Besonderheiten
Der Musculus biceps brachii überbrückt sowohl das Schulter- als auch das Ellenbogengelenk und besteht proximal aus der kurzen und der langen Bizepssehne (LBS), die in einen gemeinsamen Muskelbauch münden, der mit der Sehne an der Tuberositas radii breitflächig (19 mm × 4 mm) inseriert.
Die distale Sehne kann in einen langen und kurzen Anteil unterteilt werden (Blonna et al.
2016), wobei der kurze Anteil weiter distal inseriert und eher als Flexor agiert, und der lange Anteil weiter proximal und weiter entfernt von der Rotationsachse des Radius und eher als Supinator fungiert.
Auch die distale Bizepssehne besteht aus 2 Anteilen, einem kurzen distalen flektierenden und einem langen proximalen supinierenden Anteil.
Ein Muskel inseriert oder entspringt immer mit seiner langen Sehne am Effektorgan. Somit wird dem Bizepsmuskel mit der LBS die Hauptfunktion dem Schultergelenk zugeordnet, da die lange Sehne am Schultergelenk entspringt.
Die LBS entspringt mit diversen Normvarianten an der oberen Schulterpfanne. Hier wird das Tuberculum supraglenoidale des Glenoids als Hauptursprung angesehen und Fasern der LBS strahlen in das superiore Labrum, den sogenannten SLAP-Komplex (SLAP = „superior labrum anterior to posterior“), ein (Cooper et al.
1992). Der LBS-Ursprung ist anfällig, und SLAP-Läsionen wurden erstmalig Ende der 1980er-Jahre beschrieben (Andrews et al.
1985; Snyder et al.
1990). Intraartikulär läuft die Sehne über die knorpelige Gelenkfläche des Humeruskopfes zum Sulcus intertubercularis nach distal. Bei maximal außenrotiertem Humerus zieht die LBS über den höchsten Punkt des Humeruskopfes.
Die LBS wird vor dem Eintritt in den Sulcus intertubercularis durch ein schlingenartiges sogenanntes Bizeps-Pulley-System
(Walch et al.
1998) („pulley“ = Seilrolle) stabilisiert, das die LBS stabilisiert und vor Scherbeanspruchungen geschützt. Medial wird das Pulley-System vom superioren glenohumeralen Ligament (SGHL) und der M.-subscapularis-Sehne (SSC) gebildet, die M.-supraspinatus-Sehne (SSP) und lateral-kranial das Ligamentum coracohumerale (CHL) bilden die lateralen Anteile des Pulley-Systems. Die intakten
Stabilisatoren schützen den humeralen Gelenkknorpel vor Schäden durch die über ihm verlaufende LBS. Aufgrund dieser fein abgestimmten Anatomie können Läsionen zu LBS-Instabilitäten und Schäden des Gelenkknorpels und der angrenzenden Sehnen führen.
Gemäß der geschädigten Strukturen wurde von Habermeyer eine erste Klassifikation der Bizeps-Pulley-Läsionen aufgestellt (Habermeyer et al.
2004). SLAP
- und Pulley-Läsion
en können sowohl repetitiv mikro- als auch makrotraumatisch entstehen, aber auch degenerative Prozesse spielen ätiopathogenetisch eine Rolle. Ein typischer Traumamechanismus für SLAP-Läsionen ist der Zug am Arm wie auch in der Durchzugsphase eines Wurfs (Andrews et al.
1985) oder der Sturz auf den außenrotierten und abduzierten Arm (ABER) (Braun et al.
2010; Patzer et al.
2011a; Snyder et al.
1990). Auch ein posterosuperiores Impingement ist für SLAP-Läsionen beschrieben (Burkhart et al.
2003; Walch et al.
1991). Beim Überkopfaktiven kommt es hierbei verstärkt durch ein GIRD-Syndrom (Burkhart et al.
2003), einer elongierten anteroinferioren Kapsel und einer reaktiv kontrakten posteroinferioren Kapsel, zu einem dynamischen Shift des Humeruskopfes und folglich in der ABER-Position zu einem Anschlagen des ISP-Ansatzes am posterosuperioren Glenoidrand und zu einem Abscheren der SLAP-Region (Barber et al.
1999; Burkhart und Morgan
1998). Pulley-Läsionen können durch einen Sturz auf den innenrotierten flektierten Arm entstehen (FLIRT) (Braun et al.
2010; Patzer et al.
2011a). Für Pulley-Läsionen wurde ein anterosuperiores Impingement (Gerber und Sebesta
2000; Habermeyer et al.
2004) der Unterfläche des Pulley-Systems gegen den anterosuperioren Glenoidrand als typische Ursache beschrieben. Hierbei wird bei innenrotiertem Arm bis 90°-Flexion eher die SSC-Sehne, über 90°-Flexion eher das SGHL betroffen bzw. symptomatisch.
Die Inzidenz von SLAP-Läsion wird mit ca. 6 % (Patzer et al.
2011a), die von Pulley-Läsionen mit 3–7 % der Schultergelenkspathologien beschrieben (Baumann et al.
2008; Patzer et al.
2011a).
Nach dem Eingang in den Sulcus intertubercularis verläuft die LBS in einer Sehnenscheide unterhalb des Lig. transversum humeri nach distal, das hauptsächlich von Fasern der Sehne des M. subscapularis aber auch des Lig. coracohumerale und der Sehne des M. supraspinatus gebildet wird. Durch den glenoidalen Ursprung der LBS und die
Insertion am Radius überspannt der M. biceps brachii 2 Gelenke und ist somit ein Flexor im Ellenbogengelenk und Supinator am Unterarm.
Die Funktion der LBS für das Schultergelenk wird kontrovers diskutiert. Die LBS limitiert bei intaktem SLAP-Komplex die anteriore
Translation (Mcmahon et al.
2004; Pagnani et al.
1996; Patzer et al.
2012a) und soll einer proximalen
Migration des Humeruskopfes entgegenwirken (Kumar et al.
1989). Andererseits zeigten Langzeituntersuchungen bei massiven Rotatorenmanschetten-Defekten keine Kranialisation des Humeruskopfes nach LBS-Tenotomie (Walch et al.
2005). Eine aktive Depressorfunktion der LBS konnte elektromyographisch ausgeschlossen werden, wobei jedoch eine passiv stabilisierende Funktion der LBS für die Schulter nachgewiesen wurde (Yamaguchi et al.
1997).
Die LBS agiert nicht als aktiver aber als passiver Depressor des Humeruskopfes und limitiert vor allem die anteriore glenohumerale
Translation.
Der Anteil der LBS, der im Sulcus intertubercularis verläuft, wird von einer Sehnenscheide umgeben, die eine Erweiterung der glenohumeralen Membrana synovialis darstellt, was die Anfälligkeit der LBS bei Inflammationen und Reizungen des Schultergelenks erklärt. Sonographisch lässt sich die gefüllte Sehnenscheide als Halo um die LBS darstellen. Als Folge dieser entzündlichen und degenerativen Veränderungen kann die Sehne spontan rupturieren, was häufig mit einer direkten Beschwerdelinderung der Patienten einhergeht. Auch eine meist sekundäre Hypertrophie der LBS ist bekannt, die zu einer Einklemmung des intraartikulären Sehnenanteils im Sulcus bicipitalis führen und somit
Schmerzen verursachen kann. Dieses Phänomen ist als Uhrglas-Bizeps
beschrieben worden (Boileau et al.
2004), da der aufgetriebene LBS-Anteil sich ähnlich der Enge einer Sanduhr im Sulcus intertubercularis einklemmt und nicht mehr gleiten kann.
Die Therapie von Rotatorenmanschetten-Läsionen soll assoziierte LBS-Pathologien vermindern können. Bei höhergradiger LBS-Instabilität ist der Erhalt der LBS auch bei der Rotatorenmanschetten-Refixation jedoch oft nicht Erfolg versprechend, da der komplexe Lauf der Sehne nicht wiederhergestellt werden kann.
Im Gegensatz zu kombinierten Läsionen mit Beteiligung der Bizepssehne
werden isolierte Tendinitiden der langen Bizepssehne als eher selten angegeben. Bei etwa 5 % der LBS-Tendinitiden kommt es zu einer manifesten Tendinopathie, die bei vermehrter Belastung durch ein Reiben im Sulcus intertubercularis entstehen kann und daher vornehmlich im Bereich des intertuberkulären Abschnitts der Sehne lokalisiert ist. Bekannt sind primäre mediale und laterale LBS-Instabilitäten. LBS-Subluxationen und vollständige Dislokationen sind häufig mit dem Wurfsport assoziiert. Die LBS-Subluxation ist häufig von Bizeps-Pulley-Läsionen oder auch kompletten Rotatorenmanschetten-Rupturen begleitet und führt oft zu sogenannten Pseudoparalysen der Schulter, wobei gerade die LBS-Subluxationen einen manifesten Schmerzgenerator für das Schultergelenk darstellen (Walch et al.
1998). Durch eine LBS-Instabilität können wie durch einen „Scheibenwischereffekt“ der LBS humerale Chondralläsionen entstehen. Dieser Zusammenhang wurde bei Pulley-Läsionen als „humeral chondral print
“ (Castagna et al.
2007) beschrieben und in Kombination mit einer erhöhten glenohumeralen
Translation gerade auch bei SLAP-Läsionen (Patzer et al.
2010) und nach fehlgeschlagenen SLAP-Repair (Byram et al.
2011; Lehmann et al.
2009) beobachtet.
Cave: Bei SLAP- und Bizeps-Pulley-Läsionen kann die instabile LBS wie ein „Scheibenwischer“ humerale Chondralschäden verursachen.
LBS-Läsionen können beim jungen Patienten vor allem durch Überkopfaktivität sowie durch „High-impact“-Sportarten entstehen. Da die LBS die anteriore
Translation limitiert, treten zunächst LBS-Überlastungen auf, die dann bei repetitiver Überlastung, aber auch beim Makrotrauma zu einer Läsion führen können. Beim älteren Patienten führen multilokuläre Degenerationen zu Veränderungen der LBS selbst oder der LBS-stabilisierenden Strukturen mit konsekutiver Beteiligung der Sehne.
Läsionen der distalen Bizepssehne
betreffen 3–12 % der Bizepsverletzungen mit einer Inzidenz von 1,2/100.000 (Blonna et al.
2016). Die distale Bizepssehne reißt typischerweise bei exzentrischer Krafteinwirkung auf den flektierten Ellenbogen. Zwischen dem proximalen Anteil, versorgt von der A. brachialis, und dem distalen Anteil, versorgt vom Ramus recurrens der A. interossea posterior, findet sich eine ca. 2 cm lange hypovaskularisierte Zone, die potenziell degenerieren kann. Bei Pronation verringert sich der Abstand zwischen Ulna und Tuberositas radii um 50 % im Vergleich zur vollen Supination, sodass auch eine Art Impingement des Sehnenansatzes für eine Läsion propagiert wird.