Chancen und Risiken der Teleintensivmedizin

Mit den Chancen und Risiken der Teleintensivmedizin sollten sich Anästhesisten und Intensivmediziner lieber selbst beschäftigen, bevor es andere tun. Zumindest in diesem Punkt waren sich Befürworter und Kritiker im Rahmen einer Pro- und Contra-Session „Verbesserte Therapie durch Teleintensivmedizin“ beim Deutschen Anästhesie Congress (DAC) 2015 in Düsseldorf einig. Gesagt – getan, hat die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) zu diesem Anlass eigens die „Kommission Telemedizin“ ins Leben gerufen. Auch die Einschätzung von DAC- und Kongress-Präsidentin Prof. Dr. Thea Koch dürfte konsensfähig sein: „Mit der Telemedizin stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Ära in der intensivmedizinischen Behandlung.“ Allein – wie wird diese Ära aussehen? Die moderne Datenübertragungstechnik macht’s möglich: In einer wo auch immer gelegenen teleintensivmedizinischen Zentralstelle können dort tätige Spezialisten ihren in peripheren Krankenhäusern tätigen Kollegen „auf dem Lande“ im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter schauen – in Echtzeit wohlgemerkt. Über (hoffentlich) ausreichend verschlüsselte Leitungen fließen dem Zentrum aus verschiedenen intensivmedizinischen Abteilungen eine Menge von Daten zu. Sie eröffnen den ‚Zentrums-Gurus’ nicht allein den direkten Blick auf die Patienten, sondern selbstredend auch auf deren Vitaldaten. Dies eröffnet nach Einschätzung des teleintensivmedizinischen Protagonisten Dr. Robert Deisz, Aachen, grundsätzlich die Möglichkeit zu einem fruchtbaren interkollegialen Dialog zum Wohle der Patienten. So schön – so gut. Allein fragt sich, wem diese ausgewiesenen Experten „in der neuen Ära der intensivmedizinischen Behandlung“ künftig tatsächlich noch über die Schulter schauen werden, wies Contra-Part Prof. Dr. Norbert Weiler, Kiel, unverhohlen auf eine Art von Missbrauchspotenzial der neuen Technologie hin. Reicht es im Falle eines solch fachkundigen 24-Stunden-Hintergrunddienstes – wo immer sich dieser denn auch physisch aufhalten möge – nicht womöglich aus, ‚nur’ noch einer intensivmedizinisch geschulten Pflegekraft über die Schulter zu gucken? Dass die neuen teleintensivmedizinischen Techniken bei mit spitzem Bleistift rechnenden Krankenhausgeschäftsführern etc. Begehrlichkeiten wecken könnten, diese Befürchtung lässt sich definitiv nicht so leicht vom Tisch wischen. Bessere Prognose, kürzere stationäre Verweildauer? Für den im Rahmen eines EU-Projektes teleintensivmedizinisch tätigen Intensivmediziner Deisz steht der (auch langfristige) Patientennutzen derartiger Maßnahmen außer Frage. In diesem Zusammenhang verwies Deisz auf US-amerikanische Studiendaten, die auf eine signifikant reduzierte Gesamt- und Krankenhaus-Sterblichkeit sowie eine verkürzte Krankenhausverweildauer schließen lassen. Für diese positiven Effekte ließ sich in den entsprechenden Studien neben einem schnellen Expertenurteil vor allem eine „höhere Adhärenz zu einer leitliniengerechten Therapie“ als ursächlich ausmachen. So stieg etwa der Anteil jener Patienten, denen eine lungenprotektive Beatmung mit niedrigen Tidalvolumina zuteil wurde. Die bessere Adhärenz zu Evidenz-basierten Maßnahmen kann man nach den Worten von Deisz auch unter dem Begriff „Schwiegermuttereffekt“ fassen: Kommt die Schwiegermutter ins Haus, wird doch noch etwas gründlicher gekehrt. „Peer review“ statt Teleintensivmedizin? Der potenzielle Nutzen teleintensivmedizinscher Strategien im Kontext Qualitäts-sichernder Maßnahmen steht auch für Weiler außer Frage. Freilich ließe sich eine Qualitätssicherung womöglich durch die Teilnahme an sogenannten peer review-Prozessen (man bemüht sich um eine Fremdbewertung durch externe Experten) ungleich preisgünstiger realisieren. Die von Deisz ansonsten ins Feld geführten Vorteile der Teleintensivmedizin verwies der Kieler Intensivmediziner ins Reich der Märchen - „die Mär von der besseren universitären Intensivmedizin, die Mär vom besseren Outcome und die Mär vom ökonomischen Nutzen.“ Unter Bezugnahme auf den gähnend leeren Veranstaltungsraum fiel Weilers Fazit wie folgt aus: „ Anästhesisten sind realistische Leute und hören sich ungern Märchen an – deshalb sitzen auch so wenige hier.“ Unter anderem aus folgenden Gründen mache die Beschäftigung mit Teleintensivmedizin gleichwohl Sinn: Neben der Qualitätskontrolle finden sich nicht allein in der Notfallversorgung (Forschungsstationen, Schiffe, Weltall) sinnvolle Einsatzmöglichkeiten. Denkbar wären auch entsprechende „Home office-Strategien“, die dem stressgeplagten intensivmedizinschen Hintergrunddienst die eine oder andere nächtliche Fahrt ins Krankenhaus ersparen könnte.

Springer Medizin

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