Injectables – noch lange nicht von gestern

Eine viel beachtete Debatte anlässlich des ECTRIMS 2019 befasste sich mit dem Thema, ob Beta-Interferone (IFN) und Glatirameracetat (GLAT) heute noch eine geeignete Therapie bei aktiver schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS) darstellen. Die Antwort lautete am Ende mehrheitlich „Ja!“. Die Abstimmung der Teilnehmer zu Beginn der Debatte ergab zunächst ein anderes Bild: Etwa 60% zweifelten daran, ob die altbewährten injezierbaren MS-Therapeutika noch eine Berechtigung als initiale Therapie bei aktiver RRMS haben. Am Ende waren aber 56% davon überzeugt, dass IFN und GLAT zu recht immer noch in Leitlinien als Erstlinientherapeutika genannt werden. Den Stimmungswandel führte Magd Zakaria von der Universität Kairo unter anderem mit der Besinnung auf statistisches Grundlagenwissen herbei. Die häufig angeführte relative Risikoreduktion (RRR) für Schübe im Vergleich zur Placebogruppe erscheint mit etwa 30% in Zulassungsstudien der Injectables deutlich hinter dem zurückzubleiben, was neuere Substanzen in placebokontrollierten Studien erreicht haben. Natalizumab kam in der AFFIRM-Studie auf eine RRR von Schüben von 68%, Cladribin in der CLARITY-Studie auf eine RRR von Schüben von 58% und auch Fingolimod und Dimethylfumarat (DMF) erreichten in placebo-kontrollierten Zulassungsstudien über 50% RRR von Schüben, wie Zakaria aufzählte. Die RRR ist aber nicht dasselbe wie die klinische Wirksamkeit, mahnte er: Sie ist nur zu bewerten, wenn auch die Häufigkeit der betrachten Ereignisse in der Kontrollgruppe bekannt ist (siehe nachfolgende Tabelle). Eine 50%ige Reduktion der Schubrate kann eine Reduktion der Schubrate von 40% auf 20% oder auch nur von 4% auf 2% bedeuten. Eher spiegeln die absolute Risikoreduktion, also die tatsächlich verhinderten Ereignisse, und die Number needed to Treat (NNT, 100/absolute Risikoreduktion) die klinische Wirksamkeit wieder. Eine RRR von um die 30% in den schon länger zurückliegenden Studien mit IFN und GLAT bedeuten auf dem Hintergrund einer relativ hohen Schubaktivität in der Kontrollgruppe dieser Studien (ähnlich Studie 3 in der Tabelle) eine höhere Anzahl verhinderter Schübe als eine RRR von 50% in modernen Studien, wo die Schubrate auch in den Kontrollgruppen sehr niedrig ist wie in Studie 2 in der Tabelle. Studie 1 Studie 2 Studie 3 Schubrate in der Placebogruppe 40% 4% 90% Schubrate in der Interventionsgruppe 20% 2% 60% Relative Risikoreduktion 50% 50% 33,3% Number needed to Treat 5 50 33 Absolute Risikoreduktion 20 2 30 Tabelle: Beispiele für relative Risikoreduktionen (RRR), die je nach Ereignishäufigkeit in der Kontrollgruppe ganz unterschiedliche klinische Relevanz hinsichtlich absoluter Risikoreduktion (ARR) und Number needed to Treat (NNT) haben (nach Vortrag Zakaria). Der Vergleich von ARR von Schüben und NNT aus den placebokontrollierten Zulassungsstudien zeigt in den neueren Studien mit den moderneren Substanzen aufgrund der geringen Schubaktivität insgesamt einen Trend hin zu immer geringeren ARR und größeren NNT. Auch solche Vergleiche über verschiedene Studien hinweg sind aber wegen der unterschiedlichen Patientenpopulationen oder sich verändernden diagnostischen Kriterien und Endpunkten letztlich unzulässig, betonte Zakaria. Alle diese Angaben können in unterschiedlichen Populationen verschieden ausfallen und es ist eine große Gefahr, solche Zahlen im Rahmen der evidenzbasierten Medizin zu verallgemeinern. Letztlich sei für alle Substanzen ein Kopf-an-Kopf-Vergleich zu fordern. Empfehlung der Redaktion Highlights vom ECTRIMS-Kongress 2019 Das European Committee for Treatment and research in multiple sclerosis (ECTRIMS) traf sich zu seinem Kongress 2019 in Stockholm. Diskutiert wurden u.a. B-Zellen als neue Therapieoption, der Nutzen der Stammzelltransplantation oder was beim Impfschutz von MS-Patienten zu beachten ist. Für Zakaria sind IFN und GLAT nicht zuletzt auch aufgrund der langjähren Erfahrung und belegten guten Sicherheit immer noch bei einem Großteil der Patienten als Erstlinientherapie empfehlenswert: Bei Patienten mit neu diagnostizierter aktiver MS Bei Frauen Bei Kinderwunsch Bei einem hohen Wunsch nach Sicherheit und fehlender Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen Bei verantwortlichen Patienten mit der Bereitschaft, die ärztlichen Empfehlungen zu befolgen Bei allen Patienten ohne Nadelphobie. Die für die oralen DMTs postulierte bessere Compliance konnte bislang nicht belegt werden – vorausgesetzt, die Patienten werden in regelmäßigen Kontakten nicht nur monitoriert, sondern auch zur Injektionstherapie motiviert, wie Zakaria betonte. basierend auf: 35th Congress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), 11-13 September 2019, Stockholm; Burning Debate: It is inappropriate to prescribe interferon-beta and glatirameracetate for active relapsing MS

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