Grad-II-Gliome: Wird alte Chemotherapie zum neuen Standard?

Eine Radiochemotherapie verlängert das Leben von Patienten mit Grad-II-Gliomen. Darauf deuten Langzeitdaten der RTOG-9802-Studie hin. Experten sehen die Ergebnisse jedoch kritisch. Das liegt auch an einem längst überholten Therapieregime. Bislang hatten Neuroonkologen zumindest in Deutschland bei nicht operablen oder bei nicht vollständig resezierten Grad-II-Gliomen häufig lange gewartet und erst dann eine spezifische Therapie begonnen, wenn ein deutliches Tumorwachstum zu beobachten war oder sich neue klinische Symptome anbahnten. Dieses Vorgehen muss nun überdacht werden, sagte Professor Uwe Schlegel vom Klinikum der Ruhr-Universität Bochum bei der Fortbildungsveranstaltung Neuro Update in Mainz. Grund dafür seien neue Langzeitdaten der Studie RTOG 9802, die auf der vergangenen Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) vorgestellt worden waren. An der Untersuchung hatten 251 Patienten mit Hochrisiko-Gliomen des WHO-Grads II teilgenommen, rund drei Viertel wiesen oligodendrogliale Tumoren auf. Die Patienten hatten alle nach einer Primärresektion noch Tumorreste im Gehirn oder sie waren bei der Diagnose über 40 Jahre alt – bei solchen Patienten wird von einem hohen Progressionsrisiko ausgegangen. Während viele dieser Patienten in Deutschland zunächst lediglich beobachtet werden, erhalten sie in den USA eine vergleichsweise aggressive Therapie. „Dort ist die Bestrahlung der erweiterten Tumorregion mit 54 Gy bei Grad-II-Gliomen seit vielen Jahren Standard. Dieser Umstand reflektiert jedoch keine bessere Datenlage in den USA, sondern einen grundsätzlich offensiveren therapeutischen Zugang bei diesen differenzierten Gliomen“, erläuterte Schlegel. In der RTOG-9802-Studie erhielt daher die Hälfte der Patienten die Standardbestrahlung, die übrigen bekamen zusätzlich eine Chemotherapie. Da die Studie noch in der Ära vor Einführung von Temozolomid im Jahr 1998 begann, bestand dieses Regime aus einer heute primär kaum noch verwendeten Dreierkombination von Procarbazin, CCNU und Vincristin (PCV-Therapie). Erste Unterschiede nach drei Jahren Bereits nach drei Jahren gingen die Kurven sowohl für das progressionsfreie Überleben als auch für das Gesamtüberleben auseinander, die Unterschiede waren aber lange Zeit nicht signifikant. Inzwischen liegen jedoch Zwölf-Jahres-Daten vor, und dabei ergibt sich ein anderes Bild: Das progressionsfreie Überleben betrug bei einer alleinigen Radiatio nur vier Jahre, bei Strahlentherapie plus PCV hingegen 10,4 Jahre. Deutlich sind auch die Unterschiede beim Gesamtüberleben: In der Gruppe mit alleiniger Radiatio lag dieses im Median bei 7,8 Jahren, in der Kombination mit PCV bei 13,3 Jahren. „Die Ergebnisse sind umso bemerkenswerter, als von den primär nur strahlentherapierten Patienten immerhin 56% bei Rezidiven oder Tumorprogress eine Salvage-Chemotherapie erhielten“, so Schlegel. Die Autoren aus der RTOG-9802-Studie ziehen den Schluss, dass eine 54-Gy-Bestrahlung mit PCV-Therapie der neue Therapiestandard für Hochrisiko-Patienten mit Grad-II-Gliomen ist. Studie wirft Fragen auf Dem will Schlegel jedoch nicht ohne Weiteres folgen, denn die Studie wirft seiner Ansicht nach einige wichtige Fragen auf. Zum einen sei unklar, ob die Dreier-Kombi PCV durch das inzwischen in der Gliomtherapie etablierte und besser verträgliche Temozolomid ersetzt werden kann. Ein neuer Standard mit einer alten Therapie? Das scheint wenig attraktiv. Zum anderen sollte geklärt werden, ob eine Chemo allein ebenso gut wirkt wie eine Chemo plus Radiatio. Auch werfe die Studie Fragen zur Langzeittoxizität auf: So ist zur Erfassung der kognitiven Beeinträchtigungen der Mini-Mental-Status-Test verwendet worden. Dieser sei aber zur Beurteilung onkologischer Patienten völlig ungeeignet. Schlegel befürchtet zudem, dass die Definition von Patienten mit inkompletter Resektion als „Hochrisiko-Kranke“ ein aggressives neurochirurgisches Vorgehen begünstigen könnte. Und dem steht der Neuroonkologe kritisch gegenüber: In Studien führten Tumorresektionen bei etwa einem Viertel der operierten Patienten zu neurologischen Defiziten, bei jedem zweiten blieben diese Schäden bestehen. Schließlich gibt Schlegel zu bedenken, dass es mit RTOG 9802 bislang erst eine randomisiert-kontrollierte Therapiestudie bei Grad-II-Gliomen gibt, die einen Vorteil einer aggressiven Behandlung zeigen konnte. Dem gegenüber steht etwa eine EORTC-Studie, in der „Watchful Waiting“ mit einer primären 54-Gy-Bestrahlung verglichen worden war. Hier zeigte sich zwar ein signifikanter Vorteil bei der progressionsfreien Lebenszeit zugunsten der Radiatio (5,4 versus 3,7 Jahre), nicht aber beim Gesamtüberleben (7,1 versus 7,9 Jahre). Aus seiner Sicht ist es daher weiter gerechtfertigt, Patienten im Alter unter 40 Jahren nach einer inkompletten Tumorresektion weiterhin nur zu beobachten oder Patienten mit sehr ausgedehnten Tumoren, deren Bestrahlung weite Hirnregionen betreffen würde, in einem individuellen Therapieversuch nur chemotherapeutisch zu behandeln – „umso mehr, wenn ein oligodendroglialer Phänotyp oder eine 1p/19q-Deletion vorliegen“.

Springer Medizin

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