MS-Mittel ab 53 Jahren unwirksam?

Arzneien gegen MS wirken bekanntlich bei jungen Patienten am besten. Ab Mitte 50 ergibt sich aus MS-Registern allenfalls noch eine geringe Wirksamkeit. Kontrollierte Studien wollen nun herausfinden, welche Patienten die Mittel gefahrlos absetzen können. Wer einmal stabil auf ein MS-Medikament eingestellt ist, möchte dieses natürlich nicht ohne triftigen Grund wieder absetzen – die Angst vor neuen Schüben und neuen Behinderungen sitzt bei den meisten MS-Kranken tief. In einer Befragung von 377 meist älteren Patienten (im Schnitt 56 Jahre alt) gaben zwei Drittel an, dass sie auf keinen Fall ihre MS-Medikation absetzen würden, nur 12% dachten ernsthaft über einen Stopp nach, erläuterte Professor John Corboy vom MS-Zentrum der Universität in Denver auf dem virtuellen Kongress der MS-Gesellschaften ACTRIMS und ECTRIMS. Allerdings ist die Evidenz für einen Nutzen bei älteren Patienten eher gering: Die allermeisten Interventionsstudien schlossen Patienten über 55 Jahren aus, und in fast allen Studien wirkten die Medikamenten bei den über 40-Jährigen deutlich schlechter als bei Jüngeren. Corboy nannte etwa Resultate eine Studie mit Natalizumab, nach denen die Schubrate im Vergleich zu Placebo bei älteren Patienten (über 40 Jahren) deutlich weniger reduziert wurde als bei jüngeren und eine Behinderungsprogression ähnlich häufig auftrat wie unter Placebo. In einer Metaanalyse mit sämtlichen verfügbaren Medikamentenstudien ergaben sich zudem ab einem Alter von 53 Jahren keine Auswirkungen mehr auf die Behinderungsprogression. Kaum noch Entzündungsaktivität im Alter Als wahrscheinlichen Grund nannte Corboy das veränderte Krankheitsgeschehen bei älteren Menschen. Praktisch alle spezifischen MS-Mittel richten sich gegen die Lymphozyten-getriggerte Inflammation im ZNS, diese spielt mit zunehmendem Alter aber eine immer geringere Rolle, hier seien vielmehr die Expansion existierender Läsionen, die mitochondrielle Dysfunktion, oxidative Schäden oder kompartimentalisierte Entzündungen („trapped inflammation“) relevant, und gegen die gibt es bisher keine spezifischen Therapien. Von daher stelle sich die Frage, ob ältere MS-Kranke, die seit Jahren keine Schübe und keine Entzündungsaktivität mehr aufweisen, ihre Medikation nicht gefahrlos absetzen können. In einer österreichischen Analyse von 221 Patienten, die ihre Medikation aus diversen Gründen beendeten, traten neue Schübe bei den Patienten am seltensten auf, die älter als 45 Jahre und seit mindestens vier Jahren schubfrei waren. Bei ihnen war die Schubrate um 94% geringer als bei jüngeren oder solchen mit Schüben in den Jahren vor dem Absetzen. Alter und Schubfreiheit scheinen also gute Indikatoren für ein geringes Risiko beim Absetzen zu sein, zumindest was neue Schübe betrifft. Empfehlung der Redaktion Aktuelle News & Übersichten Themenseite Multiple Sklerose Auf der Themenseite Multiple Sklerose halten wir Sie über die häufigste chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung bei jungen Erwachsenen auf dem Laufenden. Corboy verwies zudem auf eine französische Registeranalyse zu rund 500 MS-Patienten über 50 Jahren mit einer schubförmigen MS, aber ohne neue Schübe in den vergangenen drei Jahren. 132 setzten ihre Medikation ab, 366 blieben dabei. Bei den Absetzern traten in den folgenden rund acht Jahren Schübe nicht häufiger auf als bei MS-Kranken, die bei ihrer Medikation blieben, auch bei der Zeit bis zur Behinderungsprogression ergaben sich keine signifikanten Differenzen. Allerdings sind solche Analysen mit möglichen Verzerrungen behaftet: Vielleicht setzten die Ärzte die Therapie vor allem bei solche Patienten ab, bei denen sie das Gefühl hatten, dass sie nicht mehr davon profitieren. Letztlich müssen kontrollierte Interventionsstudien klären, bei wem sich der Stopp lohnt. Drei laufende randomisierte Studien Der MS-Experte nannte drei derzeit laufende randomisierte Untersuchungen zu dieser Frage. An DISCOMS* unter Leitung der Universität in Denver nehmen 260 MS-Patienten aus 18 US-Zentren seit 2017 teil. Voraussetzungen sind ein Alter über 55 Jahren, eine inaktive MS unter einer MS-Therapie (keine neuen Schübe oder MRT-Läsionen in den vergangenen Jahren). Die Patienten werden nach dem Zufallsprinzip zur Hälfte in Gruppen mit Absetzen oder Weiterführen der Medikation aufgeteilt. Die Studie soll noch bis Anfang 2022 laufen. Den primären Endpunkt bilden Zeichen einer erneuten Krankheitsaktivität. Corboy konnte erste Basisdaten nennen: Danach sind die Teilnehmer im Mittel 63 Jahre alt, seit 22 Jahren an MS erkrankt und seit 13 Jahren schubfrei. 83% haben eine schubförmige MS, der Behinderungsgrad ist mit einem mittleren EDSS-Wert von 3,3 recht gering und rund zwei Drittel sind noch immer auf Interferone und Glatirameracetat eingestellt. Die französischen Studie STOP-I-SEP* richtet sich speziell an ältere Patienten (über 50 Jahre) mit sekundär-progredienter MS (SPMS). Auch diese müssen eine inaktive MS haben und stabil auf MS-Arzneien eingestellt sein. Teilnehmen sollen 260 Patienten, das Ende der Studie ist für 2026 geplant. Schließlich wagt eine niederländische Studie das Absetzen von MS-Therapeutika auch bei 130 jüngeren Patienten. Voraussetzung für die Teilnahme an DOT-MS* ist das Fehlen jeglicher Krankheitsaktivität unter einem First-line-Therapeutikum in den vorausgehenden fünf Jahren. Die Studie soll 2024 Resultate liefern. Ein Problem könnte jedoch die relativ kurze Dauer der Studien sein: Lässt sich eine beschleunigte Behinderungsprogression nur wenige Jahre nach dem Absetzen tatsächlich ausschließen? Zudem ist nur schwer zu sagen, ob sich Patienten, denen ein Fortführen der MS-Therapie offenkundig nichts mehr bringt, von den Fakten überzeugen lassen. Corboy hat da gewisse Zweifel. *Abkürzungen DICOMS: Discontinuation of Disease Modifying Therapies (DMTs) in Multiple Sclerosis (MS) DOT-MS: Discontinuing Disease-modifying Therapies in Stable Relapsing - Onset Multiple Sclerosis. STOP-I-SEP: Disease Modifying Therapies Withdrawal in Inactive Secondary Progressive Multiple Sclerosis Patients Older Than 50 Years Quelle: MS virtual 2020. 8th Joint ACTRIMS-ECTRIMS Meeting, September 11-13. Plenary Session 1: Strategies for disease modification. Corboy J: When is it Appropriate to Discontinue DMT?

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