere ist Missbrauch“, so Lütz. Empfehlung der Redaktion Psychotherapie – Themenseite Die Psychotherapie befasst sich mit der Erkennung und Therapie von psychischen oder psychosomatischen Symptomen oder Erkrankungen. Auf unserer Themenseite finden Sie eine reiche Auswahl an psychotherapeutischen Übersichtsarbeiten, Kasuistiken und Nachrichten. Insofern sei auch der Stadtarchiv-Mitarbeiter aus Castrop-Rauxel ein Fall für die Psychiatrie, wenn er überall herumläuft und sich für den Größten hält, nicht aber ein Kim Jong Un, der in Pjöngjang dasselbe tut. Für einen falschen Eindruck von psychischen Störungen sorgen nicht nur exzentrische Machthaber, sondern immer wieder auch spektakuläre Kriminalfälle. Lütz verwies auf den „Kannibalen von Rotenburg“: „Die Leute denken: Das ist verrückt, das muss man wegbehandeln. Meine Patienten fressen aber keine Menschen, die gehen in die Cafeteria.“ Obwohl ein Drittel der Menschen irgendwann im Leben einmal eine psychische Störung entwickelt, existierten immer noch mittelalterliche Vorstellungen über psychisch Kranke. Existenzielle Krisen – kein Grund für Therapie Dabei werde nicht nur exzentrisches Verhalten pathologisiert, sondern auch Befindlichkeitsstörungen ein Krankheitswert beigemessen. Lütz nahm sich etwa das Burnout vor: „Manche sagen: Ich habe Burnout, ich krieg so einen dicken Hals, wenn ich den Chef sehe. Oder: Mein Problem ist die Arbeit, die macht mir keinen Spaß.“ Hier, so Lütz, habe wohl jemand ein Problem mit der Erwartungshaltung: „80% der Leute macht die Arbeit keinen Spaß, deswegen wird sie ja bezahlt!“ Andere wiederum erhoffen sich in existenziellen Krisen Hilfe von einem Therapeuten: Job verloren, von der Frau verlassen, alles sehr schlimm. Trauer und Verzweiflung sind dann normale Reaktionen. „Da braucht man aber keinen Therapeuten, sondern einen guten Freund oder eine Freundin. Alle denken immer, Psychotherapeuten haben viel Lebenserfahrung. Aber woher denn? Wir haben dicke Bücher gelesen und verbringen viele Jahre in muffigen Räumen. Mit schweren Lebenskrisen sollte man also nicht zum Therapeuten gehen, sondern besser zu einem alten Mütterchen ohne Abitur, aber mit viel Erfahrung.“ An Psychotherapeuten würden oft Heilserwartungen gerichtet, die sie nicht erfüllten. „Wir können Patienten mit manifesten psychischen Störungen behandeln, aber nicht Lebenskrisen.“ Zu den falschen Erwartungen zählt für Lütz auch die Vorstellung, dass jemand nach einer Therapie ein für allemal von der Depression befreit ist. „Wenn es jemandem nach der Behandlung bessergeht und er sagt, was habe ich nur für blöde Gedanken gehabt, dann ist er geheilt. Das heißt natürlich nicht, dass die Depression nie wiederkommt. Wenn jemand eine Grippe auskuriert hat, geht er ja auch nicht davon aus, dass er nie wieder krank wird.“ Psychotherapeuten müssten ihr Licht also nicht unter den Scheffel stellen, sondern sollten ihre Disziplin selbstbewusst vertreten. Empfehlung der Redaktion Berichte vom hybriden DGPPN-Kongress Das Dossier zum Psychiatrie-Kongress 2021 Warum sind Wut, Neid und Eifersucht zu Unrecht verpönt? Wie ist das Intensivpersonal psychisch durch die Pandemie gekommen? Und was haben Personen, die an einer Paranoia leiden und Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, gemeinsam? In unserem Dossier finden Sie unsere Highlights vom DGPPN-Kongress. Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 24.–27.11.2021. Lecture L-12: Manfred Lütz: Neue Irre – Wir behandeln die Falschen.

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