Neue US-Leitlinien zur MS-Therapie

Nach den europäischen Fachgesellschaften haben nun auch die US-Neurologen ihre MS-Therapieleitlinie aktualisiert. Einem Therapiestart bei CIS stehen sie skeptischer gegenüber, dafür gehen sie konkret auf die Behandlung bei hochaktiver MS und einen Therapiestopp ein. EAN* und ECTRIMS haben vor einem halben Jahr auf dem Pariser MS-Kongress ihre überarbeiteten Empfehlungen zur MS-Therapie vorgestellt (wir berichteten). Nun legen die US-Kollegen von der AAN mit einer eigene Praxisleitlinie nach. In vielen Punkten sind sie deutlich zurückhaltender als die europäischen Neurologen. Patientenberatung: Viele MS-Patienten sind mit der Diagnose erst einmal überfordert und können nicht alle Informationen über Krankheit und Therapieoptionen aufnehmen. Ärzte sollten daher über eine krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) an einem Extratermin sprechen. Dabei sind Präferenzen der Patienten und mögliche Nebenwirkungen zu beachten. Zur Beratung zählen die Leitlinienautoren auch, die Grenzen einer Therapie mit MS-Mitteln aufzuzeigen. So könne auf eine symptomatische Therapie oft nicht verzichtet werden. Für wichtig erachten die Neurologen einen Blick auf Komorbiditäten: Eine Depression sollte etwa vor Beginn der MS-Therapie angegangen werden, da sie die Adhärenz beeinträchtigen könne. Generell raten sie Ärzten, alle Punkte zu diskutieren, die einer guten Therapietreue im Wege stehen. Therapiestart: Ein Diskussionspunkt ist immer noch der Therapiestart. Die europäischen Leitlinien empfehlen bereits bei CIS-Patienten den Beginn einer DMT, und zwar mit Interferonen oder Glatirameracetat. Die neue US-Leitlinie ist hier deutlich zurückhaltender: Wird ein erstes demyelinisierendes Ereignis mit zwei oder mehr Hirnläsionen festgestellt – gemeint sind hier sowohl CIS- als auch RIS-Patienten –, sollten Ärzte Nutzen und Risiken einer DMT diskutieren und gegebenenfalls eine Therapie einleiten, falls die Betroffenen dies explizit wollen. Ein spezielles Therapeutikum nennen die US-Neurologen nicht, für eine solche Empfehlung sehen sie keine ausreichende Evidenz (Level-B-Empfehlung). Zeigen bislang unbehandelte CIS- oder MS-Patienten keine aktiven neuen Läsionen, und hatten sie in den vergangenen zwei Jahren keine Schübe, so können Ärzte auch weiterhin auf eine DMT verzichten und stattdessen regelmäßige MRT-Untersuchungen anbieten (mindestens einmal jährlich in den ersten fünf Jahren, Level-C-Empfehlung). Erst bei Patienten mit einer MS-Diagnose nach den 2010er-Kriterien und aktiven Läsionen oder vor kurzem aufgetretenen Schüben sprechen sich die Experten eindeutig für den Beginn einer DMT aus (Level B). Eine Ausnahme kann eine geplante Schwangerschaft sein, hier darf bis nach der Geburt gewartet werden. Therapiewahl: Klar positionieren sich die AAN-Experten vor allem zu MS-Kranken mit hochaktiver MS – hier sollten Ärzte mit Alemtuzumab, Fingolimod oder Natalizumab starten (Level B), bei JCV-positiven Patienten mit einem Antikörperindex über 0,9 sei Natalizumab jedoch nur zu empfehlen, wenn trotz des PML-Risikos ein erheblicher Nutzen zu erwarten ist. Vor einem Beginn mit Teriflunomid oder Cyclophosphamid sollten Männer mit MS über potenziell negative Auswirkungen auf die Spermien informiert werden. Von einer Therapie mit Mitoxantron wird aufgrund erheblicher Nebenwirkungen abgeraten, der Wirkstoff sollte nur in Ausnahmefällen verabreicht werden. Primär-progrediente MS: Wie auch in den europäischen Leitlinien wird eine Behandlung mit Ocrelizumab nahegelegt. Therapiewechsel: Kommt es trotz DMT zu neuen Behinderungen, Schüben oder MRT-Läsionen, sollten Ärzte mit den Patienten einen Therapiewechsel diskutieren. Voraussetzung ist jedoch, dass die Therapie lange genug bestand, um einen Effekt zu zeigen, und die Patienten adhärent sind. Die MS-Experten verweisen zwar darauf, dass Alemtuzumab, Natalizumab, Fingolimod und Ocrelizumab in Studien effektiver waren als die älteren injizierbaren MS-Mittel, können sich jedoch zu keiner konkreten Empfehlung durchringen. „Ärzte sollten bei einem Wechsel die Krankheitsaktivität, den Wirkmechanismus, die Adhärenz und das Nebenwirkungsprofil beachten“, empfehlen sie lediglich. Andere Gründe für einen Wechsel können Nebenwirkungen sowie Laborauffälligkeiten sein. Sofern Nebenwirkungen die Adhärenz beeinträchtigen oder Laborwerte dauerhaft aus dem Ruder laufen, sei ebenfalls an einen Wechsel zu denken. Als Alternative sehen die MS-Experten auch eine Dosisreduktion. PML-Risiko: Über ein erhöhtes PML-Risiko sind Patienten nicht nur unter Natalizumab, sondern auch unter Fingolimod, Rituximab, Ocrelizumab und Dimethylfumarat zu informieren. Ein Therapiewechsel unter Natalizumab sei zu erwägen, sobald die Patienten JCV-Antikörper-positiv werden, vor allem, wenn der Antikörperindex den Wert von 0,9 überschreitet. Ein Wechsel wird auch Patienten mit neutralisierenden Antikörpern gegen Natalizumab empfohlen. Betroffene sollten aber auch wissen, dass die Krankheit in den ersten sechs Monaten nach dem Absetzen von Natalizumab wieder verstärkt aktiv werden kann. Wird von Natalizumab auf Fingolimod gewechselt, sei dazwischen eine Therapiepause von acht bis zwölf Wochen ratsam. Schwangerschaft: Frauen sollten ihre DMT vor einer geplanten Schwangerschaft möglichst beenden, es sei denn, das Risiko für eine wiederaufflammende MS ist recht hoch. Therapiestopp: Sind Patienten mit schubförmiger MS unter einer DMT stabil und zeigen keine Krankheitsaktivität, raten die US-Experten zu einer Weiterführung der Behandlung. Wenn die Patienten dennoch auf einen Therapiestopp drängen, sollten sie sich wenigstens regelmäßig auf Zeichen einer MS-Aktivität untersuchen lassen. Anders bei sekundär-progredienter MS: Hier können Ärzte zu einem Ende der DMT raten, wenn die Patienten keine Schübe mehr haben und seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gehfähig sind (EDSS-Wert über 7). Auch bei CIS-Patienten, die unter der DMT bislang keine MS entwickelt haben, sei über einen Therapiestopp nachzudenken, da viele CIS-Patienten keine MS ausbildeten und daher der Nutzen einer unbegrenzt dauernden DMT sehr fraglich sei. *Abkürzungen: AAN: American Academy of Neurology CIS: Clinically Isolated Syndrome, klinisch isoliertes Syndrom EAN: European Academy of Neurology ECTRIMS: European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis EDSS: Expanded Disability Status Scale DMT: Disease-Modifying Therapy, krankheitsmodifizierende Therapie JCV: John-Cunningham-Virus, humanes Polyomavirus 2 MRT: Magnetresonanztomografie MS: Multiple Sklerose PML: Progressive Multifokale Leukenzephalopathie RIS: Radiologisch Isoliertes Syndrom

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