Erfolg mit Kinasehemmer bei progredienter MS ohne Schübe

Der Tyrosinkinasehemmer Masitinib kann offenbar eine progrediente MS bremsen, bei der keine Entzündungsaktivität vorliegt: In einer Phase-3-Studie ließ sich die Rate für eine anhaltende Behinderungsprogression um 37% senken. Für Patienten mit einer progredienten MS-Form gibt es seit kurzem zugelassene Therapeutika, allerdings nur für die recht kleine Gruppe mit noch bestehenden Schüben oder anderen Hinweisen auf ein entzündliches Krankheitsgeschehen. So hat sich Ocrelizumab in Studien bei primär-progredienter MS (PPMS) bei solchen Patienten bewährt, Siponimod bei sekundär-progredienter MS (SPMS). Für das Gros der Patienten mit progredienter MS ohne Schübe und neue MRT-Läsionen sind solche Arzneien jedoch nicht zugelassen, hier gibt es weiterhin keine spezifischen Therapien. Insofern sorgten die Ergebnisse einer Phase-3-Studie mit dem Tyrosinkinasehemmer Masitinib auf dem virtuellen Kongress der MS-Gesellschaften ACTRIMS und ECTRIMS für ein gewisses Aufsehen: Das gegen Mast- und Gliazellen gerichtete „Small Molecule“ konnte die Krankheitsprogression bei Patienten mit nicht aktiver progredienter MS signifikant bremsen. Erstmals ließ sich in einer größeren klinischen Studie bei solchen Patienten ein Erfolg verzeichnen. Konstanter EDSS-Wert Masitinib hemmt die Kinasen C-Kit, Lyn und Fyn in Mastzellen sowie den CSF1-Rezeptor in Gliazellen. Damit bremst der Wirkstoff die Aktivität des angeborenen Immunsystems. Diese Aktivität wird als eines der Hauptprobleme bei progredienten MS-Formen betrachtet. Vor allem dysfunktionale Gliazellen gelten als Bösewichte, welche die MS unabhängig von der Entzündungsaktivität vorantreiben. Masitinib ist seit 2011 in der Tiermedizin gegen Mastzelltumoren bei Hunden verfügbar, Zulassungen in der Humanmedizin, etwa gegen Mastozytose und ALS scheiterten bislang jedoch. Der Wirkstoff wird derzeit gegen diverse Tumorformen und neurologische Erkrankungen vom Unternehmen AB Science aus Paris klinisch geprüft. An der nun vorgestellten Phase-3-Studie mit der Bezeichnung AB07002 nahmen 600 MS-Kranke teil, die auf zwei gleich große Unterstudien verteilt wurden. Die Ärzte prüften dabei 4,5 und 6 mg/kg/d Masitinib gegen Placebo jeweils im Verhältnis 2:1, erläuterte Professor Patrick Vermersch von der Universität in Lille. Teilnehmen konnten MS-Kranke mit PPMS und SPMS, sofern sie in den zwei Jahren zuvor keine Schübe aufwiesen, der EDSS-Wert sich aber in dieser Zeit um mindestens einen Punkt verschlechtert hatte. Zudem musste der Wert zu Beginn im Bereich von 2–6 Punkten liegen. Auf dem Kongress konzentrierte sich Vermersch im Wesentlichen auf die Substudie mit der 4,5-mg-Dosis. Die Patienten waren im Schnitt 50 Jahre alt, seit 15 Jahren erkrankt und hatten einen mittleren EDSS-Wert von rund 5 Punkten, die Hälfte von 6 Punkten. Primärer Endpunkt war die Veränderung des EDSS-Werts im Laufe von zwei Jahren. Dabei wurde jedoch nicht einfach die letzte Messung mit der ersten verglichen, vielmehr bildeten die Studienstatistiker den Durchschnitt der Abweichungen aus den acht Untersuchungen, die im Abstand von je drei Monaten erfolgten. Dadurch werden Veränderungen über die Zeit besser erfasst und einzelne Ausreißer weniger stark berücksichtigt. Nach dieser Berechnung blieb der EDSS-Wert in der Gruppe mit Masitinib im Schnitt über die zwei Jahre hinweg konstant (plus 0,001 Punkte), mit Placebo nahm er hingegen deutlich zu (plus 0,098 Punkte), die Differenz war statistisch signifikant (p = 0,026). Absolut betrachtet nahm der EDSS-Wert in den ersten Wochen nach Therapiebeginn unter Masitinib leicht ab, erreichte nach einem Jahr wieder das Ausgangsniveau und lag nach zwei Jahren um rund 0,05 Punkte darüber. Mit Placebo gab es hingegen keine anfängliche Verbesserung; der Wert stieg relativ kontinuierlich bis zu rund 0,15 Punkten über den Ausgangswert an. Vorteile zeigten sich sowohl in den Subgruppen mit PPMS und SPMS in einer ähnlichen Größenordnung. Unterschieden die Forscher grob in „verbessert“, „verschlechtert“ oder „unverändert“, bezogen auf eine EDSS-Veränderung von mindestens 0,5 Punkten, so ergab sich eine um 39% höhere Rate für eine EDSS-Verbesserung oder -Stabilisierung in der Masitinibgruppe. Die Rate für eine erste EDSS-Progression war im Vergleich zu Placebo um 42% reduziert, die für eine über drei Monate anhaltende Behinderungsprogression um 37%. Bestätigungsstudie geplant Interessant ist auch eine andere Beobachtung: Rollstuhlpflichtig (EDSS 7) über mindestens drei Monate hinweg wurden vier Patienten in der Placebogruppe, aber keiner in der doppelt so großen Gruppe mit Masitinib. Schwere unerwünschte Wirkungen traten bei 21% der Patienten mit dem Kinasehemmer und 13% mit Placebo auf, unter Masitinib waren dies vor allem Ausschläge, Leberwerterhöhungen, Magen-Darm-Probleme sowie eine Neutropenie. Solche Effekte betrafen aber jeweils nur 1–2% der Patienten schwer. Ganz anders die Resultate in der 6-mg-Substudie: Zwar waren die EDSS-Veränderungen unter dem Wirkstoff hier ähnlich stark ausgeprägt wie in der Studie mit 4,5 mg, allerdings kam es in der Placebogruppe zu einer überraschenden EDSS-Verbesserung, sodass sich hier keine signifikanten Unterschiede ergaben. Der Nutzen muss daher erst noch in einer weiteren größeren Studie bestätigt werden. Nach Angaben von Vermersch plant das Unternehmen AB Science eine Untersuchung mit 700 MS-Kranken und der 4,5-mg-Dosis. Für die Zulassung könnte jedoch das Nutzen-Risiko-Profil zu einem Problem werden: Die absoluten EDSS-Wert-Veränderungen im Vergleich zu Placebo waren in der einen Substudie eher gering, in der anderen nicht vorhanden. Dem steht ein erhöhtes Risiko für schwere Nebenwirkungen gegenüber. Man darf daher gespannt sein, ob sich Kinasehemmer tatsächlich als Option bei progredienter MS etablieren. Quelle: MS virtual 2020. 8th Joint ACTRIMS-ECTRIMS Meeting, September 11-13. Free Communication 4:01. Vermersch P. Masitinib in primary progressive (PPMS) and non-active secondary progressive (nSPMS) multiple sclerosis: Results from phase 3 study AB07002.

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