Einleitung
Mit einer jährlichen Inzidenz von über 40.000 Rupturen des vorderen Kreuzbandes (VKB) deutschlandweit sowie etwa 1/1000 in der Altersgruppe 15–25 Jahre gehört die VKB-Ruptur zu den häufigsten Sportverletzungen junger Patienten [
1‐
3]. Insbesondere bei jungen Patienten steht laut aktueller S1-Leitlinie aufgrund des hohen funktionellen Anspruchs sowie des langfristig erhöhten Arthroserisikos bei VKB-Insuffizienz die operative Therapie im Vordergrund, die in der Regel durch eine Rekonstruktion mit autologer Sehnenplastik erfolgt [
4,
5].
Für ein optimales postoperatives Outcome mit langfristig möglichst vollständiger Wiederherstellung der Funktionalität und Belastbarkeit ist die physiotherapeutische Nachsorge von entscheidender Bedeutung. Diese erfolgt üblicherweise entsprechend standardisierter Nachbehandlungsschemata. Die Relevanz einer konsequenten Physiotherapie mit frühzeitigem Beginn der Therapie, kontinuierlicher Wahrnehmung aller Termine und regelmäßiger Kontrolle des Fortschritts ist in Studien belegt [
6,
7].
Seit Ende 2019 verbreitet sich die „coronavirus disease“ 2019 (COVID-19) weltweit. In Deutschland wurde zum Infektionsschutz ab dem 11.03.2021 an die Bevölkerung appelliert, Kontakte zu beschränken. Bereits kurz darauf trat ab dem 22.03.2020 der erste „Lockdown“ in Kraft und führte zu deutlichen Einschränkungen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens [
8]. Bisher ist unseres Wissens ungeklärt, welche Auswirkungen die COVID-19-Pandemie sowie die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen auf die postoperative Nachsorge hatten und auch die Folgen für das klinische Outcome sind bislang nicht bekannt. Um dies zu untersuchen, führten wir in der vorliegenden Studie daher eine Befragung von Patienten durch, welche während oder direkt vor der Pandemie eine Rekonstruktion des VKB erhielten und ergänzten dies durch postoperativ erfasste klinische Untersuchungsbefunde. Ziel war es, zu ermitteln, ob die im Rahmen der Pandemie getroffenen Maßnahmen einen Einfluss auf die physiotherapeutische und ärztliche Nachsorge nach VKB-Rekonstruktionen hatten, sowie ob es hierdurch zu einer Beeinträchtigung der klinischen Ergebnisse kam. Dabei sollte die VKB-Rekonstruktion in erster Linie als Beispiel für eine Vielzahl an orthopädischen und auch sonstigen Erkrankungen dienen, bei denen eine enge ärztliche und physiotherapeutische Betreuung erforderlich ist.
Material und Methoden
Ethikvotum
Die Durchführung der Studie wurde von der Ethikkommission der Charité – Universitätsmedizin Berlin genehmigt (EA2/072/21).
Patienten
Für die Durchführung dieser retrospektiven Kohortenstudie wurden alle volljährigen Patienten kontaktiert, die im Zeitraum zwischen September 2019 und April 2020 am Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité – Universitätsmedizin Berlin eine Rekonstruktion des VKB erhalten haben. Diese Patienten wurden je nach Operationszeitpunkt in zwei Gruppen eingeteilt: eine 2019 operierte Gruppe, welche mindesten 12 Wochen Physiotherapie vor Inkrafttreten des ersten „Lockdowns“ erhielt, sowie eine 2020 operierte Gruppe, welche während der ersten 3 postoperativen Monate von Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie sowie den dadurch bedingten „Lockdown“ betroffen war.
Datenerhebung
Bei Einverständnis zur Studienteilnahme erfolgte eine telefonische Befragung der Teilnehmer sowie eine Auswertung der im Rahmen der postoperativen Nachkontrollen routinemäßig erfassten klinischen Untersuchungsbefunde. Im Rahmen der telefonischen Datenerhebung wurden die Teilnehmer anhand eines vorher definierten standardisierten Fragebogens zu ihren Erfahrungen bei der postoperativen physiotherapeutischen und ärztlichen Nachsorge in Zeiten der COVID-19-Pandemie befragt. Erfragt wurden dabei (jeweils separat für die ärztliche und physiotherapeutische Nachsorge) die Wartezeit auf einen Termin, der Zeitraum zwischen Operation und Wahrnehmen des ersten Termins, die Anzahl vergeblicher Terminanfragen, die Anzahl selbst oder durch die jeweilige Praxis abgesagter Termine, Einschränkungen der Behandlung durch die Pandemie, aufgrund der Pandemie eingeführte alternative Therapieoptionen, generelle Zufriedenheit mit der Behandlung (auf einer Skala von 1–10) sowie die Einschätzung des Einflusses der Pandemie auf die Qualität der Nachsorge (auf einer Skala von 1–10). Zudem wurde erfragt, wie lange die Patienten postoperativ krankgeschrieben waren, ob die Dauer der Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Homeoffice im Rahmen der Pandemie verkürzt werden konnte und ob sich die Patienten erneut in einer vergleichbaren Situation operieren lassen würden. Ergänzend zu den telefonisch erhobenen Daten wurde bei allen Patienten der im Rahmen der routinemäßigen Nachkontrollen nach klinischer Untersuchung dokumentierte Bewegungsumfang (Neutral-Null-Methode) des operierten Knies 3 Monate postoperativ erfasst und es wurde der Anteil an Patienten mit einem Streck- oder Beugedefizit errechnet. Hierbei wurden ein Streckdefizit von ≥ 5° oder eine maximale Beugefähigkeit von < 120° als relevante Bewegungseinschränkung gewertet. Die Befragung und die Auswertung der klinischen Untersuchungsbefunde erfolgte im April 2021, sodass sich zu diesem Zeitpunkt alle Patienten bereits seit mindestens 12 Wochen in der postoperativen Nachbehandlung befanden.
Statistische Auswertung
Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Programm SPSS in der Version 27 (IBM, New York, NY, USA). Zur Untersuchung der Unterschiede zwischen beiden Gruppen auf Signifikanz wurden bei parametrischen Variablen der Student’s T‑Test, bei nichtparametrischen Variablen der Mann-Whitney-U-Test sowie bei binären Variablen der Chi-Quadrat Test genutzt. Für den Vergleich von > 2 Gruppen wurde eine einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA) durchgeführt.
Diskussion
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich unseres Wissens um die erste Analyse der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die physiotherapeutische und ärztliche Nachsorge aus Patientensicht. Durchgeführt wurde die Befragung an Patienten nach einer Rekonstruktion des VKB. Diese Operation bietet in unseren Augen optimale Voraussetzungen für die Durchführung einer solchen Studie, da die Nachbehandlung stark standardisiert abläuft, was eine hohe Vergleichbarkeit sicherstellt. Zudem konnte für Rekonstruktionen des VKB bereits der hohe Stellenwert der physiotherapeutischen postoperativen Nachbehandlung für das langfristige Operationsergebnis belegt werden [
7,
9‐
11]. Dennoch wollen wir an dieser Stelle betonen, dass sich ein großer Teil der Ergebnisse vermutlich auch auf andere Erkrankungen übertragen lässt, bei denen eine enge ärztliche und physiotherapeutische Nachbehandlung notwendig ist. Die Rekonstruktion des VKB wurde für die vorliegende Studie aus den o. g. Gründen stellvertretend als Beispiel gewählt. Insgesamt konnten wir zeigen, dass im Jahr 2020 im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie die Wartezeiten auf Termine signifikant zunahmen, signifikant mehr Termine abgesagt wurden und es eine deutliche Tendenz zu einem verminderten Bewegungsumfang 3 Monate postoperativ gab. Gleichzeitig konnte dennoch durch eine Ausweitung der Möglichkeiten zur Arbeit im Homeoffice die Dauer der postoperativen Arbeitsunfähigkeit bei vielen Patienten reduziert werden.
Hinsichtlich der physiotherapeutischen Nachsorge berichteten die Patienten von einer signifikant längeren Wartedauer auf Termine sowie auch einer höheren Anzahl abgesagter Termine und vergeblicher Terminanfragen. Folgerichtig fand auch der erste postoperative Termin zur Physiotherapie signifikant später statt (1,15 Wochen 2019 vs. 1,88 Wochen 2020). Dies bestätigt den allgemeinen Eindruck, dass die COVID-19-Pandemie einen relevanten Einfluss auf die postoperative Nachsorge hatte, obwohl Physiotherapie auch während aller „Lockdown“-Phasen als Teil der Grundversorgung weiter in Anspruch genommen werden konnten. Eine mögliche Erklärung für diese Auswirkungen bietet eine Onlineumfrage mit 1370 Therapeuten in der ambulanten Heilmittelversorgung, in der 88 % der Teilnehmer eine höhere psychische Belastung aufgrund der COVID-19-Pandemie angaben, insbesondere aufgrund des zeitlichen Drucks durch die Hygienemaßnahmen, wirtschaftlichen Sorgen und Angst vor Infektion Angehöriger [
12]. Interessanterweise steigerte sich die durchschnittliche Wartedauer auf Termine von 1,09 Wochen auf 2,57 Wochen um mehr als das doppelte, wohingegen es beim Zeitpunkt des ersten postoperativen Termins zu einer etwas geringeren Änderung von 1,15 auf 1,88 Wochen kam. Dies lässt vermuten, dass einige Patienten entsprechende Schwierigkeiten bereits vorausgesehen und sich daher früher als üblich um Termine gekümmert hatten.
Auch wenn bislang keine weitere Studie zu den Auswirkungen auf die physiotherapeutische Nachsorge nach VKB-Rekonstruktion in Deutschland vorliegt, bestätigen die international zu ähnlichen Fragestellungen veröffentlichten Studien diesen Eindruck, teils mit noch deutlicheren Unterschieden. So berichtet eine indische Studie, dass dortige Physiotherapeuten die Anzahl ihrer Patienten und die durchschnittliche Länge der Therapiesitzungen reduzieren mussten und sich durch das permanente Tragen der Schutzkleidung und die Infektionsangst physisch und psychisch beeinträchtigt fühlten [
13]. In einer weiteren Studie aus Portugal bei 619 Physiotherapeuten gaben 73,2 % an, dass sie pandemiebedingt keinen direkten Patientenkontakt mehr hatten und sich stattdessen oft für eine Therapie aus der Distanz mit schriftlichen Behandlungsverordnungen und synchroner Behandlung per Videokonferenz entschieden [
13]. Im Vergleich dazu scheinen die Auswirkungen in Deutschland eher gering geblieben zu sein, was sich auch in der trotz der Einschränkungen hohen Zufriedenheit (2020 im Durchschnitt 7,8/10) niederschlägt.
Insgesamt sehr ähnliche Ergebnisse zeigten sich in unserer Studie hinsichtlich der ärztlichen Nachbehandlung. Auch hier kam es zu einer signifikanten Zunahme der Wartedauer auf Termine sowie der Anzahl vergeblicher Terminanfragen und abgesagter Termine mit einer entsprechenden Verzögerung des ersten postoperativen Nachsorgetermins. Im Gegensatz zur Physiotherapie gab es hier nur eine Tendenz zu etwas geringerer Zufriedenheit ohne signifikanten Unterschied zwischen 2019 und 2020 (7,48/10 vs. 7,16/10, p = 0,4). Eine mögliche Erklärung hierfür ist der insgesamt deutlich intensivere Patientenkontakt während der physiotherapeutischen Behandlung, sodass Einschränkungen hier noch deutlicher wahrgenommen werden. Dazu passend gaben nur 8,5 % der Patienten an, sich bei der ärztlichen Nachbehandlung deutlich eingeschränkt gefühlt zu haben, wohingegen 39,8 % deutliche Einschränkungen in der physiotherapeutischen Nachsorge verspürten.
Neben den subjektiven Angaben der Patienten haben wir unseres Wissens als erste Studie auch die Auswirkungen auf das klinische Ergebnis in Form des postoperativen Bewegungsumfangs nach 3 Monaten untersucht. Hierbei zeigte sich bei den 2020 operierten Patienten eine deutliche Tendenz zu einem häufigeren Auftreten postoperativer Bewegungsdefizite gegenüber 2019, welche allerdings nicht signifikant war (Beugung: 10 % vs. 23,3 %, p = 0,197; Streckung: 4,3 % vs. 18,8 %, p = 0,097). Auch wenn (mutmaßlich aufgrund des zu kleinen Patientenkollektivs) keine signifikanten Unterschiede gezeigt werden konnten, bestätigt die deutliche Tendenz unserer Meinung nach dennoch den hohen Stellenwert der postoperativen Nachsorge sowie die relevanten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie.
Trotz der häufig geschilderten Einschränkungen in der Nachsorge gaben 34,9 % der 2020 operierten Patienten an, dass sich durch die im Rahmen der Pandemiebekämpfung erfolgte Ausweitung der Möglichkeiten zur Arbeit im Homeoffice die Dauer der Arbeitsunfähigkeit verkürzte. Im Vergleich mit den 2019 operierten Patienten gab es 2020 dennoch über das gesamte Jahr betrachtet eine Tendenz zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit (7,77 Wochen vs. 8,53 Wochen, p = 0,688). Eine mögliche Erklärung bietet die genauere Betrachtung der Arbeitsunfähigkeitsdauer in den einzelnen Tertialen. Während es im ersten Tertial 2020 zu einem deutlichen Anstieg von 7,77 auf 13,04 Wochen kam, fiel die durchschnittliche Dauer bereits ab dem 2. Tertial mit 7,1 Wochen wieder deutlich ab und hielt sich auch im 3. Tertial mit 6,54 Wochen auf einem ähnlichen Niveau. Auch die einfaktorielle Varianzanalyse bestätigte signifikante Unterschiede in der Dauer der Arbeitsunfähigkeit zwischen den Tertialen (p = 0,048). Der Grund für diesen zeitlichen Verlauf ist wahrscheinlich darin begründet, dass es zu Beginn der Pandemie recht schnell zu deutlichen Einschränkungen in der Nachbehandlung mit entsprechend verlängerter Krankheitsdauer kam, wohingegen Arbeitgeber erst mit einer gewissen Latenz auf Angebote wie Homeoffice umstellten. Der hohe Anteil an Patienten, die eine Verkürzung der Arbeitsunfähigkeit angaben, zeigt eindrucksvoll das Potenzial solcher nun erstmalig großflächig eingeführten Maßnahmen.
In der physiotherapeutischen und ärztlichen Nachbehandlung hingegen wurden den Patienten nur relativ selten (Physiotherapie: 13,3 %; Orthopädie: 12,2 %) aufgrund der Pandemie Alternativen zum regulären Programm (z. B. Onlinetermine, Telefontermine) angeboten. Hier bieten sich daher mögliche Ansatzpunkte, um die Auswirkungen im Falle erneuter vergleichbarer Situationen weiter zu reduzieren. Dass hier noch dringender Nachholbedarf besteht, zeigt sich auch darin, dass sich immerhin 8,4 % der 2020 operierten Patienten aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen nicht erneut in einer vergleichbaren Situation operieren lassen würden.
Trotz der eindeutigen Ergebnisse unserer Studie sollten bei der Interpretation die Limitationen aufgrund des Studiendesigns beachtet werden. So handelt es sich um eine retrospektive Studie mit den üblichen Einschränkungen, wobei die beiden verglichenen Studiengruppen recht unterschiedlich große Kohorten beinhalten. Eine Vergrößerung der 2019er-Kohorte wäre allerdings nur durch den zusätzlichen Einschluss noch früher operierter Patienten möglich gewesen, was durch Abfrage weiter zurückliegender Erinnerungen unvermeidlich mit einer reduzierten Verlässlichkeit der Angaben verbunden gewesen wäre. Zudem unterliegen die Einschätzungen der Patienten zu großen Teilen keinen objektiven Kriterien, sondern vorwiegend subjektiven Wahrnehmungen. Die unterschiedlichen Kohortengrößen führen in erster Linie zu einer reduzierten statistischen Power, sodass eventuell nicht alle tatsächlich bestehenden Unterschiede zwischen den Gruppen tatsächlich nachgewiesen werden konnten, was z. B. auf unsere Beobachtungen zum Bewegungsdefizit zutreffen könnte.
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