Welcher MS-Patient profitiert von einer Induktionstherapie?

Immer mehr potente MS-Mittel drängen auf den Markt. Vor allem Patienten mit häufigen und schweren Schüben müssten damit behandelt werden, sind sich Experten einig. Wer damit gemeint ist und wann die Therapie starten soll, ist aber umstritten. Die Liste der MS-Medikamente wird fast jedes Jahr länger und damit auch die Frage, welche Patienten von welcher Therapiestrategie am ehesten profitieren. Vor einigen Jahren waren sich die Experten noch einig, bei schubförmiger MS zunächst mit Basistherapeutika wie Interferonen und Glatirameracetat zu beginnen und bei Therapieversagen auf Second-line-Medikamente wie Natalizumab zu wechseln. Seit B- und T-Zell-depletierende Therapeutika auf den Markt drängen, macht jedoch das Wort von der Induktionstherapie die Runde. Dabei soll die MS gleich von Beginn an mit potenten Immuntherapeutika in Schach gehalten und die Krankheitsaktivität möglichst gestoppt werden. Über dieses Konzept wird noch heftig diskutiert. Das wurde auch auf der ECTRIMS-Tagung in London deutlich. Basistherapeutika genügen meist Professor Emmanuelle Waubant von der Universität in San Francisco hält bereits den Begriff „Induktion“ für wenig geeignet. In der Onkologie werde damit eine First-line-Therapie verstanden, die eine komplette Remission zum Ziel hat. Eine solche sei aber selbst mit potenten Immuntherapeutika bei MS derzeit nicht möglich. Die Neurologin nannte etwa Zweijahresdaten zu Natalizumab – hier zeigen nur 34 % der Patienten keinerlei Krankheitsaktivität (No Evidence of Disease Activity, NEDA), mit Alemtuzumab wurde das Kriterium nach fünf Jahren bei rund 40 % erfüllt und selbst mit einer autologen Stammzelltransplantation lag die NEDA-Rate nach fünf Jahren nur bei 60 %. „Möglicherweise hatten die Patienten mit NEDA eine etwas geringere Krankheitsaktivität und gar keine Induktionstherapie benötigt“, sagte Waubant. Die MS-Expertin sieht zwar eine Berechtigung für eine Primärtherapie mit potenten Immuntherapeutika bei Patienten mit sehr aktiver MS und schweren Schüben, warnt allerdings davor, den Begriff „aktive MS“ nur über MRT-Befunde zu definieren. Es gebe nicht immer eine klare Korrelation zwischen MRT und klinischen Symptomen. Auch sei der Krankheitsverlauf individuell sehr verschieden. Eine hohe Läsionszahl gehe zwar im Schnitt mit einer schlechten Prognose und einer raschen Behinderungsprogression einher, nicht unbedingt aber beim einzelnen Patienten. Es bestehe folglich die Gefahr, dass Patienten die Risiken und Nebenwirkungen einer potenten MS-Therapie zu tragen hätten, obwohl sie diese gar nicht benötigten. Waubant verwies hierzu auf die guten Langzeitdaten von Interferonen, wie sie etwa in der BENEFIT*-Studie deutlich wurden. Nach elf Jahren ließ sich noch das Schicksal von 60 % der Patienten eruieren, die bereits mit einem klinisch isolierten Syndrom das Präparat erhalten hatten. Knapp 70 % hatten dann immer noch keine oder nur minimale Behinderungen (EDSS-Wert unter 3). Studien wie BENEFIT machten jedoch auch deutlich, wie wichtig eine frühe Behandlung ist: Die jährliche Schubrate blieb in der ursprünglichen Placebogruppe durchweg höher, auch die MS-Konversionsrate war über die gesamten elf Jahre hinweg deutlich höher als bei der frühen Interferonbehandlung. Patienten mit einem späteren Therapiebeginn konnten mit den früh behandelten also nicht mehr gleichziehen. Waubant sprach sich im Wesentlichen dafür aus, bei Patienten mit „typischer MS“ das bisherige Therapieschema beizubehalten, also zuerst eine Basistherapie mit Immunmodulatoren und erst dann, wenn diese nicht mehr ausreichend wirkten, potente Immuntherapeutika. Lediglich für eine kleine Gruppe von Patienten mit von Beginn an häufigen und schweren Schüben sieht sie eine Indikation für eine primäre Induktionstherapie. Stopp der Krankheitsaktivität angestrebt Etwas aufgeschlossener gegenüber dem neuen Ansatz zeigte sich Professor Gilles Edan vom „Institut des Neurosciences Cliniques“ in Rennes, Frankreich. Er möchte zwar auch keine Hit-hard-and-early-Therapie für alle MS-Patienten und stimmte mit Waubant darin überein, dass viele Patienten mit den moderat potenten Basistherapeutika ganz gut klar kommen – das habe sich in der Tat in der BENEFIT-Studie gezeigt. Für ihn hat der MRT-Befund jedoch ein größeres Gewicht. Letztlich gehe es bei der MS-Therapie darum, die Krankheitsaktivität zum Stillstand zu bringen – egal ob mit moderat- oder hochpotenten Immuntherapeutika, erläuterte er. Die Herausforderung bestehe darin, diejenigen Patienten zuverlässig zu erkennen, die dieses Ziel nur mit einer Induktionstherapie erreichen, und sie möglichst früh zu behandeln – solange der Nutzen am größten ist. Edan verwies auf das individuell sehr unterschiedliche „window of opportunity“. Gerade bei Patienten mit hochaktiver MS komme es rasch zu einer Behinderungsprogression und zum Übergang in eine sekundär progrediente MS, bei der dann selbst Medikamente wie Alemtuzumab keinen Nutzen mehr zeigten. Hingegen könnten solche Präparate die Krankheitsaktivität bei einem Großteil der Patienten mit früher, hochaktiver MS über Jahre hinweg komplett stoppen und den EDSS-Wert konstant halten oder sogar verbessern. „Hier gibt es einen stark asymmetrischen Nutzen“, erläuterte der Neurologe. Wer bei diesen Patienten zunächst auf eine Basistherapie und dann auf eine Eskalation setze, riskiere irreversible Behinderungen. Doch welche Patienten haben nun das höchste Risiko für eine anhaltende Behinderungsprogression? Nach den bisherigen Studiendaten seien das vor allem Patienten mit multiplen MRT-Läsionen bei der Diagnose und solche, die unter einer Basistherapie rasch zwei bis drei weitere Läsionen entwickelten. „Das MRT ist hier ein Schlüsselfaktor für die Prognose“, sagte Edan. Ein weiterer Faktor seien häufige und schwere Schübe. Der Neurologe machte dies am Beispiel einiger Studien deutlich: In der Phase-III-Studie CARE-MS II ließ sich unter Alemtuzumab die Behinderungsprogression im Vergleich zu Interferon beta-1a deutlich verzögern, der EDSS-Wert ging sogar im Schnitt leicht zurück, während er unter dem Interferon im Mittel deutlich zunahm. Teilnehmer waren Patienten mit hochaktiver MS, die auf bisherige Immunmodulatoren nicht ausreichend angesprochen hatten. Dagegen gab es in der Studie CARE-MS I mit therapienaiven Patienten keine signifikanten Unterschiede bei der Behinderungsprogression, wenngleich die Schubrate und die Zahl der MRT-Läsionen unter dem Antikörper deutlich geringer waren als mit dem Interferon. „In CARE-MS I hatten die Patienten in der Regel keine sehr schweren Schübe vor dem Therapiebeginn, sie entsprachen eher typischen MS-Kranken im frühen Stadium.“ Bei ihnen sei es daher auch unter dem Interferon im Laufe von zwei Jahren nur selten zur Behinderungsprogression gekommen. Dass die Induktionstherapie – zumindest bezogen auf den EDSS-Wert – ihren Namen verdient, machte der Neurologe ebenfalls an Alemtuzumab-Daten deutlich. In einer Langzeitauswertung bei 87 Patienten hatte sich der EDSS-Wert bei 77 % der Behandelten über sieben Jahre hinweg nicht weiter verschlechtert, bei jedem Fünften sogar verbessert. Das Konzept ist jedoch nicht neu. Edan präsentierte Studien aus den 1990er-Jahren mit Mitoxantron: In einer kleineren Untersuchung bei Patienten mit hochaktiver MS zeigten unter der Kombitherapie mit dem Immunsuppressivum und Methylprednisolon 90 % nach neun Monaten keine Krankheitsaktivität mehr im MRT, mit Methylprednisolon alleine waren es nur 30 %. In einer weiteren Studie konnte die Schubrate über fünf Jahre hinweg um 90 % reduziert werden, wenn Patienten mit hochaktiver MS vor einer Interferontherapie sechs Monate mit Mitoxantron behandelt wurden: Vor der Therapie lag die Rate bei 3,3 Schüben im Jahr, in den folgenden fünf Jahren waren es jeweils nur noch 0,3–0,4. Der einmal erzielte Erfolg konnte also unter der anschließenden Basistherapie aufrechterhalten werden. Allerdings seien die Risiken des Immunsuppressivums erheblich, erläutere der Neurologe. Mit Natalizumab lasse sich die Krankheitsaktivität zwar ebenfalls weitgehend zurückfahren, da diese nach dem Absetzen wieder zurückkehre, könne man hier nicht von einer Induktionstherapie sprechen. Wer kommt also für Induktionstherapeutika infrage? Edan sieht den besten Nutzen bei jungen MS-Patienten mit hochaktiver MS, wobei neben der MRT-Aktivität auch eine deutliche klinische Aktivität vorliegen sollte. Das Risiko-Nutzen-Verhältnis sei folglich bei Patienten mit multiplen MRT-Läsionen sowie häufigen und schweren Schüben am besten. *Akronyme: BENEFIT: Betaferon/Betaseron in Newly Emerging MS for Initial Treatment CARE MS: The Comparison of Alemtuzumab and Rebif® Efficacy in Multiple Sclerosis

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