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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 27.07.2017

Anatomie: Hirnstamm

Verfasst von: Cindy Richter, Elke Brylla und Ingo Bechmann
Der Hirnstamm lässt sich von kranial nach kaudal in das Mesencephalon, den Pons und die Medulla oblongata unterteilen. Allen ist das Tegmentum als mittlerer Abschnitt gemeinsam. Insbesondere die Formatio reticularis enthält wichtige integrative Zentren wie das Atem- und Kreislaufzentrum. Mit Ausnahme der ersten beiden Hirnnerven liegen alle Ursprungs- und Projektionskerne der Hirnnerven im Tegmentum. Von basal lagern sich an das Tegmentum absteigende lange Bahnen und von dorsal das Tectum bzw. das Kleinhirn an. Der Hirnstamm ist in seiner Verschaltung und Organisation sehr komplex, sodass in diesem Übersichtskapitel nur die wichtigsten Kerngebiete und Bahnensysteme systematisch vorgestellt werden.

Topografie des Hirnstamms

Der Hirnstamm umfasst Mesencephalon, Pons und Medulla oblongata (Abb. 1). Diese Strukturen liegen in der Fossa cranii posterior (hintere Schädelgrube) und werden durch das Tentorium cerebelli vom Okzipitallappen des Großhirns getrennt.
Der Bau des Hirnstamms folgt einer einheitlichen Gliederung (Abb. 1): Die entwicklungsgeschichtlich alten Anteile werden als Tegmentum (Gebiet der Hirnnervenkerne und der Formatio reticularis) zusammengefasst. Diesem mittleren Anteil lagern sich basal die vom Großhirn absteigenden Bahnen an. Auf Höhe des Mesencephalons entwickelt sich dorsal das Tectum (Vierhügelplatte) als visuelles und akustisches Schaltzentrum (Abb. 2). Kaudal davon geht aus den Rautenlippen das Kleinhirn hervor, das nicht zum Hirnstamm gerechnet wird. Es ist über die Kleinhirnstiele (Pedunculus cerebellaris superior, medius et inferior) mit allen Abschnitten des Hirnstamms verbunden.
  • Mesencephalon: Crura cerebri + Tegmentum mesencephali + Tectum
  • Pons: Pars basilaris pontis + Tegmentum pontis (+ Cerebellum)
  • Medulla oblongata: Pyramis + Tegmentum myelencephali
Klinischer Bezug
Bei raumfordernden supratentoriellen Prozessen besteht die Gefahr der Einklemmung des Mesencephalons im Tentoriumschlitz (obere Einklemmung) mit Bewusstseinsstörung, Lähmungen und Hirnnervenausfällen. Eine Druckentwicklung im unteren Bereich des Hirnstamms führt zu einer Herniation der Kleinhirntonsillen in das Foramen magnum. Der Druck auf die Medulla oblongata (untere Einklemmung) beeinträchtigt das Atemzentrum und kann schnell lebensbedrohlich werden.

Tegmentum

Das Tegmentum ist der entwicklungsgeschichtlich alte Teil des Hirnstamms, der allen drei Hirnabschnitten gemeinsam ist und die Hirnnervenkerne sowie der Formatio reticularis enthält.
Hirnnervenkerne
Der Hirnstamm ist dem Rückenmark in der Anordnung seiner sensiblen und motorischen Kerngebiete, getrennt durch den Sulcus limitans, sehr ähnlich. Embryonal wird aus der dorsoventralen eine lateromediale Anordnung der Kerngebiete (Abb. 3). Die Bezeichnung „somatisch“ steht für exterozeptive, nach außen gerichtete Wahrnehmung und „viszeral“ steht für interozeptive, nach innen gerichtete Wahrnehmung. Der Begriff „speziell“ umfasst Qualitäten, die sich ausschließlich auf den Kopf beziehen. Der Begriff „allgemein“ betrifft Qualitäten für den gesamten Körper. Kerngebiete für die Geschmacksempfindung (speziell-viszerosensibel), das Hören und die Gleichgewichtsempfindung (speziell-somatosensibel) sowie die Versorgung der ursprünglichen Kiemenbogenmuskulatur (speziell-viszeromotorisch, Muskulatur für den Kauapparat, die Mimik und die Sprache) liegen von lateral nach medial nebeneinander in der Rautengrube. Die genaue Lage der Hirnnervenkerne zeigen Abb. 4 und 5.
Formatio reticularis
Die Formatio reticularis erstreckt sich als Ansammlung zahlreicher kleiner Kerngebiete mit vielfältigen Faserverbindungen untereinander und in andere Hirngebiete über die gesamte Hirnstammlänge. Die genaue Zuschreibung von Funktionen zu den Kerngebieten der Formatio reticularis ist noch nicht möglich.
Deutlich neurochemisch abgrenzbare Kerngebiete:
  • Nuclei raphes (serotoninerge Neurone)
  • Ncl. pedunculopontinus und Ncl. parabrachialis (cholinerge Neurone)
  • Locus coeruleus (noradrenerge Neurone)
  • Area tegmentalis ventralis (dopaminerge Neurone)
Die Formatio reticularis ist Teil komplexer Steuerzentren:
  • Atmungszentrum (Pons und Medulla oblongata)
  • Kreislaufzentren (Medulla oblongata)
  • Motorische Aktivitäten (Ingestions- und Digestionsmotorik)
  • Verschaltung der Hirnnervenkerne für Schutzreflexe (Brechreflex, Lidschlussreflex) und Blickmotorik
  • Schlaf-Wach-Rhythmus (Mesencephalon und Pons)
  • Teile des Arousalsystems (aktivierendes retikuläres aufsteigendes System = ARAS, Mesencephalon und Pons)
Nucleus ruber und Substantia nigra
Der Ncl. ruber und die Substantia nigra zählen zu den Schaltstellen des extrapyramidalen Systems. Beide Kerngebiete gehören zum Mesencephalon und schieben sich im Tegmentum weit bis an das Diencephalon (Zwischenhirn) zum Pallidum vor. Der Ncl. ruber erhält Afferenzen aus dem Kleinhirn, den Colliculi superiores, dem Pallidum, dem frontalen und motorischen Kortex. Seine Hauptefferenzen ziehen zum Ncl. olivaris inferior (Olive) und Zervikalmark (Tractus rubrospinalis), wodurch er Einfluss auf den Muskeltonus und die Körperhaltung nimmt. Seine rötliche Färbung geht auf eisenhaltige Pigmente in den Nervenzellen zurück. Die Substantia nigra moduliert mit dopaminergen Neuronen der Pars compacta die Basalganglien. Die Pars reticulata hingegen projiziert als Output-Bahn zum Thalamus und Kortex. Ihre funktionelle Bedeutung wird in der raschen Bewegungsinitiation und unwillkürlichen Mitbewegung von Muskelgruppen gesehen.
Klinischer Bezug
Die Pars compacta besitzt neuromelaninhaltige dopaminerge Nervenzellen, welche beim Morbus Parkinson degenerieren können.
Nucleus olivaris inferior (Olive)
Der Ncl. olivaris inferior ist ein Kerngebiet an der Ventralseite der Medulla oblongata, welches sich als Olive lateral der Pyramis vorwölbt. Er steht mit der Kleinhirnrinde insbesondere bei der Koordinierung von Bewegungsabläufen im Austausch. Der „obere Olivenkernkomplex“ (Ncll. olivares superiores, periolivares, corporis trapezoidei) zählt zur Hörbahn und ist von außen nicht sichtbar.

Bahnensysteme innerhalb des Tegmentums

Zwischen den Kerngebieten des Tegmentums verlaufen ab- und aufsteigende, lange und kurze Bahnen (Abb. 5):
Der Lemniscus medialis umfasst alle Bahnen der exterozeptiven Sensibilität aus Rückenmark und Hirnstamm. Im Einzelnen zählen hierzu Tractus bulbothalamicus, Tractus spinothalamicus anterior et lateralis, Lemniscus trigeminalis und Tractus spinotectalis.
Der Lemniscus lateralis ist Bestandteil der Hörbahn. Ein Großteil seiner Fasern gelangt aus den Ncll. cochleares gekreuzt und ungekreuzt über die Ncll. olivares superiores und das Corpus trapezoideum zu den Colliculi inferiores.
Der Fasciculus longitudinalis medialis (mediales Längsbündel) verbindet die motorischen Vorderhornzellen des Zervikalmarks, die Ncll. vestibulares und die Augenmuskelkerne im Hirnstamm (Ncll. n. oculomotorii, trochlearis, abducentis) miteinander. Er koordiniert willkürliche und reflektorische Augenbewegungen, die Blick- und Stützmotorik des Körpers.
Der Fasciculus longitudinalis dorsalis (dorsales Längsbündel, Schütz-Bündel) enthält auf- und absteigende Faserbahnen, die vegetative Zentren des Hypothalamus mit den parasympathischen Hirnnervenkernen (Ncll. oculomotorius accessorius, salivatorii superior et inferior, dorsalis n. vagi) sowie mit anderen vegetativen Zentren des Hirnstamms und Rückenmarks verbinden.
Das spinozerebelläre System gibt eine direkte Rückmeldung über die Stellung und Haltung von Rumpf und Extremitäten (Propriozeption) an den Vermis mit benachbarter paravermaler Zone (Spinocerebellum). Die Afferenzen aus der unteren Körperhälfte laufen über die Tractus spinocerebellares anterior et posterior im Seitenstrang und die aus der oberen Körperhälfte über die Fibrae cuneocerebellares im Hinterstrang.
Extrapyramidalmotorisches System (EPMS)
Die Bahnen des EPMS beginnen in verschiedenen Gebieten, zu denen u. a. die Basalganglien, Kerngebiete des Hirnstamms, das Kleinhirn und assoziative Rindenfelder zählen. Sie enden überwiegend über Interneurone an γ-Motoneuronen; ob diese auch an α-Motoneuronen enden, ist unklar (Kap. „Anatomie: Rückenmark“). Bei allen Bewegungen des Körpers stimmen sie unbewusst den Tonus der gesamten Muskulatur auf Einzelhandlungen ab, sorgen für Mitbewegungen der Extremitäten und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts.
Der Tractus rubrospinalis (Monakow) soll beim Menschen bereits zervikal enden. Er beeinflusst die Motoneurone der Extensoren am Kopf und der oberen Extremität hemmend sowie die Flexoren erregend.
Bei den Tractus reticulospinales lateralis et medialis handelt es sich um zwei Bahnensysteme mit Ursprung in der Formatio reticularis in unterschiedlicher Höhe. Beide Systeme wirken auf die axiale Muskulatur und proximale Extremitätenmuskulatur.
Von den intermediären und tiefen Schichten der Colliculi superiores geht der Tractus tectospinalis aus, um eine reflektorische Blickwendung durch Aktivierung der kontralateralen und Hemmung der ipsilateralen Nackenmuskulatur zu ermöglichen.
Der Tractus vestibulospinalis lateralis entspringt somatotop gegliedert aus dem Ncl. vestibularis lateralis, einem Hirnnervenkern des N. vestibularis. Seine Funktion besteht in der Vermittlung von Reflexen des Lage- und Gleichgewichtssinns. Der Tractus vestibulospinalis medialis geht vom Ncl. vestibularis medialis aus. Er hemmt monosynaptisch die Motoneurone der ipsilateralen Nacken- und Rückenmuskulatur.

Basale Etage des Hirnstamms

In diesem Teil des Hirnstamms verlaufen v. a. die langen, vom Kortex absteigenden Bahnen. Sie bilden im Mesencephalon die paarigen Crura cerebri, im Pons die Pars basilaris und in der Medulla oblongata die Pyramiden.
Der Tractus corticopontinus führt über die Capsula interna und die Crura cerebri Fasern der Großhirnrinde zu den ipsilateralen Ncll. pontis (pontine Kerne). An dieser Stelle erfolgt die Umschaltung auf den Tractus pontocerebellaris, der quer durch den Pons zieht und die kontralaterale Kleinhirnhemisphäre (Pontocerebellum) erreicht. Die Ncll. pontis erhalten zusätzlich afferente Bahnen von den Colliculi superiores, der Area praetectalis und dem Ncl. coeruleus der Formatio reticularis. Über diese Bahnen wird das Kleinhirn über die von der motorischen Großhirnrinde ausgehenden Impulse informiert (Efferenzkopie). Das Kleinhirn moduliert wiederum die geplanten Bewegungsabläufe.
Pyramidenbahnsystem
Zum Pyramidenbahnsystem zählen Fasern für die motorischen Hirnnervenkerne (Tractus corticonuclearis) und die motorischen Vorderhornkerne (Tractus corticospinalis). In den Crura cerebri verlaufen diese Tractus in der Mitte, Ersterer mehr medial, Letzterer mehr lateral, flankiert von kortikopontozerebellären Bahnen als Teil des EPMS. Die kortikonukleären Bahnen führen zusätzlich Fasern aus dem frontalen Augenfeld (Tractus corticomesencephalicus) zu den Kernen der motorischen Augennerven (Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens) für konjugierte Blickbewegungen. Lateral zieht der Tractus corticospinalis, welcher sich in der Brücke in viele kleine, längs verlaufende Faszikel aufspaltet. Am pontomedullären Übergang lagern sie sich wieder zur Pyramis (Pyramide) zusammen, die sich auf der ventralen Seite der Medulla oblongata vorwölbt und namensgebend für die Pyramidenbahn ist. In der Decussatio pyramidum kreuzen ca. 80 % der Fasern auf die Gegenseite und verlaufen als Tractus corticospinalis lateralis im Rückenmark. Die ipsilateral verbleibenden ca. 20 % der Fasern ziehen als Tractus corticospinalis anterior nach kaudal und kreuzen erst segmental in Höhe ihrer Endigung.
Klinischer Bezug
Eine Basilaristhrombose kann bei einer bilateralen Schädigung des basalen Pons und basalen Tegmentum pontis zu einem „Locked-in-Syndrom“ durch den vollständigen Ausfall aller motorischen Bahnen und der pontinen Hirnnervenkerne führen (Barbic et al. 2012). Bei vollständig erhaltener Kognition erleidet der Patient eine Tetraplegie. Mimik, Kauen, Schlucken und Sprechen sind durch die Schädigung der Kerngebiete nicht mehr möglich. Vertikale Augenbewegungen bleiben meist als einzige Kommunikationsmöglichkeit erhalten, gelegentlich auch der Lidschluss.

Dorsale Etage des Hirnstamms

Die Vierhügelplatte (Tectum) bildet mit den Colliculi superiores et inferiores den dorsalen Abschnitt des Mittelhirns. Die Colliculi superiores sind optische Reflexzentren und erhalten beiderseits Afferenzen aus der Retina. Die Colliculi inferiores sind hingegen akustische Verschaltungszentren und projizieren zum Corpus geniculatum mediale.
Für den Pons und die Medulla oblongata stellt das Cerebellum (Kleinhirn) den dorsalen Anteil dar. Dieser Hirnabschnitt stimmt über kortikopontozerebelläre Bahnen Informationen vom Großhirn über geplante Bewegungsabläufe mit der aktuellen Lage des Körpers ab. Es lassen sich drei Abschnitte nach der Qualität der Afferenzen unterscheiden:
  • Spinocerebellum (Vermis und paravermale Zone der Kleinhirnhemisphären): Muskeltonus (Halte- und Stützmotorik)
  • Vestibulocerebellum (Lobus flocculonodularis): Gleichgewichtserhaltung (Bewegung und Stellung des Kopfes im Raum)
  • Pontocerebellum (laterale Kleinhirnhemisphären): Bewegungsplanung mit zielgerichteter Feinmotorik
Es werden vier paarige Kleinhirnkernkomplexe im Marklager (Ncl. fastigii, globosus, emboliformis, dentatus) unterschieden, die den Längszonen der Kleinhirnrinde zugeordnet sind. Die Afferenzen aus dem EPMS (Ncl. olivaris inferior), dem Großhirn (Ncll. pontis), dem Rückenmark (Ncl. thoracicus), der Medulla oblongata (Ncl. cuneatus accessorius) und dem Gleichgewichtssystem (Ncll. vestibulares) projizieren in die dreischichtige Kleinhirnrinde. Die Kleinhirnkerne erhalten exzitatorische Kollateralen dieser Fasersysteme. Die inhibitorischen Purkinje-Zellen sind die einzigen Neurone der Kleinhirnrinde mit Termination an den Kleinhirnkernen. Die davon ausgehenden Efferenzen des Kleinhirns projizieren über den Thalamus zum Kortex und über Hirnstammkerne zum Rückenmark (Ncll. ruber, olivaris inferior, vestibulares). Vereinfacht ergibt sich nach funktionellen Aspekten das Verschaltungsdiagramm der Abb. 6.

Facharztfragen

1.
Warum ist eine Raumforderung in der hinteren Schädelgrube schnell lebensgefährlich?
 
2.
Welche Symptome erwarten Sie bei einer Schädigung des Mesencephalons?
 
3.
Die Formatio reticularis ist Teil welcher Steuerzentren?
 
4.
Welche Hirnnerven haben ihre Kerngebiete nicht im Hirnstamm?
 
Literatur
Barbic D, Levine Z, Tampieri D, Teitelbau J (2012) Locked-in syndrome: a critical and time-dependent diagnosis. CJEM 14:317–320PubMed