Neue Ansätze zur Remyelinisierung bei MS

Nervenschutz und neues Myelin – das zählt bei der Neuroregeneration. Biotin, Phenytoin und Anti-Lingo-Antikörper wurden bereits klinisch getestet, andere Ansätze stehen kurz vor der klinischen Erprobung. Bislang zielt die MS-Therapie primär darauf, das wild gewordene Immunsystem von Angriffen auf das zentrale Nervensystem abzuhalten. Gesucht sind jedoch auch Therapeutika, die den einmal entstandenen Schaden rasch wieder reparieren. Denn je länger ein Axon unisoliert seiner Umgebung ausgesetzt ist, umso größer ist das Risiko, dass es unwiederbringlich durchtrennt wird und abstirbt. Dies ist vor allem in chronischen MS-Läsionen zu beobachten. Inzwischen werden einige alte und neue Medikamente auf ihre Fähigkeit hin geprüft, die Myelinbildung anzukurbeln und Nervenfasern zu retten. Oft untersuchen Forscher solche Ansätze zunächst bei Patienten mit Optikusneuritis. Bei ihnen lässt sich die Funktion des Sehnervs über visuell evozierte Potenziale (VEP) gut messen. Bei solchen Patienten konnten zuletzt der Natriumkanalblocker Phenytoin, das Antiallergikum Clemastin und der Anti-LINGO-1-Antikörper Opicinumab Erfolge in Phase-II-Studien erzielen. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass auch MS-Patienten davon ausreichend profitieren. In einer auf dem MS-Kongress ECTRIMS in London vorgestellten Phase-II-Studie wurde mit Opicinumab keine dosisabhängige Verbesserung bei den MS-Behinderungen festgestellt; hier deutete sich allenfalls ein Nutzen für bestimmte Patientengruppen und Dosierungen an. Am überzeugendsten erscheinen bislang noch die Resultate einer Hochdosistherapie mit Biotin, die im vergangenen Jahr auf dem US-Neurologenkongress in Washington vorgestellt wurden. Hier ließ sich bei jedem achten Patienten mit progredienter MS eine Verbesserung der Behinderungen erreichen, hingegen bei keinem unter Placebo (wir berichteten). Myelinneubildung durch transcorneale elektrische Stimulation? Einige weitere Ansätze stehen kurz vor ersten klinischen Tests. So kann etwa eine verstärkte elektrische Aktivierung von Nervenfasern Oligodendrozyten zur Myelinbildung anregen, erläuterte Dr. Catherine Lubetzki vom Institut du Cerveau et de la Moelle épinière in Paris auf der ECTRIMS-Tagung. In Zellkulturexperimenten und Tierversuchen konnten Forscher mit Aktivitätsblockern wie Tetrodotoxin die Myelinisierung unterbinden, mit Aktivitätsverstärkern wie Skorpion-Alpha-Toxin hingegen deutlich ankurbeln. Jetzt wollen die Pariser Forscher durch eine transcorneale elektrische Stimulation schauen, ob sie damit die Regeneration bei Patienten mit Optikusneuritis beschleunigen können. In-vitro-Screenings deuten zudem auf eine Bedeutung von Sigma-2-Rezeptoren bei der Myelinisierung. Besonders wirksam kann in solchen Systemen offenbar der NMDA-Rezeptor-Antagonist und Sigma-2-Ligand Ifenprodil die Myelinbildung ankurbeln. Auch im Tiermodell konnte der Wirkstoff die Myelinneubildung verstärken. RNA-Analysen deuten zudem auf eine Bedeutung von Retinsäure-X-Rezeptoren (RXR) bei der Myelinbildung. Nach ZNS-Schäden werden diese verstärkt exprimiert und durch 9-cis-Retinsäure aktiviert. Mit Bexaroten ist bereits ein passender Ligand zur Behandlung bei kutanem T-Zell-Lymphom zugelassen. Damit soll im kommenden Jahr auch eine klinische Studie mit MS-Patienten beginnen, sagte Lubetzki. Oligodendrozyten im Fokus Eine noch bessere Wirkung versprechen sich Forscher von neu entwickelten RXR-Agonisten. So soll die Substanz IRX4204 hundertfach stärker an RXR binden als Bexaroten, erläuterte Dr. Martin Sanders vom Unternehmen Io Therapeutics aus Santa Ana, USA. In MS-Tiermodellen bremste die Substanz proinflammatorische T-Zellen und die ZNS-Entzündung. Dabei wurde die Infiltration von Leukozyten ins ZNS blockiert, der Myelinverlust und die Zahl der durchtrennten Axone reduziert. So zeigten die behandelten Tiere im Vergleich zu Kontrollen eine um 30 % verstärkte Myelinbildung. Die Substanz scheint zudem die Reifung von Oligodendrozyten zu begünstigen, erläuterte Sanders auf der Tagung. Berliner Forscher um Dr. Sarah-Christin Staroßom von der Charité setzen auf einen anderen Ansatz: Sie glauben, dass Chitinase-3-like protein 3 (CHI3L3) der Schlüssel für eine erfolgreiche Remyelinisierung sein könnte. Das Protein induziert in vivo die Bildung von Oligodendrozyten aus neuronalen Stammzellen. In Tierexperimenten ließ sich damit zudem die ZNS-Entzündung abschwächen. Die Gruppe plant, bald mit ersten klinischen Studien zu beginnen. Noch weit von der klinischen Anwendung entfernt ist hingegen eine Behandlung mit induzierten pluripotenten Stammzellen. Solche Zellen könnten aus Hautfibroblasten gewonnen und in Stammzellen umgewandelt werden, aus denen sich wiederum autologe Oligodendrozyten züchten lassen. Werden solche Zellen in die Gehirne neugeborener Mäuse injiziert, die aufgrund eines Gendefekts kein Myelin bilden konnten, kommt es zu einer großflächigen Myelinisierung und einer deutlichen Lebensverlängerung der Tiere, berichtete Lubetzki. Ein solcher Oligodendrozyten-Nachschub könnte gerade für ältere Patienten mit MS wichtig sein. Darauf deutet eine Untersuchung einer Arbeitsgruppe um Dr. Sabine Pfeifenbring von der Universität Göttingen. Sie untersuchte Biopsien von Läsionen bei 29 Kindern sowie 24 Erwachsenen mit MS oder klinisch isoliertem Syndrom. In Läsionen mit erfolgreicher Remyelinisierung war die Oligodendrozytendichte bei Kindern verglichen mit der Umgebung nur um 13 % reduziert, bei Erwachsenen um 31 %. „Bei Kindern erfolgt die Remyelinisierung schneller als bei Erwachsenen“, so Pfeifenbring. Erwachsene haben in den Läsionen auch weniger Oligodendrozyten-Vorläuferzellen. Offenbar nimmt deren Dichte mit dem Alter ab, und dies ist vermutlich ein Grund, weshalb die Remyelinisierung weniger gut klappt als bei Kindern, sagte Pfeifenbring.

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