Immer weniger Tonsillektomien: Steigt damit das Risiko schwerer Infektionen?

In England wurde die Zahl der Tonsillektomien seit Ende der 1990er-Jahre zur Einsparung von Gesundheitskosten drastisch reduziert. Seitdem sind nicht nur die Klinikeinweisungen wegen akuter Tonsillitis, sondern vor allem auch die Raten invasiver Streptokokkeninfektionen deutlich gestiegen. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Die Frage, wann eine Tonsillektomie indiziert ist, wird international seit Jahren kontrovers diskutiert. In England wird die Indikation seit einigen Jahren zunehmend restriktiv gestellt, was erkennbar gesundheitspolitische Hintergründe hat: Hier spielte vor allem eine vom britischen NICE-Institut unterstützte Leitlinie* eine Rolle, in der strikte Kriterien für die Überweisung zur Op. formuliert wurden. 2011 landete die Tonsillektomie bei den Gesundheitsbehörden auf einer Liste mit „vergleichsweise ineffizienten Maßnahmen“, was sich nicht nur auf die klinische Wirksamkeit, sondern vor allem auch auf die Kosten bezieht. Welche Auswirkungen diese Sparpolitik auf die Rate schwerwiegender bakterieller Infektionen vor allem bei Kindern hat, haben Adonye Banigo, HNO-Arzt am Heatherwood and Wexham Park Hospitals NHS Trust, und sein Team untersucht. Dazu trugen sie die Daten sämtlicher Tonsillektomien in England im Zeitraum zwischen 1991 und 2014 zusammen. Diese Zahlen setzten sie altersabhängig in Relation zu den in dieser Zeit nachgewiesenen invasiven Infektionen mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (iGAS). Als solche definiert waren GAS-Isolate entweder in Kombination mit einem Streptokokken-induzierten toxischen Schocksyndrom oder im Zusammenhang mit anderen schweren Manifestationen wie Pneumonie, puerperale Sepsis oder nekrotisierende Fasziitis. Weniger Tonsillektomien, mehr iGAS-Infektionen Wie Banigo und Kollegen berichten, zeigte sich in allen Altersgruppen „eine starke negative Korrelation“ zwischen iGAS-Infektionen und Tonsillektomieraten. Ferner waren die Tonsillitis-Episoden deutlich positiv mit der Zahl der iGAS-Infekte assoziiert. Während in ganz England in den Jahren 1990/1991 noch 28.309 Tonsillektomien durchgeführt wurden (Kinder und Erwachsene zusammengenommen), waren es 2013/2014 lediglich 6327; dies entspricht einer Reduktion um knapp 78%. Die Hauptindikation für den Eingriff war bspw. 2004 noch die Tonsillitis (68% aller Fälle). Danach rückten andere Indikationen wie Schnarchen, obstruktive Schlafapnoe, Peritonsillarabszesse oder Tumoren zunehmend in den Vordergrund. Die vom Rückgang der Tonsillektomien am stärksten betroffene Altersgruppe waren Kinder zwischen fünf und neun Jahren (87,6%). Betrachtete man alle Kinder unter 15, betrug die jährliche Abnahme 30%. Dramatischer Anstieg der Klinikeinweisungen Im gleichen Zeitraum kam es den Forschern zufolge zu einem dramatischen Anstieg der Klinikeinweisungen wegen akuter Pharyngitis/Tonsillitis. Der stärkste Zuwachs (um den Faktor 6,85) betraf allerdings die Gruppe der über 15-Jährigen. Vor allem aber zeigte sich, dass auch die Zahl der iGAS-Infektionen zwischen 1990 und 2014 stetig angestiegen war: Bei den über 15-Jährigen hatte sie sich fast verdreifacht (von 426 auf 1271 Fälle), bei den Kindern unter 15 immerhin mehr als verdoppelt (von 94 auf 206 Fälle). Kleinkinder und Teenies besonders betroffen Die Korrelation zwischen Tonsillitiden und iGAS-Fällen war am stärksten bei den Kleinkindern zwischen ein und vier Jahren und bei den Teenies zwischen 10 und 14. Eine Korrelation beweist noch keinen Kausalzusammenhang; dieser lässt sich über eine derartige retrospektive Bevölkerungsstudie auch nicht erbringen. Allerdings weisen Banigo und sein Team darauf hin, dass die Tonsillen mit ihren tiefen und verzweigten Krypten ein ideales Reservoir für bakterielle Erreger darstellen; in den Epithelzellen dieser Krypten könnten Streptokokken unter Umständen auch längere Zeit persistieren, so die HNO-Experten. So könne man zumindest vermuten, dass es mit den gesunkenen Tonsillektomieraten zu einer Zunahme von Überträgern und damit auch zu steigenden Infektionsraten, unter anderem mit den gefürchteten invasiven GAS gekommen ist. Um zu klären, ob hier wirklich ein ursächlicher Zusammenhang besteht und welchen Nutzen ggf. die chirurgische Entfernung der Mandeln mit sich brächte, wären epidemiologische Studien, möglichst auch ein Vergleich zwischen Ländern mit hohen und solchen mit niedrigen Tonsillektomieraten erforderlich. *SIGN (Scottish Intercollegiate Guidance Network): Management of sore throat and indication for tonsillectomy Das Wichtigste in Kürze Frage: Hat der Rückgang der Tonsillektomien in England zu einem Anstieg schwerer Streptokokkeninfektionen bei Kindern geführt? Antwort: In einer retrospektiven Bevölkerungsstudie konnte eine deutliche negative Korrelation gezeigt werden. Bedeutung: Die Autoren vermuten, dass sich in den Krypten der Tonsillen Reservoirs bilden, in denen die Erreger persistieren können. Einschränkung: Eine Empfehlung für die Tonsillektomie lässt sich aus der Studie jedoch nicht ableiten, da das Design ungeeignet ist, einen Kausalzusammenhang nachzuweisen.

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