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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 22.03.2024

Verdacht auf Sexualdelikte – Begutachtung

Verfasst von: Bert Hendrik Holmer und Arne Jensen
Der Frauenarzt wird häufig von den Ermittlungsbehörden zur Beurteilung des Opfers bei Verdacht auf ein Sexualdelikt hinzugezogen, nachdem Anzeige erstattet worden ist. Statt eines ausführlichen gynäkologischen Fachgutachtens wird von den Ermittlungsbehörden oft lediglich eine Untersuchung des Opfers zwecks Beweissicherung und die stichpunktartige Beantwortung eines vorgegebenen Fragenkataloges in Auftrag gegeben. In diesem Fall muss der untersuchende Arzt sich auf den vorgegebenen Auftrag beschränken. Es kann jedoch sein, dass er später von einem Gericht noch als sachverständiger Zeuge hinzugezogen wird. Daher empfiehlt es sich auf jeden Fall, ausführliche Aufzeichnungen wie zur Erstellung eines Gutachtens anzufertigen. Weiterhin gibt es die Möglichkeit der Beweissicherung ohne dass ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, falls das Opfer sich noch nicht sicher ist, ob es die Tat tatsächlich zur Anzeige bringen will.

Untersuchung und Beweissicherung im Auftrag der Ermittlungsbehörden

Der Frauenarzt wird häufig von den Ermittlungsbehörden zur Beurteilung des Opfers bei Verdacht auf ein Sexualdelikt hinzugezogen, nachdem Anzeige erstattet worden ist. Statt eines ausführlichen gynäkologischen Fachgutachtens wird von den Ermittlungsbehörden oft lediglich eine Untersuchung des Opfers zur Beweissicherung und die stichpunktartige Beantwortung eines vorgegebenen Fragenkataloges beauftragt. In diesem Fall muss der untersuchende Arzt sich auf den vorgegebenen Auftrag beschränken. Es kann jedoch sein, dass er später von einem Gericht noch als sachverständiger Zeuge hinzugezogen wird. Daher empfiehlt es sich auf jeden Fall, ausführliche Aufzeichnungen wie zur Erstellung eines Gutachtens anzufertigen.
Wendet sich ein weibliches Opfer eines Sexualdelikts direkt an den Frauenarzt, so sollte der Betroffenen immer geraten werden, zunächst die Polizei einzuschalten, um die Tat zur Anzeige zu bringen. Dies kann auch direkt in den Klinik- oder Praxisräumen erfolgen.
Falls das (zunächst) vom Opfer nicht gewünscht wird, muss bei der Untersuchung trotzdem auf die notwendige Beweissicherung für den Fall einer späteren polizeilichen Ermittlung geachtet werden.
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat 2009 die umfassende Leitlinie
„Ärztliche Gesprächsführung, Untersuchung und Nachbetreuung von Frauen nach mutmaßlicher sexueller Gewaltanwendung“ veröffentlicht.
Es wird die Verwendung eines standardisierten Erfassungsbogens, wie z. B vom hessischen Sozialministerium herausgegeben, empfohlen.
Dieser sehr empfehlenswerte Dokumentationsbogen „Befunderhebung, Spurensicherung, Versorgung bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt Dokumentation und Untersuchung bei sexualisierter Gewalt“ ist im Internet unter www.frauennotruf-frankfurt.de abrufbar.

Ablauf der Begutachtung

Im Rahmen einer Begutachtung bei Verdacht auf Sexualdelikt ist zunächst die Anamnese bezüglich des Tathergangs zu erheben. Hierbei ist auch der Zeitpunkt des letzten gewollten Geschlechtsverkehrs zu erfragen. Insbesondere von Bedeutung auch bezüglich der Spurensicherung ist die Angabe, ob es zu vaginalem, analem oder oralem Verkehr und ob es zu einem Samenerguss gekommen ist.
Anschließend muss eine vollständige körperliche Inspektion erfolgen. Mögliche Verletzungen sind zumindest im Dokumentationsbogen zu markieren, idealerweise zusätzlich zu fotografieren und detailliert zu beschreiben. Sollten Verletzungen vorhanden sein, deren Beurteilung den Kompetenzbereich des Frauenarztes überschreiten, sollte ein entsprechender Facharzt (z. B. Chirurg/Unfallchirurg/HNO) hinzugezogen werden.

Beweissicherung

Für die kriminaltechnische Untersuchung sind Abstriche auf unbehandelten Watteträgern zu fertigen. Die Abstriche sollten abhängig vom geschilderten Tathergang aus den entsprechenden Körperöffnungen entnommen werden. Die Watteträger werden nach der Abstrichentnahme an der Luft getrocknet und müssen in einem belüfteten Gefäß bis zur weiteren Aufarbeitung (z. B. zur forensischen DNA-Analyse) aufbewahrt werden.
Zur möglichen Gewinnung von Körperhaaren des Täters werden die Schamhaare ausgekämmt.
Während der Untersuchung muss der Untersucher einen Mundschutz und Handschuhe tragen um eine Kontamination der Abstriche und Asservate mit der DNA des Untersuchers zu vermeiden.
Die Kleidung, die das Opfer während der Tat getragen hat, wird am besten in Papiertüten asserviert, falls noch nicht durch die Ermittlungsbehörden geschehen. Aus der Kleidung kann möglicherweise ebenfalls DNA-Material des Täters gewonnen werden.
Dem Opfer sind die einzelnen Untersuchungsschritte zu erläutern unter dem Hinweis, dass die Untersuchung freiwillig ist und auch abgelehnt werden kann. Die Glaubhaftigkeit der Angaben zur Anamnese und zum Tathergang bzw. die Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers sollte dabei nicht angezweifelt werden. Eine persönliche Wertung durch den Untersucher oder eine individuelle Schuldzuweisung im Gespräch sind unter allen Umständen zu vermeiden. Die Beweiswürdigung ist wie auch sonst nicht Aufgabe des Gutachters, sondern bleibt den Organen der Strafverfolgung, insbesondere den Gerichten, Staatsanwälten und Verteidigern vorbehalten.

Ergänzende Beratung des Opfers

Neben der Untersuchung und Begutachtung kann bei Verdacht auf Sexualdelikt auch eine Beratung und Behandlung der Frau erforderlich sein. Diese gehört jedoch nicht zu der im Auftrag der Ermittlungsbehörden vorgenommenen gutachterlichen Tätigkeit, sondern stellt eine normale zivilrechtliche Beauftragung einer (Notfall-)Behandlung als Vertragsarzt oder aufgrund eines privatärztlichen Behandlungsvertrages dar.
Die Patientin sollte auf die Möglichkeit von durch die Tat erworbenen sexuell übertragbaren Krankheiten hingewiesen werden (z. B. HIV, Lues, Gonorrhoe, Hepatitis). Hierzu können, wenn nicht schon im Rahmen der gutachterlichen Tätigkeit erfolgt, entsprechende Abstriche und serologische Untersuchungen erfolgen. Die Untersuchungen sollten nach einigen Wochen wiederholt werden, um eine zum Erstuntersuchungszeitpunkt klinisch noch nicht manifeste Infektion nicht zu übersehen. Insbesondere ein Sexualdelikt durch einen Täter mit bekannter HIV-Infektion wird rechtlich anders gewertet, da das Opfer der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt wird bzw. diese auch tatsächlich eintritt. Im zweiten Fall kann die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung noch keine HIV-Antikörper vorhanden sind, von Bedeutung sein.
Darüber hinaus sollte die Patientin auf die Möglichkeit der postkoitalen Kontrazeption hingewiesen werden sowie auf die rechtlichen Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch aus kriminologischer Indikation (§ 218a Abs. 3 StGB: Abbruch der Schwangerschaft bis 12 Wochen nach Konzeption straflos).

Beweissicherung ohne Einschaltung der Ermittlungsbehörden (sog. Vertrauliche Spurensicherung)

Seit einigen Jahren gibt es in mehreren deutschen Bundesländern unterschiedliche Möglichkeiten der Beweissicherung, auch wenn das mutmaßliche Opfer noch nicht sicher ist, ob es eine Anzeige erstattet. Diese sog. vertrauliche Spurensicherung ist in Deutschland eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 Satz 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Oft handelt es sich bei diesen Fallgestaltungen um Übergriffe im häuslichen Umfeld oder im Bekanntenkreis des Opfers.
Damit Beweise, insbesondere forensische Abstriche rechtzeitig gesichert werden können, müssen diese möglichst kurz nach der Tat innerhalb von 72 Stunden entnommen werden. Danach ist ein DNA Nachweis des Täters meist nicht mehr möglich.
Beispielhaft sei deswegen das Vorgehen im Netzwerk Probeweis, das in Niedersachsen seit 2012 etabliert ist, genannt:
Das Netzwerk Probeweis wurde vom Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover gegründet und kooperiert inzwischen mit über 40 Kliniken in Niedersachsen.
Das Netzwerk stellt über die kooperierenden Krankenhäuser in Niedersachsen rund um die Uhr eine Untersuchungsmöglichkeit von Opfern sexueller Gewalt – und auch körperlicher Gewalt - zur Verfügung. Das Netzwerk stattet die Kooperationspartner mit den gleichen Untersuchungsmaterialien aus, wie sie auch den staatlichen Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen, wie z. B. DNA-freie Abstrichträger und Behältnisse, andere Behältnisse zur Asservierung von Kleidungsstücken sowie Untersuchungsprotokolle und eine fotografische Dokumentationsmöglichkeit von körperlichen Verletzungen.
Nach der Untersuchung werden die Asservate und Dokumentationen in rechtssicher versiegelten Transportboxen je nach Untersuchungsort an das Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover oder dessen Außenstelle in Oldenburg i. O. geschickt und dort zur Aufbewahrung weiterbearbeitet.
Die gesicherten Materialien werden jedoch zunächst nicht untersucht. Dieses erfolgt innerhalb der Aufbewahrungsfrist von mindestens drei Jahren nur wenn es zu einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren kommt. In diesem Fall erstellt das Institut für Rechtsmedizin ein Gutachten. Die Asservate werden nach Ende der Aufbewahrungsfrist oder jederzeit auf Aufforderung durch die betroffene Person vernichtet.
Die Asservierung der Beweismittel ist für die betroffene Person kostenlos. Der Kooperationspartner erhält vom Netzwerk eine Kostenerstattungspauschale.
Mitarbeiter/-innen der Kooperationskliniken werden regelmäßig vom Institut für Rechtsmedizin geschult.
Die vertrauliche Spurensicherung steht auch einsichtsfähigen Jugendlichen zur Verfügung ohne Information der Personensorgeberechtigten, da sich ein Teil der sexuellen Übergriffe im häuslichen Umfeld ereignet und den Betroffenen damit die Möglichkeit offen steht, die Tat noch zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. nach Erreichen der Volljährigkeit und Entfall der rechtlichen Abhängigkeit unter Hinzuziehung der gesicherten Beweismittel zur Anzeige zu bringen. Eine feste Altersgrenze gibt es hierbei nicht. Die vollständige Geschäftsfähigkeit ist nicht Voraussetzung. Es muss jedoch wie z. B. auch bei kontrazeptiven Maßnahmen eine anlassbezogene Einsichtsfähigkeit vorliegen.
Ähnliche Angebote bestehen auch in anderen Bundesländern:
Nordrhein-Westfalen:
iGOBSIS
Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen:
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