Diagnostische Fallstricke: MS oder doch nur Migräne?

Läsionen im MRT bei typischen MS-Symptomen – hier lohnt es sich, sehr genau hinzuschauen, sonst wird aus einer Migräne schnell eine MS, warnen Experten. Die MRT ist zwar für die MS-Diagnose essenziell, allerdings sollten Ärzte klinische Befunde nicht vernachlässigen: Beides muss genau passen, um die MS-Kriterien zu erfüllen, sonst ist äußerste Vorsicht geboten, erläuterte Dr. Wallace Brownlee von der Neurologischen Klinik Queen Square in London. Zwar würden die im Jahr 2017 revidierten McDonald-Kriterien durch die stärkere Bedeutung symptomatischer und kortikaler MRT-Läsionen und oligoklonaler Banden bei bestimmten Patienten eine frühere MS-Diagnose erlauben und damit auch einen früheren Behandlungsbeginn ermöglichen, sagte der Experte auf dem Kongress der europäischen Neurologengesellschaft EAN in Oslo. Im Zweifel rät er Ärzten aber, lieber zu warten und die richtige statt einer frühen und falschen Diagnose zu stellen. Brownlee verwies auf eine aktuelle Untersuchung, bei der ein Viertel der in Spezialzentren überstellten Patienten mit MS-Verdacht nach einer gründlichen Untersuchung eine alternative Diagnose bekommen hatte. Knapp die Hälfte davon hatte eine Migräne. Und in einer US-Untersuchung bei 110 Patienten, die fälschlicherweise eine MS-Diagnose bekommen hatten, war ein Viertel primär an einer Migräne erkrankt. Meistens hatten inkorrekt interpretierte MRT-Läsionen zu der falschen Diagnose geführt. „Die fehlerhafte Anwendung der McDonald-Kriterien ist einer der Hauptfaktoren für solche Fehldiagnosen“, sagte der Neurologe. Migräne statt Optikusneuritis Als Beispiel nannte er den Fall einer 31-jährigen Raucherin, die mit einer bestehenden MS-Diagnose und Verdacht auf Optikusneuritis in seine Klinik kam. Zu der MS-Diagnose hatte unter anderem ein immer wieder auftretendes Kribbeln in beiden Händen geführt, auch hatten Ärzte ZNS-Läsionen im MRT erkannt. Die Augenuntersuchung deutete auf einen subtilen relativen afferenten Pupillendefekt (RAPD), zudem klagte die Frau über Schmerzen, die sich mit der Augenbewegung verstärkten. Visuell evozierte Potenziale (VEP) und die optische Kohärenztomografie ergaben jedoch keine Auffälligkeiten. Das kraniale MRT zeigte zwar Hyperintensitäten der weißen Substanz, die leicht an Entzündungsherde bei MS erinnerten, Form und Lokalisation entsprachen jedoch nicht den Diagnosekriterien. Die Ärzte in der MS-Klinik führten die MRT-Hyperintensitäten schließlich auf die Migräne in Kombination mit einer unbehandelten Hypertonie und hohem Tabakkonsum zurück, nicht jedoch auf eine Demyelinisierung. Empfehlung der Redaktion Migräne – Themenseite Auf der Themenseite Migräne halten wir Sie über die Migräne auf dem Laufenden, jene neurologische Erkrankung, an der deutschlandweit etwa acht Millionen Menschen leiden. Hier finden Sie Übersichten, News, Interviews und kommentierte Studienreferate. Neurodegeneration statt Demyelinisierung Neben Migräne können jedoch viele andere entzündliche und nicht entzündliche Erkrankungen zu Fehldiagnosen führen. Brownlee nannte als weiteres Beispiel eine 62-jährige Frau, bei der Ärzte vor neun Jahren eine primär-progrediente MS diagnostiziert hatten. Sie wurde in seine Klinik überwiesen, um eine Therapie mit Ocrelizumab zu besprechen, nachdem der Wirkstoff für diese MS-Form zugelassen worden war. Gründe für die MS-Diagnose lieferten eine graduell zunehmende Steifheit und Muskelschwäche im rechten Arm und rechten Bein sowie leichte bulbäre Symptome und eine Harninkontinenz. Die Untersuchung ergab eine leichte spastische Dysarthrie, aber keine abnormen sensorischen Zeichen oder VEP. Das MRT zeigte zwar Läsionen, diese erschienen den Ärzten um Brownlee aber nicht sehr MS-typisch. Die Anamnese ergab ALS-Fälle in der Familie, worauf die Ärzte eine Genanalyse beauftragten. Tatsächlich fanden sie abnorme C9orf72-Hexanukleotid-Repeats: Die Frau litt nicht an MS, sondern an einer Form der Neurodegeneration aus dem ALS- und FTD-Spektrum. Ärzte sollten ganz klar zwischen MS-typischen und atypischen Befunden unterscheiden, so Brownlee. Zu den typischen Befunden zählt er eine unilaterale Optikusneuritis, Doppelbilder aufgrund einer Lähmung des sechsten Hirnnervs, eine Trigeminusneuralgie oder einen sensorischen Verlust im Gesichtsbereich, asymmetrische Gliederschwäche, partielle Myelopathie und Dranginkontinenz. Eher untypisch sind für ihn dagegen eine bilaterale Optikusneuritis, eine komplette Blicklähmung, eine komplette transversale Myelopathie mit bilateralen motorischen und sensorischen Beeinträchtigungen, hartnäckige Anfälle von Übelkeit und Erbrechen, Kopfschmerz und Meningismus, subakuter kognitiver Abbau sowie isolierte Fatigue und Asthenie. Zwar könne sich eine MS auch mit solchen Symptomen manifestieren, atypische Präsentationen würden jedoch bei weniger als 10% der Patienten beobachtet. Hier sollten Ärzte eher zusätzliche Untersuchungen anstrengen oder den weiteren Verlauf beobachten statt voreilig eine MS zu diagnostizieren. Quelle: 5th Congress oft the European Academy of Neurology, Oslo 29.6-2.7.2019. Symposium Diagnostic Dilemmas in MS.

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