Skip to main content
Die Ärztliche Begutachtung
Info
Publiziert am: 15.09.2023

Verletzungen und Erkrankung in der Augenheilkunde – Begutachtung

Verfasst von: Frank Tost
Augenverletzungen werden durch physikalische Traumen, „biologische Unfälle“ oder chemische Substanzen hervorgerufen. Nach Art, Intensität und Dauer der Einwirkung resultieren typische Schädigungsmuster die sich nach einer etablierten Klassifikation einordnen lassen. Meistens aber nicht immer werden sie sofort bemerkt. Zudem sind auch Spätschäden möglich. Dann ist auf ggf. vorhandene Brückensymptome und deren Dokumentation zu achten. Funktionsbeeinträchtigungen durch dauerhafte Gesundheitsstörungen sind in der Regel mit feststellbaren Abweichungen vom geweblich strukturellen Normalbefund verbunden. Die Unfallmechanismen wirken meistens ohne wesentlichen Einfluss erbbedingter Anlagen schädigend auf das Auge ein. Trotzdem können genetische Faktoren für eine Traumadisposition von Bedeutung sein z. B. bei vorangegangener Netzhautablösung am Partnerauge. Die medizinische gutachtliche Bewertung von Ursachenzusammenhängen kann sich zwischen den verschiedenenen Rechtsbereichen unterscheiden.

Einleitung

Augenverletzungen werden in diesem Beitrag im Hinblick auf grundsätzliche Aspekte einer medizinischen Begutachtung okulärer Traumafolgen vorgestellt. Der zur Verfügung stehende Rahmen erlaubt es nicht die Traumatologie des Auges nur annäherungsweise vollständig zu behandeln. Letzteres ist auch nicht notwendig, da hierfür verschiedene exzellente Standardwerke in der Ophthalmologie zur Verfügung stehen, auf die verwiesen werden kann (Gramberg-Danielsen 2010; Naumann 1996; Rohrbach et al. 2002). Auf einzelne Details soll nur insoweit eingegangen werden als sie für das Verständnis der ophthalmologischen Begutachtung im interdisziplinären Austausch von Bedeutung sind. Gesundheitsschäden, die sich im Zusammenhang mit Berufskrankheiten manifestieren, sind in einem eigenen Beitrag aufgeführt. Die sorgfältige Ermittlung aller anamnestischen Angaben zum Unfallhergang und die Erhebung der medizinischen Befundtatsachen sind die Grundlage für eine personalisiert geplante multimodale bildgebende Diagnostik und spezialisierte Funktionstests am Auge wie zur elektrophysiologischen Diagnostik z. B. eines Muster-Elektroretinogramms. Für gutachtliche Funktionsprüfungen von Traumafolgen des Auges mit Rechtsfolgen ist eine standardisierte Vorgehensweise bei Anwendung der Untersuchungsmethodik einzuhalten. Nur so gibt es hinreichende Gewissheit für eine Reproduzierbarkeit der Ergebnisse und Schutz vor Manipulation. Immer wieder stellt sich die Problematik, inwieweit eine Netzhautablösung ursächlicher Folgeschaden eines Unfalls ist (Gramberg-Danielsen 1996; Tost und Stahl 2020). Oft ist der zeitliche Zusammenhang vage und vom Unfall liegt nur die Wirkung und keine konkrete Angabe zu den physikalischen Faktoren vor. Wieviel Erfahrung und Kompetenz der Sachverständige dann benötigt und welche unterschiedliche Kausalitätsbedingungen in den jeweiligen Rechtsbereichen zu beachten sind, wird an kasuistischen Beiträgen verdeutlicht.

Allgemeine Aspekte zur augenärztlichen Beurteilung von Ursachenzusammenhängen (Kausalität)

Die Beurteilung der medizinischen Kausalität muss immer die im jeweiligen Rechtsbereich geltende Nomenklatur und deren Definitionen berücksichtigen. Die Verwendung fälschlicher Bezeichnungen kann die gutachtliche Einschätzung wertlos machen. Es ist auf die Einhaltung des Standes der Medizin bei der Tatsachenfeststellung aus augenärztlicher Sicht zu achten. Dazu zählen ein umfassender Bericht über den Lebensvorgang, Beschreibung aller Begleitumstände, Unfallereignis mit Ort und Zeitpunkt, Angabe eventuell anwesender Personen, eingesetzte Werkzeuge z. B. Motorsäge, Trennschleifer, Art der Tätigkeit, des bearbeiteten Materials und eingesetzter chemischer Substanzen, Verwendung von Schutzeinrichtungen wie Helmvisier oder Schutzbrille, Nutzung von Kontaktlinse oder Gleitsichtbrille etc. Objektive Verletzungszeichen eines direkten Augentraumas sind sorgfältig zu dokumentieren. Alle medizinischen Befunde sind im Rahmen der medizinischen Beurteilung danach zu differenzieren, ob sie als medizinischer Beweis für das Vorliegen eines Gesundheitsschaden nach einem konkreten Schadensereignisses oder lediglich als medizinischer Hinweis zu betrachten sind. Der medizinische Beweis macht den konkreten Gesundheitsschaden nicht nur schlüssig nachvollziehbar, sondern auch sehr wahrscheinlich. Ein Beispiel wären nach schwerer Augenprellung festgestellte Kammerwinkeleinrisse und die Netzhautablösung mit Ora serrata nahen Riesenriss vierzehn Monate nach dem Unfallereignis. In der Kausalitätsbetrachtung eines konkreten Ursachenzusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden am Auge nützen Erste-Blick-Kausalitäten (z. B. die Netzhautablösung kam zustande, weil der Industriearbeiter auf einer Öllache ausrutschte und auf den Kopf fiel) dem Sachverständigen gewöhnlich überhaupt nicht. Vielmehr kommt es auf eine den Schadensmechanismus auseinandernehmende sachlich vernunftmäßige fachmedizinische Betrachtung durch den Sachverständigen an. Die Kausalitätszuschreibung erfordert daher im Allgemeinen eine medizinisch-schlüssige Begründung aus einer Kombination mehrerer medizinischer Tatsachenbefunde.
  • Bulbusprellung: wichtig ist die Dokumentation von Trauma Veränderungen im Auge z. B. Abriss der Iriswurzel, Pupillenverziehung oder zumindest Unterblutung der Bindehaut o. ä.
  • Offene Verletzung: sind meist gut dokumentiert, sorgfältig zu prüfen sind die vielfältig möglichen Sekundärkomplikationen im zeitlichen Intervall. Hier ist auf Brückensymptome zu achten.
  • Glaukom: einseitige Sekundärglaukome können noch nach längerer Latenzzeit auftreten. Es sind dann morphologische Traumaschäden im Augeninneren feststellbar.
  • Katarakt: nur bei vorzeitiger Manifestation, unfallbedingte fast immer einseitig, also Seitendifferenz beachten, der morphologische Linsenbefund kann auf Schädigungsmechanismus hinweisen, ab dem 65 Lebensjahr in der Regel altersbedingte schicksalhafte Manifestation.
  • Netzhautablösung: Zusammenhangsbeurteilung erfordert besonders viel Erfahrung, da keine einheitliche Definition zur traumatisch bedingten Netzhautablösung existiert und oft ein längeres Latenzintervall zum Unfallereignis besteht, Brückensymptome beachten.

Äußeres Auge, Augenanhangsorgane, Orbita

Augenlider und Tränenwege

Verletzungen der Augenlider oder ableitenden Tränenwege sind der Regel gut dem geschilderten Unfallmechanismus zuzuordnen. Aufgrund der sehr dünnen Oberflächenhaut und guten Durchblutung im Gesichtsbereich zeigen die Verletzungen oft eine erfreuliche Heilung. Unangenehm können Hundebissverletzungen sein, die sich leicht infizieren oder größere Substanzdefekte verursachen. Bei multiplen Schnittverletzungen im Gesicht besteht die Gefahr das Durchtrennungen der ableitenden Tränenwege übersehen werden. Eine optimale Wiederherstellung der Abflussfunktion der Tränenwege ist am wahrscheinlichsten, wenn die verletzten Tränenwege spätestens in den ersten 1–2 Tagen geschient werden. Ein bleibendes Tränenträufeln (Epiphora) kann die Funktion des verunfallten Auges beeinträchtigen. Dasselbe gilt für unfallbedingte Lidfehlstellungen, wenn die innere Lidkante der Augenoberfläche nicht vollständig anliegt. Am häufigsten tritt das Narbenektropium auf (Auswärtskehrung des Unterlides, Ektropium cicatriceum). Als Unfallfolge von Schnittverletzungen ist bei sonst komplikationslosem Verlauf eine fehlerhafte chirurgische Versorgung zu vermuten. Im Unterschied zu den flächenhaften oberflächlichen Scherverletzungen, wo es schicksalhaft zur massiven Gewebeschrumpfung mit Ektropiumstellung kommen kann. Seltener liegt eine verletzungsbedingte Einwärtskehrung des Augenlides (posttraumatische Entropiumstellung) vor.
Gutachtlich kommt es vorrangig immer auf die Funktionsstörungen des Auges an z. B. Sehschärfeherabsetzung oder Gesichtsfeldausfall.
Kosmetisch-ästhetische Aspekte durch eine narbige Entstellung sind seltener nur mit entsprechender medizinisch-schlüssiger Begründung begutachtungsrelevant.
Psychoreaktive Störungen wären in der interdisziplinären Begutachtung zu begründen.
Eine unfallbedingte Tränenfilmverteilungsstörung, die mit zeitweiligen Sehstörungen und vermehrter Blendung einhergeht, lässt sich in der Regel morphologisch beweisen, z. B. Messung des Tränenmeniskus im Seitenvergleich, Störung des Spontanabflusses über die ableitenden Tränenwege.

Äußere Augenmuskeln und Orbita

Direkte Schäden an der äußeren Augenmuskulatur resultieren aus einer unmittelbaren Krafteinwirkung auf die Augenhöhle mit Verletzung der Augenmuskeln oder der Trochlea. Die Sehne des Musculus obliquus superior ist aufgrund ihres Verlaufes in der Orbita häufiger von Stich- oder Schnittverletzungen betroffen. Ausgedehnte Muskelhämatome können nach Defektheilung mechanische Kontraktionseinschränkungen bewirken. Augenbewegungsstörungen können aber auch neurogen durch ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma oder Orbitatrauma mit druckbedingten Nervenschäden oder seltener einer direkten Nervenschädigung hervorgerufen werden.

Sehnerv

Optikusschäden mit sofortigem schweren Funktionsverlust entstehen bei direkter Gewalteinwirkung. Ähnliche Folgen sind möglich, wenn bei indirekter Schlageinwirkung Sehnervenfasern zu stark gedehnt werden oder die Mikrozirkulation beeinträchtigt wird. Frühestens 3 Monate nach dem Trauma ist von stabilen Leistungsfunktionen auszugehen. Altersbedingte Veränderungen und Folgen von anderen Erkrankungen können die Abgrenzung der unfallbedingten Schadensfolgen erschweren.

Augenoberfläche

Große Verletzungen der Bindehaut sind sehr selten, aber kritisch, weil die Konjunktiva für den Transparenzerhalt der Hornhaut von besonderer Bedeutung ist. Bei kleinen Verletzungen der Konjunktiva besteht die Gefahr eine Beteiligung der Sklera oder gar des Augeninneren zu übersehen.
Verletzungen an der Hornhaut erlauben es anhand der Morphologie der Hornhautnarben (Narben gehen immer mit Transparenzminderung und damit Trübung der Kornea einher) Rückschlüsse auf den möglichen Entstehungsmechanismus zu treffen.
Bei Hornhautverletzungen im Bereich der optischen Achse wird das Ausmaß des Funktionsverlustes nicht nur durch die mehr oder weniger ausgeprägte Hornhauttrübung bestimmt, sondern auch durch die unregelmäßige Hornhautoberfläche beeinflusst (unregelmäßige Stabsichtigkeit, Astigmatismus, der eine irreguläre Brechung der Lichtstrahlen nach sich zieht). In der gutachtlichen Beurteilung ist hier besonders auf die medizinische Plausibilität zwischen einem aufgrund subjektiver Angaben bestimmten Funktionsverlust der Sehschärfe und den objektiv belegbaren biomikroskopischen krankhaften Strukturveränderungen am optischen Apparat des Auges zu achten.

Spezielle Schädigungsmuster des Auges

Contusio bulbi

Bei der stumpfen Augenprellung hängt das Ausmaß der Schädigung von mehreren Faktoren ab. Hierzu gehören die Art der Schädigung, Heftigkeit des Aufpralls, der Aufprallwinkel und anlagebedingte Abweichungen vom normalen Körperzustand (Vorerkrankungen, Degenerationen). Das Auge verkürzt sich unter der Gewalteinwirkung (coup) entlang der Längsachse der Kontusionswelle kurzzeitig massiv und dehnt sich dabei gleichzeitig in der Querachse im Bereich des Äquators seitlich extrem aus. Auf der Längsachse schließt sich in Bruchteilen von Sekunden eine Dehnungsphase durch die Rückwärtsbewegung des Gewebes (Contre coup) an. Die Augenprellung geht mit zum Teil pathognomonischen Augenschäden einher, z. B. typisch kann das Auftreten einer Kontusionsrosette der Augenlinse sein (die sich nur infolge eines frontalen direkten Augentraumas ausbilden kann). Häufige Folgen der Augenprellung sind: Blutungen in das Auge, Zerreißung im Kammerwinkel, Linsentrübung, Linsenlockerung oder Dislokation, Irisabriss, traumatisch bedingt starre weite Pupille, Makula- und Netzhautödem, proliferative Vitreoretinopathie und epiretinale Gliose. Von einem massiven Funktionsverlust der Sehschärfe ist auszugehen, bei Aderhautruptur, Bulbusruptur, Hämophthalmus, Netzhautablösung und/oder Sehnervtrauma. Die Bulbusruptur ist eine Sonderform, die nur bei massivster stumpfer Gewalteinwirkung zu einem Zerreißen der sonst stabilen äußeren Augenhüllen führt.
Gutachtlich sind die Folgen eines Sekundärglaukoms zu beachten, dass sich noch viele Jahre nach dem Schadensereignis ausbilden kann. Sofern sich nach erlittener Augenprellung eine Netzhautablösung manifestiert, bedarf es der besonderen Aufmerksamkeit bei der individuellen Prüfung des Ursachenzusammenhanges.

Kausalitätsfrage der verletzungsbedingten Netzhautablösung

Die medizinische Beurteilung von Ursachenzusammenhängen zwischen einer schweren Augenprellung oder offenen Augenverletzung (Penetration oder Perforation) ist eine anspruchsvolle Problemstellung. Die Beantwortung kann nur personalisiert unter Nutzung aller Aufzeichnungen medizinischer Befunde und der konkreten Festlegung des Unfallgeschehens erfolgen. Die gutachtliche medizinische Bewertung unterliegt den juristischen Vorgaben aus dem jeweiligen Rechtsbereich. Für die Gesetzliche Unfallversicherung sind die Verursachungsbeiträge mehrerer konkurrierender Ursachen (oftmals Unfallereignis und vorbestehende Schadensanlage) grob prozentual zu schätzen. Welche Anteile dann „rechtlich wesentlich“ sind, entscheidet danach der Versicherungsträger oder die Sozialgerichtsbarkeit. Dagegen kommt es bei der privaten Unfallversicherung darauf an zu prüfen, inwieweit das Vorliegen einer Partialkausalität (ca. 25 %, 50 %, 75 %) ausgeschlossen ist.
  • Medizinische Hinweise auf eine verletzungsbedingte Netzhautablösung sind:
    • Objektive Verletzungszeichen über ein abgelaufenes Augentrauma am äußeren Auge (Verletzungen der Hornhaut, Bindehaut, Blutungen, Prellmarken) und im Augeninneren (Fremdkörper, Entzündungszeichen)
    • Vorgeschichte oder Residuen bei der Begutachtung (ausführlich, siehe auch Rohrbach et al. 2002; Tost und Stahl 2020)
    • Große Netzhautrisse (2 Uhrzeiten oder mehr), Netzhautdialyse
    • Riesenrisse entlang der Grenzlinie zwischen dem sensorischen (Pars optica retinae) und „blinden“ Teil (Pars caeca retinae) der Netzhaut.
    • Unilaterale krankhafte Veränderungen von Glaskörper und Netzhaut
    • Netzhautablösung durch Narbenzug (Traktion) nach penetrierender Augenverletzung
    • Erstbeginn der Netzhautablösung < 2 Jahre nach dem Unfallereignis
    • Lebensalter des Betroffenen < 45 Lebensjahre
  • Konkurrierende Risikofaktoren einer unfallbedingten Netzhautablösung sind:
    • Myopie, bei bekannten Augenhintergrundveränderungen, insbesondere Achsenmyopie
    • Kunstlinse oder Linsenlosigkeit
    • Genetische Prädisposition z. B. Stickler-Syndrom
    • Erworbene Prädisposition z. B. chronische Form der Frühgeborenenretinopathie
    • Netzhautablösung am Partnerauge

Gesetzliche Unfallversicherung (GUV)

Beispiel: Kopfprellung und Netzhautablösung
46-jähriger Versicherter, Diagnosen vor dem Unfall: Kurzsichtigkeit mit -4,0 Dptr. sphärischem Äquivalent, Zustand nach zweimaliger Netzhaut-Glaskörper-Operation wegen Netzhautablösung durch einen Netzhautriss nach Adhärenzen zwischen Glaskörper und Netzhaut. Der Vorgeschädigte rutscht im Betrieb auf einer Öllache aus und fällt dabei auf den Hinterkopf. Medizinische Befunde einer direkten Augenprellung bestanden nicht, Bewusstlosigkeit oder Knochenbrüche traten nicht auf. Augenärztlich wurde eine erneute Netzhautablösung infolge multipler siebplattenförmiger kleiner Netzhautlöcher dokumentiert und die Netzhaut chirurgisch unter Instillation von Silikonöl wieder angelegt. Das Unfallereignis war anhand der medizinischen Befundtatsachen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Wirkursache im Sinne der geltenden Grundsätze (Theorie der wesentlichen Bedingung „conditio sine qua non“) anzuerkennen, da erheblich mehr gegen einen Zusammenhang zwischen Unfall und Netzhautablösung sprach als dafür. Mit den vorangegangenen Netzhautablösungen bestand eine relevante Vorschädigung. Der individuelle Gesundheitszustand, mit dem der Versicherungsnehmer seine Arbeit aufnimmt, ist jedoch nicht entscheidend. Vielmehr war das Unfallereignis nicht als versicherte Wirkursache in Betracht zu ziehen, weil die festgestellte Vorschädigung (degenerativer Netzhautverschleiß: multiple kleine siebplattenförmige Netzhautlöcher) geeignet war, den Gesundheitsschaden bereits bei jeder alltäglichen Belastung hervorzurufen.

Gesetzliche Unfallversicherung (GUV)

Beispiel: Augenprellung und Netzhautablösung
39-jähriger Versicherter, Diagnosen: Netzhautablösung infolge eines Riesenrisses über einen ganzen Quadranten entlang der Grenzlinie zwischen der Pars optica retinae und Pars caeca retinae (Ora serrata). Trotz Wiederanlage der Netzhaut mittels glaskörperchirurgischer Behandlung und Endotamponade bleibt ein massiver Funktionsverlust dauerhaft bestehen. Versicherungsrechtlich war während der Teilnahme am Betriebssport eine Augenverletzung vor 2 Jahren gemeldet worden. Zum damaligen Zeitpunkt dokumentierte man eine Contusio bulbi des rechten Auges durch einen aufprallenden Fußball. Als medizinische Befunde waren u. a. einzelne Netzhautblutungen und eine unregelmäßige grau-weißliche Verfärbung der Netzhaut (Berlin-Ödem) in den alten Behandlungsunterlagen dokumentiert. Bei der medizinischen Begutachtung zeigte das Partnerauge einen vollständigen Normalbefund bei Emmetropie (Recht- oder Normalsichtigkeit). Arztberichte zur Fahrtauglichkeit (Berufskraftfahrer, Klasse CE) des jetzt betroffenen rechten Führungsauge aus der Vergangenheit waren unauffällig. Aufgrund der 2 Jahre zuvor dokumentierten traumatischen Netzhautschädigung (Berlin-Ödem) und der Art des eingetretenen Netzhautrisses (Riesenriss entlang der Ora serrata) war der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfallereignis und der Spätfolge einer traumatischen Netzhautablösung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (60 % und mehr) belegt.

Private Unfallversicherung (PUV)

Beispiel: Vorinvalidität und Netzhautablösung
59-jähriger Versicherter, Vorgeschichte Kurzsichtigkeit mit -3,0 Dptr. sphärischem Äquivalent sowie ein erstes Unfallereignis mit 23 Lebensjahren, seit dem war eine prellungsbedingte Netzhautnarbe temporal oben und die Laserabriegelung wegen Glaskörperzuges bekannt. Damals war vom Versicherten subjektiv „Augenblitzen“ bemerkt worden. Fünf Jahre später wurde die Sehschärfe mit bester optischer Korrektur mit 1,0 auf beiden Augen bestimmt. Eine private Unfallversicherung hatte der Betroffene im Alter von 28. Lebensjahren abgeschlossen. 2020 erleidet er einen Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Infolge des zweiten Unfallereignisses stellt man einen Riesenriss über 2 Uhrzeiten entlang der Grenzlinie zwischen der Pars optica retinae und Pars caeca retinae (Ora naher Netzhautriss) fest. Im Anschluss an den glaskörperchirurgischen Eingriff beträgt die Sehschärfe nur noch 0,32. Bewertungssituation: Gesamt-MdG gemäß PUV-Tabelle 8/25. Aber Berücksichtigung der Vorinvalidität (krankhafte Abweichung vom durchschnittlichen altersbezogenen Normalbefund): Bei bekannter vitreoretinaler Traktion (Glaskörperstrang und Myopie) wird die Partialkausalität (Mitwirkung) auf 50 % abstrakt geschätzt. Es wird empfohlen, die Gesamt-MdG von 8/25 um 50 % zu kürzen. Die Bemessung der Minderung der Gebrauchsfähigkeit wird auf 4/25 Gesamt-MdG festgesetzt.
Kommentar: In der privaten Unfallversicherung ist die Versicherungsleistung anteilig, um die Mitwirkung (Vorinvalidität) zu reduzieren. Die Vorinvalidität lässt sich nach dem Stand der Medizin nur grob prozentual quantifizieren (25 %, 50 % oder 75 %) und erfordert eine medizinisch-schlüssige Begründung. Wegen des schweren Schädel-Hirn-Traumas und der Art des Netzhautrisses (kein Rundloch oder Hufeisenriss wie typisch für die primäre Amotio retinae) hat der Sachverständige zum einen den Gesundheitsschaden (Netzhautablösung) als ursächliche Folge des Unfallereignisses anerkannt. Zum anderen musste er jedoch auch die vorbestehenden Glaskörper-Netzhautveränderungen (Netzhautnarbe, Laserabriegelung wegen Glaskörperzug) berücksichtigen (Partialkausalität). Wichtig für prozentuale anteilige Schätzung der Partialkausalität war die objektive medizinische Befundtatsache, dass der Netzhautriss auch im angrenzenden Areal zur vorbekannten Netzhautnarbe mit Laserriegel aufgetreten ist.

Penetrierende oder perforierende Augenverletzung

Beide Verletzungsarten gehören zu den offenen Verletzungen. Stichverletzungen haben eine etwas günstigere Prognose als Fremdkörperverletzungen. Bei der penetrierenden Augenverletzung dringt der Fremdkörper von vorn in das Auge ein (Penetration). Sofern ein Fremdkörper, Nagel o. ä. das Auge im hinteren Augensegment in Richtung Augenhöhle wieder verlässt, liegt eine perforierende Verletzung vor. Der Begriff kann missverständlich sein, z. B. die perforierende Verletzung der Hornhaut als eine penetrierende Verletzung des Gesamtauges. Nach der traumatologischen Klassifikation in der Augenheilkunde (Birmingham Eye Trauma Terminology, Kuhn et al. 1996) sind die Begriffe Penetration und Perforation immer auf das gesamte Auge zu beziehen und eben nicht auf Teilstrukturen wie die Kornea.
Perforierende oder penetrierende Augenverletzungen sind in Bezug auf einen Funktionsverlust immer äußerst kritisch.
Die Prognose der Sehschärfe hängt davon, ob die Stelle des schärfsten Sehens (Makula) beteiligt war und inwieweit sich sekundäre Komplikationen vermeiden lassen. Dazu gehören chronische Entzündung, Infektion, Sekundärglaukom, proliferative Glaskörper-Netzhaut-Erkrankung, Sekundärglaukom oder anhaltende Hypotonie. Insbesondere die Manifestation einer Netzhautablösung kann die visuelle Rehabilitation gefährden. Für das Ausmaß der Verletzung sind vor allem die Größe des Fremdkörpers und seine Eintrittsgeschwindigkeit, nicht so sehr das Material von Bedeutung.

Verätzung und Verbrennung

Schwere Verätzungen und Verbrennungen treten im Vergleich zu anderen Augenverletzungen nicht häufig auf. Oft liegt aber ein solcher Schweregrad der Gewebeschädigung vor, dass es zu dauerhaften massiven Funktionsverlusten am betroffenen Auge kommt. Daher ist zunächst die intensive sofortige Behandlung der akuten Erkrankung neben dem Schweregrad entscheidend für die spätere Prognose. Schädigungsmechanismus der Säuren beruht auf einer Denaturierung zytoplasmatischer Proteine und Zersetzung von Zellorganellen (Koagulationsnekrose). Bei Laugen wird die Verflüssigung des untergegangenen Gewebes durch lysosomale Enzyme vermittelt und die gewebespezifischen Keratozyten in der Kornea werden zerstört (Kolliquationsnekrose). Bei Schädigung der Stammzellen (Lokalisation am Limbus corneae und in den Umschlagsfalten der Konjunktiva) kommt es zu Wundheilungsstörungen und Eintrübung der transparenten Hornhaut. Nach Penetration ätzender chemischer Substanzen in tiefere Schichten ist das Auftreten einer Katarakt und von Sekundärglaukomen häufig. Augeninnendruck und Entzündungsreaktion müssen über sehr lange Zeit überwacht werden. Verbrennungen betreffen meistens ganze Körperregionen und werden auch ebenda erläutert.

Licht und Laser

Licht kann vor allem durch den kurzwelligen UV-Anteil Schäden am Auge verursachen. Dauerhafte Funktionseinschränkungen sind viel eher bei ungeschützter Betrachtung einer Sonnenfinsternis oder durch die Absorption von Laserstrahlung einer Wellenlänge zwischen 400 und 1400 nm zu erwarten. Die Gewebeschädigung ist nicht allein von der Laserwellenlänge, sondern vielmehr auch von zusätzlichen Parametern wie der Leistungs- und Energiedichte, Einwirkzeit, Wärmeleitfähigkeit im Gewebe und dem Absorptionskoeffizienten abhängig. An der Stelle des schärfsten Sehens (Makula) wird die Laserenergie wegen des Pigmentgehaltes besonders gut aufgenommen. Durch thermische Schädigung kommt es zur Koagulation und Gewebenekrose. Andere Mechanismen die u. a. zur Gewebezerreißung führen können sind Vaporisation und Plasmaexpansion. Für die medizinische Begutachtung ist daher die Bezugnahme auf Schwellengrenzwerte kaum möglich und es ist von Bedeutung fachmedizinische objektive krankhafte Befunde zu erheben z. B. mittels multifokalen Elektroretinogramms oder Darstellung der Netzhautschichten mittels Optischer Kohärenztomografie (OCT).

Polytrauma

In der Notfallsituation des Polytraumas liegt eine gleichzeitig entstandene Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme vor. Eine dieser Verletzungen oder die Kombination von zwei Verletzungen sind lebensbedrohlich. Hier ist die Diagnostik und Therapie okulärer Befunde der Sicherung der Vitalfunktionen nachgeordnet. Verschiedene Sekundärkomplikationen können sich in der Folge am Auge manifestieren, z. B. eine vordere ischämische Optikoneuropathie nach massivem Blutverlust oder Optikusscheidenhämatome durch schwere Schädeltraumen. Als häufigste Ursache einer isolierten Trochlearisparese gilt ein erlittenes Schädel-Hirn-Trauma. Neben direkter Quetschung, Streckung, Schädigung durch Knochenfragmente oder Hirndrucksteigerung gehören Gefäßverletzungen durch Scherkräfte mit Schädigung der Mikrozirkulation zu den wesentlichen Schadensmechanismen. In der gutachtlichen Untersuchung muss die individuelle Kooperationsfähigkeit der Probanden z. B. bei der Gesichtsfelduntersuchung (keine automatische Perimetrie) entsprechend ihrer kognitiven und kommunikativen Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden. Es sind Pupillenweite und Pupillenreaktion, Wechselbelichtungstest, Exophthalmometrie, Prüfung der Fusion und des Stereosehens, Binokularstatus zu prüfen, um bspw. mechanische Motilitätseinschränkungen zu erkennen. Nervenfaserverluste am Sehnervkopf sind mittels optischer Kohärenztomografie (OCT) der Papille zu objektivieren.

Augenschäden infolge augenferner Verletzungen

Immer wenn Augenbeschwerden im zeitlichen Zusammenhang mit einem Unfallereignis vom Betroffenen mitgeteilt werden, sollte ein Augenarzt konsiliarisch hinzugezogen werden oder im Rahmen der Begutachtung ein augenärztliches Zusatzgutachten mit konkreter Problemstellung veranlasst werden. Sehstörungen können ursächlich auch durch augenferne Verletzungen hervorgerufen werden. Dazu gehören:
  • Retinopathia traumatica Purtscher
  • Endogene Endophthalmitis
  • Terson-Syndrom (intraokulare Blutung und intrakranielle Blutung)
  • Valsalva-Retinopathie
  • Netzhautblutung, Sehnervschwellung infolge Höhenkrankheit
  • Augenschäden beim Tauchen
  • Erschütterungstrauma
Literatur
Gramberg-Danielsen B (1996) Medizinische Grundlagen der augenärztlichen Begutachtung. Enke, Stuttgart
Gramberg-Danielsen B (2010) Rechtliche Grundlagen der augenärztlichen Tätigkeit. Enke, Stuttgart
Kuhn F, Morris R, Witherspoon CD et al (1996) A standardized classification of ocular trauma. Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 234:399–403CrossRefPubMed
Naumann GOH (1996) Pathologie des Auges. In: Doerr W, Seifert G, Uehlinger E (Hrsg) Spezielle pathologische Anatomie, Bd 12. Springer, Berlin
Rohrbach J, Steuhl KP, Knorr M, Kirchhof B (2002) Ophthalmologische Traumatologie. Schattauer, Stuttgart
Tost F, Stahl A (2020) Zusammenhangsgutachten bei Verletzungen der Netzhaut – Aufgaben des augenärztlichen Sachverständigen. Klin Monbl Augenheilkd 237:1045–1059PubMed