Einordnung der Befunde in bisherige Untersuchungen zu Bewegungszeit, Belastungsintensität und Bewegungsumfang im Sportunterricht
Im Fokus der vorliegenden Untersuchung stand die Ermittlung von Bewegungszeit, Belastungsintensität und Bewegungsumfang im Sportunterricht am Beispiel des Unterrichtsinhalts Fußball. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich gut in den existierenden Forschungsstand in Deutschland einordnen und erweitern diesen vor allem um differenzierte Analysen bzgl. der Unterrichtsdauer, des Settings und des Geschlechts sowie um die Befunde zum Bewegungsumfang.
Die Bewegungszeit der Klasse lag in der vorliegenden Studie bei etwa der Hälfte der Brutto-Unterrichtszeit und ist damit vergleichbar mit vorherigen Studien (Hoffmann,
2011). Die Netto-Unterrichtszeit war aufgrund der aufwändigen Ausstattung der Schüler*innen mit HF- und Positions-Messgeräten niedriger als in anderen Studien (Hoffmann,
2011; Hoppe & Vogt,
1979). Sie wurde aber im Vergleich zu Hoffmann (
2011) im Sinne der Bewegungszeit besser ausgenutzt. Der Unterrichtsinhalt Fußball scheint eine Stundengestaltung zu ermöglichen, die mehr Raum für Bewegungszeit gibt als auf Basis der sportartübergreifenden Studie von Hoffmann (
2011) zu erwarten war. Wie auch in früheren Studien (Dietrich,
1964; Hoffmann,
2011; Hoppe & Vogt,
1979), war die relative Bewegungszeit in Einzelstunden höher als in Doppelstunden. Die Bewegungszeit schien vor allem dann einen hohen Stundenanteil auszumachen, wenn in einer Stunde viel gespielt wurde, während der Aufbau und die Erklärung von (komplexen) Übungen eher auf Kosten der Bewegungszeit gingen. Ähnlich wie bei Hofmann (
2011) weisen die vorliegenden Ergebnisse darauf hin, dass das Setting keinen Effekt auf die Bewegungszeit hat.
Ergebnisse zur Ausgestaltung der Netto-Unterrichtszeit liefern die Befunde zur Belastungsintensität. Insgesamt lag die durchschnittliche HF etwa im moderaten Belastungsbereich (146 min
−1) und war im Vergleich mit den fußballspezifischen Ergebnissen von Adler et al. (
2006) deutlich höher. Unterschiede wurden vor allem zwischen Einzel- und Doppelstunde deutlich, was durch die spielerische Schwerpunktsetzung in Einzelstunden erklärt werden könnte. Im Vergleich zu den Doppelstunden war in Einzelstunden außerdem die Varianz der HF höher, was darauf hindeuten könnte, dass sich Schüler*innen in Spielphasen unterschiedlich stark engagieren. Die höheren HF in Doppelstunden während der Instruktions- und Gesprächszeit könnten dadurch bedingt sein, dass in Einzelstunden meist zu Stunden- bzw. Spielbeginn ein längeres Unterrichtsgespräch stattfand, wohingegen in Doppelstunden vermehrt kurze Instruktionen und Gespräche zwischen den einzelnen Übungen eingebracht wurden. Settingbedingte Unterschiede zeigten sich lediglich für die Instruktions- und Gesprächszeit, was sich auf die Größe der Räumlichkeiten bzw. Spielflächen zurückführen lassen könnte. Indoor stand den Klassen ein Hallendrittel im geschlossenen Raum zur Verfügung, wohingegen bei der Outdoor-Messung ein komplettes Fußballfeld im Freien genutzt wurde. Outdoor bedurfte es daher längerer Lauf- bzw. Gehwege zu Gesprächszwecken, wodurch die durchschnittliche HF während der Instruktions- und Gesprächszeit möglicherweise stärker sank.
Die Ergebnisse zum Bewegungsumfang sind aufgrund fehlender Vergleichsstudien nur schwer einzuordnen. Im Durchschnitt bewegten sich die Schüler*innen 57,6 m/min, was für Einzelstunden (23 min Bewegungszeit) in etwa eine Streckenlänge von 1,3 km und für Doppelstunden (50 min Bewegungszeit) 2,9 km bedeuten würde. Im Vergleich der Stundendauer zeigte sich, dass die Schüler*innen in Einzelstunden mehr Meter pro Minute zurücklegten als in Doppelstunden. Dies ist, ähnlich der HF, möglicherweise durch den hohen Spielanteil in Einzelstunden zu begründen.
Der Geschlechtervergleich belegt, dass Jungen sowohl während der Netto-Unterrichtszeit als auch während der Bewegungszeit höhere Bewegungsumfänge erzielten als Mädchen. Eine Erklärung dafür könnte die höhere Affinität von Jungen zu Fußball und ein damit verbundenes höheres Engagement im Sportunterricht sein (Bräutigam,
2020). Besonders in Einzelstunden zeigte sich die hohe Laufbereitschaft der Jungen. Da Einzelstunden in der vorliegenden Untersuchung vermehrt Spielanteile aufwiesen, könnte dies darauf hindeuten, dass Jungen vor allem im fußballerischen Spiel aktiver als Mädchen sind. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse bei höherem Bewegungsumfang der Jungen aber keinen signifikanten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in der Belastungsintensität (HF). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Jungen über eine bessere allgemeine oder sportartspezifische Ausdauerleistungsfähigkeit verfügen (Starker et al.,
2007). Adler et al. (
2006) verweisen hierzu auf die divergierende Relevanz von Motivation, Spielfähigkeit und -fertigkeit, Spielverständnis, Konstitution, Spielverhalten der Gruppe sowie psychophysische Vorbelastungen als beeinflussende Faktoren in Sportspielen. Gerade im Ballsportunterricht sollten Lehrkräfte demnach verstärkt die Mädchen im Blick behalten und Übungssituationen schaffen, die sie motivieren und sie sowohl konditionell als auch technisch und taktisch fördern (Balz,
2012).
Diskussion der Befunde aus gesundheits-, trainingswissenschaftlicher und sportpädagogischer Perspektive
Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht sind vor allem die realisierte Bewegungszeit sowie die Intensität der körperlichen Aktivität von Interesse. Geht man von drei Schulstunden für das Fach Sport pro Woche aus, könnten bei ähnlicher Stundengestaltung wie in der vorliegenden Studie wöchentlich etwa 70–75 min Bewegungszeit ermöglicht werden. Allein die Höhe der durchschnittlichen Belastungsintensität von 153 min
−1 während der Bewegungszeit weist darauf hin, dass im Sportunterricht gesundheitlich bedeutsame Intensitäten der körperlichen Aktivität erreicht werden können (Wydra,
2010). Die Schüler*innen verbrachten in den hier analysierten Einzelstunden 23 min und in Doppelstunden 50 min in moderater bis intensiver Belastung (durchschnittliche HF > 140 min
−1). Damit kann der reguläre Sportunterricht nur einen kleinen Beitrag zur empfohlenen täglichen Bewegungszeit von 90 min leisten, der aber gerade für sonst inaktive Kinder und Jugendliche relevant ist (Rütten & Pfeifer,
2016). An Tagen mit Sportunterricht verbleiben dennoch (mindestens) 40 bis 70 min, an Tagen ohne Sportunterricht mehr, in denen die Schüler*innen selbstständig oder vereinsgebunden moderat bis intensiv aktiv sein sollten, um gesundheitswirksame körperliche Aktivität zu realisieren. Bedeutsame direkte Gesundheitswirkungen können durch Schulsport nur erfolgen, wenn dieser im Hinblick auf Quantität (mehr Sportunterrichtsstunden, mehr körperliche Aktivität im Schulalltag) und Qualität (Gestaltung des Sportunterrichts bzw. Schulsports als Gesundheitssport) eine Veränderung erfährt (Tittlbach et al.,
2010). Die vorliegende Studie gibt dabei lediglich Hinweise auf potenzielle Gesundheitswirkungen im physischen Bereich. Weitere Untersuchungen wären notwendig, um den Beitrag des Sportunterrichts zu weiteren Kernzielen des Gesundheitssports angemessen beurteilen zu können. Hierzu gehören beispielsweise Studien zum Aufbau psychosozialer Gesundheitsressourcen (Demetriou, Sudeck, & Höner,
2014) oder zur sport- bzw. bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz (Ptack, Strobl, Töpfer, & Tittlbach,
2019; Volk et al.,
2021).
Aus trainingswissenschaftlicher Sicht kann Sportunterricht, bei ähnlicher Stundengestaltung wie in der vorliegenden Untersuchung, nur geringe Trainingswirkungen im Bereich der aeroben und anaeroben Ausdauerleistungsfähigkeit erzielen (Hottenrott & Gronwald,
2016). Eine durchschnittliche HF während der Bewegungszeit von 153 min
−1 über 23 min in Einzelstunden bzw. 50 min in Doppelstunden reicht nur dann aus, wenn der Belastungsreiz mindestens zwei bis drei Mal pro Woche oder gar täglich bei ähnlicher bzw. höherer Intensität erfolgt. Weitere Untersuchungen in trainingswissenschaftlicher Perspektive könnten die langfristigen Auswirkungen eines an Sportspielen orientierten Sportunterrichts auf die Ausdauerleistungsfähigkeit von Schüler*innen untersuchen oder weitere Untersuchungsparameter (Kraft, Schnelligkeit, Koordination etc.) mit angepassten Inhalten bzw. Sportarten berücksichtigen. Allerdings zeigen bisherige Studien, dass die Nachhaltigkeit trainingswissenschaftlicher Interventionen im Sportunterricht begrenzt ist (Granacher, Merkel, Michelangeli, & Gollhofer,
2006; Lüder et al.,
2018; Thienes,
2008) und dass Sportunterricht aufgrund anderer unterrichtlicher Zielstellung im Sinne eines mehrperspektivischen Ansatzes nicht allein auf Training zur Förderung der sportlichen Leistungsfähigkeit ausgelegt sein kann (Herrmann, Sygusch, & Töpfer,
2020; Töpfer & Sygusch,
2011). Somit gilt auch hier, dass Quantität und Qualität des Schulsports aktuell nicht genügen, um nachhaltige, trainingswirksame Effekte zu erzielen. Als Konsequenz sollten Schüler*innen, durch die Kombination praktischer Erfahrungen mit kognitiven Elementen, Trainings- und Handlungskompetenz erlangen, um auch außerhalb des Sportunterrichts Training längerfristig zu betreiben (Baschta & Thienes,
2011).
Sportpädagogisch sind die untersuchten Parameter in drei Themensträngen relevant. Ansätze, die sich mit Training im Sportunterricht auseinandersetzen, konzipieren Training als pädagogisch wertvolle Handlungsform, die Schüler*innen dazu befähigt, spezifische individuelle Körpererfahrungen zu sammeln und selbstbestimmt mit einer konkreten sportlichen Handlungspraxis umzugehen. Im Sportunterricht sollen Schüler*innen beispielsweise lernen subjektive Beanspruchungen und objektive Belastungen zueinander in Beziehung zu setzen und in ein Gleichgewicht zu bringen (Baschta & Lange,
2007). Empirische Daten zu Bewegungszeit, Belastungsintensität und Bewegungsumfang bieten somit eine Chance, Schüler*innen mit objektiven Daten zu relevanten Belastungsnormativa zu unterstützen, und liefern Ansatzpunkte für eine kritische Reflexion von technologischen Wissensbeständen und Praktiken des Sports (Ehni,
2000). Auch sportpädagogische Ansätze zur Qualität von Sportunterricht thematisieren Parameter zu körperlicher Aktivität und zum Bewegungsverhalten. Ältere Arbeiten formulieren hohe Anteile an Bewegungszeit als notwendige Kriterien guten Sportunterrichts (Gebken,
2005; Adler et al.,
2006). Dagegen betonen aktuelle Konzeptionen, motorische und kognitive Aktivitäten ins Verhältnis zu bringen und plädieren für Bewegungslernzeiten (Herrmann & Gerlach,
2020). Für einen Sportunterricht, der als geregeltes Wechselspiel von motorischen Lern- und Übungsphasen sowie Reflexionsphasen inszeniert wird, kann diese Studie einen Beitrag leisten, Zeitanteile motorischer Aktivität und Instruktion im Unterricht zu quantifizieren. Anknüpfend bietet die Perspektive einer verbesserten Klassenführung („classroom management“) hier wesentliche Optimierungspotenziale, um die verfügbare Unterrichtszeit in eher übungsorientierten Unterrichtseinheiten effektiv als Bewegungs- und Bewegungslernzeit zu nutzen. Vor dem Hintergrund des Erziehungs- und Bildungsauftrags des Sportunterrichts sollten sich zukünftige Studien auf die Evaluation von Unterrichtsvorhaben fokussieren, in denen motorische Aktivitäten eine Einheit mit an Kompetenzorientierung ausgerichteten Instruktionen und kognitiven Aufgabenstellungen bilden. Darauf aufbauend stellen beispielsweise Ansätze zur sport- bzw. bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz ein prägnantes Handlungsfeld für eine motorisch-kognitiv aktive Inszenierung von Sportunterricht dar (Töpfer, Bähr, König, Reuker, & Sygusch,
2020). Dabei können Bewegungszeiten, Belastungsintensitäten und Bewegungsumfänge im Sportunterricht eine bedeutsame, aber immer nur begleitende Rolle einnehmen und wären in sportpädagogischer Perspektive notwendig mit Gesundheitsbildung, Kompetenzentwicklung und kognitiver Aktivierung zu koppeln (Demetriou et al.,
2019; Sygusch, Brandl-Bredenbeck, Tittlbach, Ptack, & Töpfer,
2020).
Limitationen
Aus methodenkritischer Sicht sind im Rahmen der vorliegenden Studie einige Punkte anzumerken. Mit Blick auf die Stichprobe nahmen deutlich weniger Mädchen als Jungen sowie Mittel- als Unterstufenschüler*innen an der Untersuchung teil, und es wurde eine unterschiedliche Anzahl an Einzel- und Doppelstunden erfasst. Zudem fand die Untersuchung zeitversetzt über einen Zeitraum von sechs Monaten statt, weshalb entwicklungsbedingte Leistungszuwächse der Schüler*innen nicht ganz auszuschließen sind. Zukünftig sollte noch stärker darauf geachtet werden, eine im Hinblick auf Klassenstufe, Geschlecht sowie Unterrichtsdauer ausbalancierte Stichprobe zu untersuchen und die Erhebungszeitpunkte näher aneinander zu legen. Wünschenswert wäre es auch, die Vorerfahrung der Schüler*innen im Fußball zu erfragen und in die Interpretation der Ergebnisse einzubeziehen oder sogar auf eine alternative Sportaktivität für die Untersuchung von Geschlechterunterschieden zurückzugreifen. Zudem könnte die Erfassung des Unterrichtsziels bei der Einordnung und Interpretation der Befunde hilfreich sein.
Zur Erfassung der Bewegungszeit wurde ausschließlich die potenziell zur Verfügung stehende Zeit für Bewegung erhoben. In zukünftigen Forschungsarbeiten könnte zusätzlich die Einzelaktivität der Schüler*innen analysiert werden, um Aufschluss über die Heterogenität der Bewegungsaktivitäten innerhalb einer Klasse zu geben.
Aufgrund von Stahlträgern an der Decke der Turnhalle konnten die Positionsdaten nur im Outdoor-Setting erfasst werden. Ein Settingvergleich für den Bewegungsumfang wäre im Rahmen der Untersuchung durchaus interessant gewesen, um Rückschlüsse auf die Bedeutung der Raumgröße zu ziehen. Zukünftige Forschungsbemühungen sollten, sofern diese technischen Probleme überwindbar sind, einen Indoor-Outdoor-Vergleich in Bezug auf den Bewegungsumfang anstreben.
Obwohl die Schüler*innen angehalten waren, sich bereits in der Pause vor dem Sportunterricht umzuziehen, um möglichst reibungslos mit der technischen Ausstattung beginnen zu können, ging relativ viel Unterrichtszeit mit dem Anbringen der Messinstrumente verloren. Wünschenswert für zukünftige Forschungsbemühungen wäre es, die messmethodische Organisation so vorzuschalten, dass die Brutto-Unterrichtszeit vollständig für unterrichtliche Zwecke zur Verfügung steht, um möglichst genaue Aussagen zum tatsächlichen Verlauf einer Sportstunde treffen zu können.
Bei der Interpretation signifikanter Ergebnisse zur HF und zum Bewegungsumfang ist zu berücksichtigen, dass die Effektgrößen insgesamt eher gering waren (η2 < 0,06). Außerdem ist zu bedenken, dass die Belastungsintensität nicht unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen wie Hitze, Kälte oder Flüssigkeitszufuhr ist. Darum müssen signifikante Befunde zur Belastungsintensität im Rahmen dieser Untersuchung vorsichtig interpretiert werden. Hinzu kommt, dass die Analyse der aggregierten Daten (durchschnittliche HF) keine Aussagen zur kurzfristigen Belastungsintensität in anaeroben bzw. kurz intensiven und häufig wechselnden Intensitäten ermöglicht. Zukünftige Untersuchungen könnten zusätzlich Intensitätsbereiche analysieren, um genauere Daten zur Belastungsintensität der Schüler*innen zu erhalten.