Fahndung nach der richtigen Spur

Für die Behandlung seltener Erkrankungen gibt es in Deutschland gute Strukturen. Dennoch kann bei vielen Betroffenen die Diagnose nicht gefunden werden. Translate Namse, ein Projekt des Innovationsfonds, sorgt jetzt dafür, dass diese Menschen schneller zielgerichtet behandelt werden können. BERLIN. Seltene Erkrankungen sind so etwas wie die Systemsprenger des Gesundheitswesens. Von jeder der Erkrankungen sind zwar jeweils nur wenige Menschen betroffen, weil es aber 6000 bekannte seltene Erkrankungen gibt, sind sie zusammen viele. In Deutschland schätzt man ihre Zahl auf etwa vier Millionen Menschen. Für diese Patienten gibt es durch Kinderärzte, Humangenetiker und spezialisierte Ambulanzen zwar eine gute Versorgung, dennoch kann bei vielen Patienten die Diagnose nicht gefunden werden. Sie leiden dann nicht nur an den Symptomen, sondern auch an der jahrelangen Odyssee durch Praxen, Labore und Kliniken und vielen unnötigen Untersuchungen und Therapieversuchen. Das Innovationsfonds-Projekt Translate Namse ist 2017 angetreten, um dies zu ändern: „Unser Schwerpunkt liegt darauf, über die koordinierte Zusammenarbeit der Spezialisten für seltene Erkrankungen zu klaren Diagnosen zu kommen. Zugleich wird der aktuelle Versorgungsgrad der betroffenen Patienten erfasst“, sagt Projektleiter Professor Dr. Heiko Krude vom Centrum für seltene Erkrankungen (BSCE) an der Berliner Charité. Neun Unikliniken sind dabei Insgesamt neun Universitätskliniken arbeiten in dem Konsortium mit ihrer gebündelten Expertise zusammen, die Charité koordiniert das Projekt. Die AOK Nordost und die Barmer wirken als Konsortialpartner mit, die AOKs Bayern, Baden-Württemberg und Plus und die Siemens-BKK sind als Kooperationspartner mit an Bord. Dr. Werner Wyrwich, Leiter dieses Projektes bei der AOK Nordost und Geschäftsbereichsleiter Indikationen, sieht in der systematischen standortübergreifenden Zusammenarbeit der Experten aus verschiedenen Fachrichtungen und Einrichtungen den zentralen Baustein des Innovationsfonds-Projektes: „Manche Krankheiten sind so selten, dass die Symptome nicht zugeordnet werden können, solange jede medizinische Fachrichtung nur allein darauf schaut.“ Exomsequenzierung möglich In Fallkonferenzen besprechen Experten gemeinsam die ungewöhnliche Krankengeschichte, kommen so zu einer Verdachtsdiagnose und können gezielt weitere Untersuchungen veranlassen. „Das Vorgehen gleicht einer Kaskade, indem Schritt für Schritt Diagnosen aufgestellt und geprüft werden, bis das Ergebnis eindeutig ist“, so Wyrwich. Hierbei kann es notwendig werden, dass Experten aus mehreren universitären Standorten oder über die Bundesrepublik hinaus zu Rate gezogen werden. Falls sich auch nach einer Fallkonferenz kein klares Bild ergebe, werde im nächsten Schritt eine Exomsequenzierung eingeleitet. „Diese genetische Untersuchung betrifft alle kodierenden Teile der DNA, unterliegt hohen Qualitätsanforderungen und muss in besonders qualifizierten Labors erfolgen“, sagt Dr. Gerhard Schillinger vom AOK Bundesverband, der dem Vorhaben zur Seite steht. Seine Aufgabe war es, ein breites Bündnis der gesetzlichen Kassen zu organisieren, damit im Projekt diese genetische Untersuchung bei allen gesetzlich Versicherten ermöglicht wird. Kassen unterstützen Projekt Fast alle gesetzlichen Krankenkassen unterstützen inzwischen das Projekt. Neben der Chance, eine klare Diagnose stellen zu können, berge die Sequenzierung aller Gene auch das Risiko, so Schillinger, zufällige Varianten der DNA-Sequenz fälschlicherweise als Krankheitsursache zu definieren, was zu einer Fehldiagnose und möglicherweise unterlassenen Behandlung der tatsächlichen Erkrankung führen könnte. Die Befunde der Exomsequenzierung werten Humangenetiker und klinische Experten in einer weiteren Fallkonferenz aus und gleichen sie mit der klinischen Krankheitsausprägung ab. „Jeder Mensch hat ungefähr 20.000 Gene, die sich zudem unterschiedlich ausprägen. Ziel ist, jene genetischen Varianten zu erkennen, die die Krankheit des Patienten hervorrufen“, sagt Krude. Die Ergebnisse werden dann mit dem Patienten besprochen, eine Therapie für die weitere Behandlung empfohlen. Seit Projektbeginn sind rund 3000 Patienten mit ungeklärten Symptomen im Rahmen von Translate Namse bundesweit begleitet worden. „Insbesondere bei Kindern, die von einem behandelnden Arzt an uns überwiesen wurden, lag tatsächlich eine seltene Erkrankung vor, die wir in fast der Hälfte der Fälle klären können“, berichtet Krude. Bei vielen der betroffenen Jungen und Mädchen war eine Exomsequenzierung nötig, um der Diagnose auf die Spur zu kommen. Bei Erwachsenen hingegen, die sich eigenständig gemeldet haben, stehen laut Krude eher ungeklärte, aber nicht seltene Krankheitsbilder dahinter, die sich ungewöhnlich ausgeprägt haben. Befunde fließen in Datenbank ein Die so erhobenen genetischen und klinischen Befunde fließen in einer Datenbank ein, um zukünftig zufällige Varianten von krankheitswertigen Mutationen besser unterscheiden zu können. Der Nutzen des Projektes wird wissenschaftlich evaluiert und wenn es sich bewährt wird die Herausforderung sein, einen Weg zu finden, damit dieses gestufte Vorgehen zur Diagnostik mit seinen hohen Qualitätsanforderungen auch in der Zukunft und dauerhaft für die Betroffenen zur Verfügung steht. MKSE als weitere Anlaufstelle In Sachsen-Anhalt ist das Mitteldeutsche Kompetenznetz Seltene Erkrankungen (MKSE) die zentrale Beratungsstelle für Ärzte und Patienten mit seltenen Erkrankungen. 2014 wurde es unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Mohnike als Kooperation der Universitätskliniken Magdeburg und Halle gegründet. Bundesweit gibt es weitere solcher Einrichtungen mit unterschiedlicher Expertise. Die AOK Sachsen-Anhalt beteiligt sich seit 2015 mit 55.000 Euro jährlich an der Finanzierung der Stelle der Lotsin (siehe Interview) und fördert damit die interdisziplinäre Zusammenarbeit des Zentrums und ihre fachliche Bündelung.

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