Wirtschaftliche Verordnung durch bundesweite Praxisbesonderheit

Übermäßiger Speichelfluss ist ein stark belastendes Folgesymptom einer Hirnschädigung mit erheblichen medizinischen und sozialen Konsequenzen für die betroffenen Kinder und deren Eltern. Wie im pädiatrischen Praxisalltag mit Glycopyrroniumbromid als Lösung zum Einnehmen eine effektive, leitliniengereichte [1] und wirtschaftliche Therapie der Sialorrhö – ohne Angst vor einem Regress – gelingen kann und was dabei zu beachten ist, erläutert Burkhard Frase, niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin aus Münster, im folgenden Interview. Patient*innen mit schweren neurologischen Grunderkrankungen, z.B. Zerebralparesen, angeborenen oder traumatisch bedingten Hirnschädigungen, leiden häufig an übermäßigem Speichelfluss, der sich negativ auf ihre Lebensqualität und sozialen Kontakte auswirkt [1]. Abb. 1: Bei erfolgreich therapierter Sialorrhö ist Teilhabe wieder leichter möglich Olesia Bilkei / stock.adobe.com [Symbolbild] × Glycopyrroniumbromid als Lösung zum Einnehmen (Sialanar® 320 Mikrogramm/ml Lösung zum Einnehmen) ist zurzeit das einzige zugelassene Arzneimittel zur symptomatischen Behandlung von schwerer Sialorrhö bei Kindern und Jugendlichen ab drei Jahren mit chronischen neurologischen Erkrankungen [2] und wird in der S2k-Leitlinie „Hypersalivation“ empfohlen [1]. Seit über zwei Jahren ist das Präparat im Indikationsgebiet als bundesweite Praxisbesonderheit anerkannt [3]. Damit haben niedergelassene Pädiater*innen die Möglichkeit, den betroffenen Kindern eine bedarfsgerechte, wirksame und leitlinienkonforme Therapie anzubieten – ohne Sorge vor einem Regress (Abb. 1). Porträt Burkhard Frase B. Frase × Herr Frase, wie steht es um die Versorgung von Kindern mit schwerer Sialorrhö, und was sind die Folgen? Frase: Krankhaft vermehrter Speichelfluss ist ein zusätzliches Problem für die ohnehin durch die chronischen neurologischen Grunderkrankungen schwer beeinträchtigten Patient*innen und deren Pflegepersonen, meist die Eltern. Ohne eine spezifische symptomatische Behandlung drohen medizinische Komplikationen. Die ständige Feuchtigkeit führt zu Hautreizungen, -ausschlägen und -infektionen im Mund- und Kinnbereich. Auch der Brustbereich ist häufig betroffen. Aufgrund des permanenten Flüssigkeitsverlusts kann es zu schwerer Dehydrierung und möglicherweise zu Gedeihstörungen kommen. Darüber hinaus sind die psychischen und sozialen Konsequenzen und der Verlust an Lebensqualität nicht zu unterschätzen. Wir haben heute die große Chance, mit Glycopyrroniumbromid als Lösung zum Einnehmen erstmals ein für Kinder zugelassenes Medikament für die Reduktion des krankhaft gesteigerten Speichelflusses verordnen zu können, und zwar ohne unser Arzneimittelbudget zu belasten. Dennoch erhalten viele Betroffene im pädiatrischen Praxisalltag noch keine adäquate leitliniengerechte Therapie. Wie erklären Sie die Versorgungslücke? Frase: Die meisten dieser schwer kranken Kinder sind an ein sozialpädiatrisches Zentrum angebunden. Dort erfolgt bei Bedarf auch die Ersteinstellung auf Glycopyrroniumbromid. Doch mitunter mangelt es noch bei der ambulanten Weiterversorgung. Dahinter steckt die weit verbreitete Sorge vieler niedergelassener Kolleginnen und Kollegen vor einem Regress. Manchmal stehen aber auch andere Probleme im Vordergrund, sodass nicht immer daran gedacht wird, die Sialorrhö und die damit verbundenen Beeinträchtigungen zu evaluieren. Sialanar® ist seit dem 1. Mai 2019 im zugelassenen Anwendungsgebiet† als bundesweite Praxisbesonderheit anerkannt [3]. Was bedeutet das für die pädiatrische Praxis? Frase: Praxisbesonderheiten sollen dabei helfen, Arzneimittel zu verschreiben, die jenseits des normalen vertragsärztlichen Budgets liegen. Damit soll sichergestellt werden, dass außergewöhnlich kostenintensive und behandlungsaufwändige Krankheiten bestmöglich versorgt werden, die Arztpraxis aber wirtschaftlich entlastet wird. Für niedergelassene Ärzt*innen bedeutet das konkret, dass die Arzneimittelkosten für das Produkt zu 100% aus dem Richtgrößenvolumen herausgerechnet werden – und zwar bereits ab der ersten Verordnung in dieser Indikation†. Deshalb ist es wichtig, solche Praxisbesonderheiten zu kennen und zu nutzen. Eine Antragstellung ist nicht erforderlich. Die Praxisbesonderheit für Glycopyrroniumbromid als Lösung zum Einnehmen ist bundesweit und damit auch in allen KVen gültig. Ausschlaggebend für die Anerkennung als Praxisbesonderheit war die frühe Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der dem Arzneimittel auf Basis der Studienlage im zugelassenen Anwendungsgebiet† einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie ‚Best Supportive Care‘ attestierte [4]. Im Rahmen der Erstattungsverhandlungen haben der Hersteller und der GKV-Spitzenverband dann eine Praxisbesonderheit vereinbart. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um Glycopyrroniumbromid als Praxisbesonderheit verordnen zu können? Frase: Die Voraussetzungen sind überschaubar: Behandelnde Ärzt*innen sollten Erfahrungen in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit neurologischen Erkrankungen haben und die genaue Diagnose mitteilen. Denn die Anerkennung als Praxisbesonderheit ist indikationsbezogen. Weiterhin sind die Vorgaben der Fachinformation [2] zu berücksichtigen; d.h. die Dosierung wird langsam eingeschlichen, individuell angepasst und regelmäßig überprüft. Die einzelnen Schritte der Dosistitration orientieren sich an dem Ansprechen und dem Auftreten unerwünschter Wirkungen. Wenn unkontrollierbare Nebenwirkungen auftreten, sollte wieder zu der vorherigen Dosisstufe, die noch gut vertragen wurde, zurückgekehrt werden. Dieser Prozess erfolgt in enger Rücksprache mit den Eltern oder Pflegenden und wird in der Patientenakte dokumentiert. Und wenn es schließlich doch zu einem Prüfverfahren kommt? Wie berechtigt ist die Sorge vor einem Regress? Frase: Wenn die genannten Voraussetzungen – indikationsbezogene Verordnung, individuell angepasste einschleichende Dosierung und mitgeteilte Diagnose – erfüllt sind und alles sorgfältig dokumentiert wurde, besteht kein Regressrisiko. Wie groß ist nach Ihren Erfahrungen der Aufwand für die Dokumentation? Frase: Nach meinen Erfahrungen stellt die Dokumentation überhaupt keinen zeitlichen Mehraufwand dar. In der Einstellungsphase stehe ich in regelmäßigem Kontakt mit den Eltern oder Pflegepersonen und frage sie gezielt nach Hinweisen auf potenzielle Nebenwirkungen wie beispielsweise Mundtrockenheit, Obstipation, Diarrhö, Erbrechen, Harnverhalt, Hitzegefühl oder verstopfte Nase [2]. Die Dokumentationsnotwendigkeit ist nicht hoch und gehört zur Routinedokumentation der behandelnden Ärzt*innen, damit sie jederzeit nachvollziehen können, wann und warum sie welchen Dosisschritt vorgenommen haben. Welche Chancen ergeben sich aus der Anerkennung als bundesweite Praxisbesonderheit für die Betroffenen? Frase: Diese Kinder und ihre Familien sind schon allein durch die Grunderkrankung schwer beeinträchtigt. Umso wichtiger ist es, dass Kinderärzt*innen durch die symptomatische Behandlung mit Glycopyrroniumbromid in der Formulierung als einfach dosierbare Lösung zum Einnehmen eine Symptomlinderung verschaffen können. Die Eindämmung des krankhaften Speichelflusses erhöht auch die Aussicht auf eine bessere soziale Teilhabe. Mit der Möglichkeit zur budgetschonenden Verordnung dürfte es heute nicht mehr dazu kommen, dass den betroffenen Kindern die Therapie mit Glycopyrroniumbromid aus unbegründeter Sorge vor einem Regress vorenthalten wird. Bei bestimmungsgemäßer Anwendung des Präparats ist keine Regress-androhung zu befürchten. †symptomatische Behandlung von schwerer Sialorrhö (chronischer krankhaft gesteigerter Speichelfluss) bei Kindern und Jugendlichen ab drei Jahren mit chronischen neurologischen Erkrankungen [2] Wirtschaftliche Verordnung ab dem ersten Behandlungsfall Für Glycopyrroniumbromid (Sialanar®) gilt eine bundesweite Praxisbesonderheit [3, 4]: Im Rahmen einer frühen Nutzenbewertung hat der GBA einen Zusatznutzen bescheinigt. Das Präparat ist seit dem 01.05.2019 ab dem ersten Behandlungsfall als Praxisbesonderheit anzuerkennen. Voraussetzungen für die Anerkennung der Praxisbesonderheit: Anwendung im Rahmen eines bestimmungsmäßigen Gebrauchs innerhalb der zugelassenen Indikation („in label use“)†. Die Vorgaben der Fachinformationen sind zu berücksichtigen [2]. Das Präparat sollte von Ärzten verordnet werden, die Erfahrung in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit neurologischen Erkrankungen haben. Empfehlungen zur Patientendokumentation [4]: Nennung der Dosierung inklusive Dosierungsschritte Nennung der Diagnose (ICD-10-Code) Literatur S2k-Leitlinie zur Hypersalivation der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V., überarbeitete Fassung von September 2018 Fachinformation Sialanar® 320 Mikrogramm/ml Lösung zum Einnehmen, Stand: Juni 2020 GKV-Anlage zur Anerkennung der Praxisbesonderheit, https://bit.ly/3BFIrML (letzter Abruf: 21.07.2021) https://www.kvbawue.de/praxis/verordnungen/arzneimittel/praxisbesonderheiten/ (letzter Abruf 2.8.2021) Impressum „Glycopyrroniumbromid bei schwerer Sialorrhö: Wirtschaftliche Verordnung durch bundesweite Praxisbesonderheit“ Interview und Literaturarbeit Bericht: Abdol A. Ameri, Weidenstetten Artikel gedruckt als Report in: Pädiatrie Supplement 2/2021 Mit freundlicher Unterstützung der Proveca GmbH, Düsseldorf Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Sabine Jost Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Glycopyrroniumbromid bei schwerer Sialorrhö†: Wirtschaftliche Verordnung durch bundesweite Praxisbesonderheit

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