Wie ein Zytostatikum die Wende überlebte

Dass ein Medikament mit den Jahren an Bedeutung gewinnt, kommt selten vor. Dass es ein Zytostatikum aus der DDR sogar in die USA geschafft hat, ist wahrscheinlich einmalig. Eine kurze Geschichte Bendamustins. Jena, Anfang der 1960er Jahre: Als sich der Chemiker Dr. Werner Ozegowski zusammen mit dem Chemieingenieur Dietrich Krebs am Institut für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie (IMET) auf die Suche nach neuen Zytostatika begaben, konnten sie die Erfolgsgeschichte einer der von ihnen synthetisierten Substanzen noch nicht erahnen. Die Arbeitshypothesen, nach denen sie sogenannte Dualantagonisten mit Stickstofflost-Gruppen synthetisieren wollten, bezeichnet der englische Biochemiker John Kendrew damals als „sophisticated“ – „verschroben hochintellektuell“ übersetzt es Dr. Walter Werner, ebenfalls Chemiker am IMET. In einem von Prof. Dr. Hans Knöll, dem damaligen Leiter und späteren Namensgeber des Instituts, konzipierten Testsystem – auch „Mäuseklinik“ genannt – wurden 17 der synthetisierten Derivate am Ehrlich-Aszites-Karzinom der weißen Maus getestet. Eines dieser Derivate, von Knöll eher nach Instinkt und Zufall ausgewählt, erwies sich als potenzielles Zytostatikum und ging in die präklinische und klinische Prüfung: IMET 3393 – besser bekannt als Cytostasan oder unter dem WHO-Freinamen Bendamustin. Eine echte Statistik gab es nicht Die „Mäuseklinik“ orientierte sich am Gesundheitszustand und Wohlbefinden der Mäuse – also an einer subjektiven Einschätzung der mit der Testreihe betrauten Biologen Dr. Dr. Walter Jungstand und Dr. Walter Gutsche. Für eine bessere internationale Vergleichbarkeit wurde das Testsystem daher später auf ein einheitliches 3-Stufen-Programm umgestellt, angelehnt an das normierte Testsystem CCNSC. Dieses testete an vier Transplantationstumoren, die sich sowohl histologisch als auch in ihrer chemotherapeutischen Sensibilität voneinander unterschieden. Cytostasan ließ sich in diesem 3-Stufen-Test allerdings nicht mehr als Präferenzsubstanz bestätigen. Was eigentlich ein Dilemma war, löste sich recht einfach: „Cytostasan hatte sich bereits klinisch voll etabliert und konnte gar nicht mehr rausgeschmissen werden“, so Werner. Aufgrund der geringen Toxizität und dem gutem therapeutischen Index wurde es bei den Indikationen M. Hodgkin (Stadium II –I V), Non-Hodgkin-Lymphom (NHL), Plasmozytom, Chronische Lymphatische Leukämie (CLL) und Mammakarzinom eingesetzt. Ab 1965 wurde Cytostasan im VEB Kombinat Jenapharm produziert. Doch schon bald führten allergische Reizungen bei den Arbeitern während des Produktionsprozesses zu erheblichen Problemen. Auch die Handhabung der fertigen Stickstofflost-Verbindung sowie die Konfektionierung gestalteten sich schwierig. Die Technische Kontrollorganisation (TKO) gab die Ampullen nicht mehr zum Verkauf frei, als die genaue Dosierung von 25 mg nicht mehr gewährleistet werden konnte. Damit war Cytostasan, trotz erheblichen Bedarfs in den Kliniken, für diese nicht mehr verfügbar. Den Finnen sei Dank Alle zwei Jahre traf sich eine kleine Delegation der Mitgliedsländer des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zu Beratungen auf dem Gebiet „Entwicklung von Krebsarzneimitteln“. Zum Leiter der RGW-Spezialisten-Gruppe „Kanzerostatika“ wurde 1977 Dr. Walter Werner ernannt. Eine glückliche Fügung, wie sich 1979 herausstellte: Da zwischen dem RGW und Finnland ein Kooperationsabkommen bestand, nahm auch eine finnische Delegation an der RGW-Konsultativtagung in Moskau teil. Nachdem sie von Cytostasan erfuhren, bestellten die Finnen sofort 400 Ampullen zur klinischen Prüfung in Turku. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es keine verkaufsfähigen Bestände mehr beim VEB Jena. Die Lösung: Nach den Vorarbeiten von Ozegowski und Krebs produzierten Werner und Kollegen eigenständig ein neues Cytostasan-Präparat mit exakt 25 mg Bendamustin-HCL, das von der TKO auch zum Export nach Finnland freigegeben wurde. Durch die anschließende Kooperation zwischen dem ZIMET (Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie, ehemaliges IMET) und VEB Jenapharm bei der Produktion stand Cytostasan den Kliniken der DDR ab 1980 wieder zur Verfügung. Andere Länder – andere Namen Handelsname von Bendamustin Land Levact Europa Treanda USA, Kanada, China, Hong Kong Ribomustin Russland Innomustine Taiwan Treakisym Japan Symbenda Singapur, Korea Jenas Bürger durchkreuzten die Pläne Der VEB Jenapharm plante bereits die Erweiterung seiner Krebsarzneimittel-Linie in Jena, als die Wiedervereinigung Deutschlands unerwartete Änderungen mit sich brachte. Unter dem Motto „Keine Zytostatika-Fabrik im Saale-Tal“ sprach sich die Bevölkerung gegen die Erweiterung aus. Schließlich stand Cytostasan zum Verkauf. Auf dem 15. Internationalen Krebskongress 1990 in Hamburg meldeten neben ribopharm auch Farmitalia, ASTA Medica, Cyanamid und Medac ihr Interesse an. Den Zuschlag erhielt 1993 ribopharm, inzwischen in ribosepharm GmbH umbenannt, die Cytostasan nach der Registrierung unter dem Handelsnamen Ribomustin vertrieb. Nach deutschem Arzneimittelrecht (AMG) galten Medikamente, die vor 1978 zugelassen waren, auch nach der Wende als fiktiv zugelassen. Ein Nachzulassungsverfahren musste aber innerhalb von zwölf Jahren abgeschlossen sein. So begannen 1993 die ersten Phase-III-Studien mit Ribomustin. Mit Beendigung des Nachzulassungsverfahrens 2005 wurde es schließlich offiziell „geboren“. Die Vertriebsrechte für Ribomustin in Deutschland und der EU besitzt seit 2007 Mundipharma GmbH. Mit der EU-weiten Zulassung 2012 wurde der Name in Levact geändert. Es wird in der Therapie von indolenten Non-Hodgkin-Lymphomen, multiplen Myelomen und der chronischen lymphatischen Leukämie eingesetzt. In Kombination mit Rituximab (B-R) wird Bendamustin sowohl von der DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie) als auch vom NCCN (National Comprehensive Cancer Network, USA) als Option für die Erst- und Zweitlinientherapie bei CLL und NHL empfohlen. In unserem Dossier "Hämato-Onkologie" finden Sie mehr zum Thema.

Springer Medizin

Wie ein Zytostatikum die Wende überlebte

Leitlinien kompakt für die Allgemeinmedizin

Facharzt-Training Allgemeinmedizin

Neu im Fachgebiet Allgemeinmedizin

Niedriger diastolischer Blutdruck erhöht Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen

Therapiestart mit Blutdrucksenkern erhöht Frakturrisiko

Metformin rückt in den Hintergrund

Myokarditis nach Infekt – Richtig schwierig wird es bei Profisportlern

Update Allgemeinmedizin