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Pädiatrie
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Publiziert am: 05.01.2019

Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin

Verfasst von: J. Spranger und F. Zepp
Pädiatrie ist die auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte Disziplin der Medizin. Sie ist ein altersbegrenzter Teil der Allgemeinmedizin mit dem Anspruch, Kinder und Jugendliche im Kontext ihrer Lebenswelt ganzheitlich und umfassend zu betreuen. Ihre breite und vielfältige Differenzierung entspricht der Entwicklung der internistischen Spezialdisziplinen. Als Besonderheit hat sich dabei ein enges Verhältnis zwischen Pädiatrie und Genetik herausgebildet. Dies erklärt sich daraus, dass sich die meisten genetisch determinierten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter manifestieren. Fortschritte der genetisch orientierten Medizin ermöglichen es, dass Kinder, die an früher tödlichen, heute aber beherrschbaren Krankheiten leiden, jetzt in guter Lebensqualität das Erwachsenenalter erreichen und selbst bei einer langjährigen Nachsorge eine gezielte Transition, d. h. eine strukturierte Überführung aus der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin erfahren.

Kinderheilkunde als Teil der Medizin

Pädiatrie ist die auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte Disziplin der Medizin. Sie ist ein altersbegrenzter Teil der Allgemeinmedizin mit dem Anspruch, Kinder und Jugendliche im Kontext ihrer Lebenswelt ganzheitlich und umfassend zu betreuen. Ihre breite und vielfältige Differenzierung entspricht der Entwicklung der internistischen Spezialdisziplinen. Kaum eine medizinische Disziplin hat in den vergangenen 50 Jahren so intensiv vom Fortschritt der modernen Lebenswissenschaften profitiert wie die Kinder- und Jugendmedizin. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war sie prioritär mit Fragen der Säuglings- und Kinderernährung und der Behandlung und Kontrolle von Infektionskrankheiten befasst. Die Fortschritte auf den Gebieten Immunologie, Genetik, molekularer Medizin und nichtinvasiver bildgebender Untersuchungstechniken haben eine hochmoderne Pädiatrie begründet, der es gelungen ist, die Ursachen vieler seltener Krankheiten zu entschlüsseln und innovative therapeutische Konzepte zu entwickeln. Ein Schwerpunkt der pädiatrischen Forschung blebt jetzt die Ursachenforschung und Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten seltener Erkrankungen. Als Besonderheit hat sich dabei ein enges Verhältnis zwischen Pädiatrie und Genetik herausgebildet. Dies erklärt sich daraus, dass die meisten genetisch determinierten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter auftreten. Fortschritte der genetisch orientierten Medizin ermöglichen es, dass Kinder mit noch vor wenigen Jahren unheilbaren Genopathien heute in guter Lebensqualität das Erwachsenenalter erreichen. Zusammen mit Kindern aus anderen Subdisziplinen, die an früher tödlichen, heute aber beherrschbaren Krankheiten leiden und einer langjährigen Nachsorge bedürfen, erwartet sie eine gezielte Transition, d. h. eine strukturierte Überführung aus der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin.
Zentrale Aufgabe von pädiatrisch tätigen Ärztinnen und Ärzten ist die Sicherstellung der körperlichen und geistig-seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Bei der Geburt angelegte Strukturen und Funktionen des Organismus sind zu bewahren, in ihrer Entwicklung zu fördern, im Krankheitsfall wiederherzustellen. Jedes Kind soll sein körperliches und geistiges Potenzial optimal entfalten und die bestmögliche Lebensqualität erlangen. Somit verlangt pädiatrische Tätigkeit besondere Kenntnisse der altersabhängigen Veränderung physiologischer und pathophysiologischer Abläufe, der geistigen und seelischen Entwicklung sowie der besonderen Abhängigkeit, Verletzlichkeit unter Berücksichtigung der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit des Kindes. Pädiatrie ist mithin nicht nur eine kurative, sondern in hohem Maße präventiv handelndes medizinisches Fachgebiet.
Eine Besonderheit der Pädiatrie ist die Erweiterung der Arzt-Patienten-Beziehung durch Eltern oder andere Sorgeberechtige. Sie sind zusätzliche, in Aufklärung und Beratung einbezogene, nicht aber selbst erkrankte Ansprechpartner. Kinder- und Jugendmedizin ist mithin immer auch Familienmedizin. Sie erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Verständnis für Sorgen und Ängste von Eltern und Angehörigen. Die kinderärztliche Entscheidung geht damit immer durch den Filter einer dritten Instanz. Kinderärztin und Kinderarzt arbeiten gewissermaßen unter Aufsicht der Eltern. Sie arbeiten jedoch auch mit deren Assistenz. Eltern übernehmen Funktionen, für welche in anderen medizinischen Disziplinen fremde Personen wie Schwestern, Pflegekräfte oder Sozialarbeiter benötigt werden. Nicht verschwiegen sei allerdings, dass Kinder gelegentlich auch vor ihren Eltern zu schützen sind.
In der letzten Dekade haben gerade in industrialisierten Staaten ökonomische Gesichtspunkte die Kinder- und Jugendmedizin vor neue Herausforderungen gestellt. Getrieben von den rasant steigenden Kosten moderner diagnostischer und therapeutischer Verfahren wird gefordert, für jeden Patienten die wirtschaftliche Bilanz der individuellen medizinischen Betreuung zu berücksichtigen. Moderne Krankenhäuser sollen wie ein Hochleistungsbetrieb im vorgegebenen Fertigungstakt funktionieren. Der Patient wird zum Kunden und der Arzt zum Dienstleister im Gesundheitsgeschäft. Medizinische Versorgung primär unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Erfolgs und nicht des individuellen Zugewinn an Wohlbefinden und Lebensqualität ist bedrückend und birgt besonders für das Kindes- und Jugendalter enorme Gefahren. Pädiatrie dient umfassend der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit und Lebensqualität zukünftiger Generationen. Diese Grundlage unserer medizinisch-ethischen Verantwortung darf nicht von puren ökonomischen Interessen reguliert und gesteuert werden. Deshalb gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Pädiatrie, die Interessen von Kindern und Jugendlichen in merkantil dominierten Versorgungsstrukturen mit Vehemenz zu vertreten. In diese Aufgabe sind Ärztinnen und Ärzte, Fachverbände, berufspolitische Vereinigungen, Kinderkrankenpflege und Betroffeneninitiativen gleichermaßen einbezogen.

Frühe Entwicklung der deutschsprachigen Pädiatrie

Mit der Erkenntnis der körperlichen und seelischen Besonderheiten des Kindes grenzte sich die Pädiatrie im späten 18. Jahrhundert von der Erwachsenenmedizin ab. Wurden Kinder zuvor als unfertige Erwachsene begriffen und bei schwerer Krankheit zusammen mit erwachsenen Patienten in denselben Räumlichkeiten behandelt, entwickelten sich aus Einrichtungen für Arme, Waisen- und Findelkinder die ersten Kinderkrankenhäuser. 1802 entstand aus dem Waisenhaus Maison de l’enfant Jésus in Paris das Hôpital des Enfants Malades. Das erste Kinderkrankenhaus des deutschsprachigen Raums, nach St. Petersburg und Paris das dritte in Europa, wurde 1837 in Wien errichtet. Aus ihm entstand 1849 das St.-Anna-Kinderspital, die erste deutschsprachige Universitätskinderklinik und Zentrum der führenden Wiener Schule der Kinderheilkunde mit noch heute erinnerten Ärzten, wie Mauthner und von Pirquet.
Aus rein spekulativen Annahmen über die Ursache von Kinderkrankheiten entwickelte sich eine auf sorgfältiger Beobachtung und naturwissenschaftlicher Analyse gegründete pädiatrische Krankheitslehre. In Deutschland berief 1893 Friedrich Althoff, vortragender Rat im preußischen Kultusministerium, unter dem Eindruck einer Sterblichkeitsrate von über 30 % der Lebendgeborenen Otto Heubner aus Leipzig nach Berlin. Ein Jahr später ernannte er ihn zum ersten deutschen Ordinarius für Kinderheilkunde – gegen den Protest der Berliner medizinischen Fakultät unter Wortführung Virchows. Pädiatrie wurde Lehr- und Prüfungsfach. Aus akribischer klinischer Beobachtung und Krankheitsbeschreibung, ihrer Kontrolle durch die pathologische Anatomie, den Erkenntnissen der Bakteriologie (Theodor Escherich, Claus v. Pirquet) und Ernährungslehre resultierten Erfolge in der Bekämpfung von Infektions- und Ernährungskrankheiten. Es begann eine wissenschaftliche Blütezeit, die bis in die frühen 1930er-Jahre andauerte. Namen wie Czerny, Finkelstein, Moro, von Pfaundler sind mit der Erinnerung an diese Zeit verbunden. In ihr wurden die heute selbstverständlichen Grundlagen der kurativen und präventiven Pädiatrie geschaffen, das Wissen um Ernährungsphysiologie, Impfungen, die Rachitis und Rh-Inkompatibilität, um nur Weniges zu nennen.
Mit dem Niedergang der Kinderheilkunde im Einflussbereich des Nationalsozialismus, durch Berufsverbot, schließlich der Vertreibung maßgeblicher Pädiater sowie den Folgen des Weltkriegs, war es der Schweiz vorbehalten, die Tradition der deutschsprachigen Pädiatrie fortzuführen und auf ihrem internationalen Niveau zu halten. Mithilfe ihrer schweizer Kollegen konnten deutsche und österreichische Kinderärzte nach dem Krieg wieder Anschluss an die internationale Kinderheilkunde gewinnen. Erinnert sei an die von Fanconi, Prader, Rossi, Zellweger und anderen in Zürich gestalteten Fortbildungsseminare.

Veränderungen des Aufgabenspektrums seit 1945

Während in Entwicklungsländern infektions- und ernährungsassoziierte Mangelkrankheiten zentrale Aufgaben der Kinderheilkunde blieben, verdrängten in den hoch entwickelten Ländern Impfungen und Antibiotika, Hygiene und immer detailliertere Kenntnisse der Ernährungsphysiologie und -pathologie diese Krankheiten aus den Kliniken. In den Vordergrund der klinischen Pädiatrie schoben sich seltene, häufig genetisch determinierte Entwicklungsstörungen und in zunehmendem Umfang chronische Krankheiten. Biochemie, Immunologie, Molekularbiologie und -genetik, technische Innovationen wie Sonografie, Magnetresonanz- und Positronenemissionstomografie revolutionierten die Diagnostik. Die Zahl bekannter Krankheiten wuchs ebenso rasch wie das Wissen um physiologische und pathophysiologische Vorgänge. So umfasst die moderne Pädiatrie heute mehr als 9000 identifizierte seltene Krankheiten. Nach dem Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Institutes leiden mehr als 16 % aller Kinder- und Jugendlichen unter chronischen Störungen ihrer Gesundheit. Seit der Jahrtausendwende zog die Informationstechnologie, z. B. in Form von Computern, in Kliniken und Praxen ein. Fortschritte der Kommunikationstechnologie erweiterten Wissensumfang und Informationsanspruch der Eltern.
Antibiotika, Hormone, Zytostatika, neue operative und pädiatrisch-therapeutische Verfahren einschließlich Flüssigkeits- und Elektrolyttherapie, Transplantation, interventionelle Verfahren, z. B. in der Kinderkardiologie und -chirurgie, Immun- und Gentherapie, ermöglichen ein Leben mit Krankheiten und Entwicklungsdefekten, die früher den sicheren Tod bedeuteten. Kam die Diagnose einer Leukämie im Jahre 1970 noch einem Todesurteil gleich, so werden heute mehr als 80 % der betroffenen Kinder geheilt. Kinder mit Ösophagusatresie, Myelomeningozelen, sehr kleine Frühgeborene hatten damals kaum eine Überlebenschance. Fortschritte der Prä- und Perinatalmedizin, neue intensivmedizinische und operative Verfahren sicherten ihr Leben, nicht selten freilich um den Preis einer vorübergehenden oder lebenslangen Behinderung. Mit der Betreuung behinderter und chronisch kranker Kinder entstand ein neues Aufgabenspektrum.

Strukturentwicklung der Pädiatrie

Wie die Erwachsenenmedizin passte sich die Kinderheilkunde den unübersichtlicher werdenden Kenntnissen und Verfahren durch Spezialisierung an. Glaubten leitende Ärzte der 1960er-Jahre die Kinderheilkunde noch weitgehend überblicken zu können, ist die moderne Pädiatrie ohne Spezialbereiche nicht mehr denkbar. Anders als in angelsächsischen Ländern wuchs in Deutschland allerdings mit der Spezialisierung die Gefahr der intellektuellen und organisatorischen Absonderung einzelner Teilgebiete. Der damit verbundene Hang zum Partikularismus gefährdet zunehmend die ganzheitliche Betreuung von Kindern.
Verglichen vor allem mit englischsprachigen Ländern hat die deutsche Pädiatrie eine besondere Struktur. Sie ist gekennzeichnet durch die strenge Trennung zwischen stationärer und ambulanter Betreuung. Zahl und Organisationsgrad der niedergelassenen Kinderärzte und -ärztinnen übertreffen die vieler anderer Länder. Ihre Qualifikation führte zur weitgehenden Verlagerung der pädiatrischen Grundversorgung und Prävention aus dem stationären in den ambulanten Bereich. In die Klinik, insbesondere auch ihre neonatologischen, intensivmedizinischen und onkologischen Bereiche, werden bevorzugt nur noch schwere, unklare oder hochspezielle Behandlungsfälle eingewiesen. Sie bilden eine personalintensive und anspruchsvolle, aber für Aus- und Weiterbildung zunehmend schmalere Basis. Studenten und Weiterbildungsassistenten sehen überwiegend schwere und seltene Krankheiten, die Pädiatrie des Alltags wird häufig nur in Notfallambulanzen und Bereitschaftsdiensten erfahren. Die damit verbundenen organisatorischen und ökonomischen Schwierigkeiten prägen das Bild der heutigen Kinderklinik ebenso wie die zwischen 1970 und 1980 erfolgte Öffnung für die erwachsenen Angehörigen. Wenige Patienten, kritische und anspruchsvolle Eltern ergeben im heutigen Versorgungssystem eine sehr schmale wirtschaftliche Basis.

Präventive Medizin – Sozialpädiatrie

Neben dem erweiterten Behandlungsspektrum übernahm die ambulante Pädiatrie vermehrt Aufgaben der sekundären und tertiären Prävention, von Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation. In Deutschland setzten sich Kinderärzte wie Nitsch, Schmid, von Harnack, Theobald, Hellbrügge u. a. für die Verlagerung der individuellen in die staatlich gelenkte und öffentlich finanzierte Vorsorge ein. Unter dem Begriff der Sozialpädiatrie wurden Vorsorgeuntersuchungen systematisiert und ein Netzwerk von Frühförderungszentren eingerichtet. Ökonomisch gesehen bringt Prävention im Kindesalter bessere höhere Ersparnisse als präventive Maßnahmen im späteren Lebensalter, d. h. in und nach den Jahren der individuellen Produktivität und Wertschöpfung. Mit dem intensivierten Wunsch nach Krankheitsfrüherkennung wuchs freilich auch die Gefahr von Überdiagnostik und Übertherapie. Die Erkennung des Normalen bleibt ebenso eine der Hauptaufgaben der Pädiatrie wie die kritische Evaluierung therapeutischer Neuerungen.

Kinderarzt und Gesellschaft

Die Beratung der Eltern bei fetalen oder genetisch determinierten Krankheiten, die Frage lebensverlängernder Maßnahmen bei unheilbar Kranken, die Achtung der Entscheidungsfreiheit der Eltern, Persönlichkeitsschutz, das Recht auf Wissen und Nichtwissen sind Themen, denen sich der Kinderarzt nicht entziehen kann und zu denen er ethisch fundierte Entscheidungen zu treffen hat. Sie sind Teil der unmittelbaren Patienten-Arzt-Beziehung. Doch das Kind ist nicht nur Patient, sondern ein schutzbedürftiges Wesen in einer zunehmend von wirtschaftlichen Aspekten dominierten Gesellschaft. Die Entwicklung neuer Medikamente, die Diskussion um familiäre und öffentliche Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern oder um die Zulassung genetisch-diagnostischer Maßnahmen, um nur einige Beispiele zu nennen, darf sich nicht ausschließlich an den Interessen der Erwachsenen orientieren. Die Pädiatrie war schon immer eng mit der öffentlichen Gesundheitsfürsorge verbunden. Sie hat die bleibende Verpflichtung, ihre Stimme für Kinder in der Öffentlichkeit zu erheben.

Ökonomisierung und evidenzbasierte Pädiatrie

Mit steigender Lebenserwartung und Lebensqualität erhöhen sich die Kosten der Medizin. Versuche ihrer Begrenzung führen zu ausgedehnten Kontrollsystemen, Verwaltungsarbeit und zeitlicher Einschränkung genau des Teils der ärztlichen Tätigkeit, dessen Mangel von der Solidargemeinschaft beklagt wird, nämlich der sprechenden, einfühlend-ganzheitlichen Medizin. An der Wurzel ökonomischer Schwierigkeiten und des atmosphärischen Unbehagens liegen die Unbestimmtheit des Gesundheitsbegriffs, der Anspruch auf allerbeste Medizin für alle, die zunehmende Beanspruchung des Gesundheitssystems durch Patienten aus anderen Kulturbereichen, und schließlich eine höhere Wertstellung von Familien- gegenüber Arbeitszeiten seitens des ärztlichen und Pflegepersonals. Die in der Erwachsenenmedizin geläufige Diskussion zwischen privat und öffentlich zu bezahlenden medizinischen Maßnahmen spart die Pädiatrie weitgehend aus, befreit sie jedoch nicht von ihrer Pflicht zur Wirtschaftlichkeit und damit einer prozess- und ergebnisorientiert hohen Qualität.
Die Qualität medizinischer Angebote und Interventionen soll wissenschaftlich belegt sein. Von rationalen Begründungen und Hypothesen ausgehend, sollen sie auf der Basis wiederholbarer, sachorientierter, widerlegbarer Beobachtungen und Erfahrungen beruhen. Wissenschaftlich begründete Verfahren und Eingriffe werden unter dem Begriff der evidenzbasierten Medizin subsumiert. Klinische Evidenz, d. h. der auf Beobachtung und Schlussfolgerung beruhende wissenschaftliche Nachweis einer diagnostischen, therapeutischen oder präventiven Wirkung, kann aus systematischen Untersuchungen und ihrer Metaanalyse hervorgehen. Sie dienen als externe Quelle ärztlicher Entscheidungsfindung. Goldstandard externer Evidenz ist die randomisierte, Placebo-kontrollierte, prospektive Doppelblindstudie. Ihr Nachteil ist die begrenzte Übertragbarkeit ihrer Befunde auf das Individuum. Eine Letalitätswahrscheinlichkeit von 90 % sagt nicht aus, ob ein betroffenes Individuum zu den 90 Sterbenden oder 10 Überlebenden gehören wird. Evidenz erwächst ebenso ohne statistische Prüfungsverfahren intern, d. h. aus individueller Erfahrung. Die Wirksamkeit einer Transplantation genetisch manipulierter Zellen lässt sich aus der Korrektur eines lebenslang bestehenden kombinierten Immundefekts bei einem einzigen Kind belegen. Zur Ermittlung von Heilungswahrscheinlichkeit und Komplikationsrate dieser Intervention bei der kombinierten Immunschwäche bedarf es jedoch auch hier der seriellen prospektiven Untersuchung. Interne Evidenz, d. h. persönliche Erfahrung, ist zur Interpretation von externer Evidenz und den daraus gewonnenen Leitlinien sowie für ihre Anwendung im Einzelfall unabdingbar. Interne Evidenz kann aber als solche nicht generalisiert werden. Sie eignet sich nicht zur Bildung allgemeingültiger Lehrsätze und unterliegt als Individualurteil vermehrt der Gefahr von Irrtum und Täuschung. Nur durch strukturierte Untersuchung der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den praktischen ärztlichen Alltag kann beurteilt werden, welche medizinischen Innovationen tatsächlich einen Fortschritt für Kinder und Jugendliche bedeuten.

Kinderarzt, Umwelt und Irrationales in der Pädiatrie

Eine Statistik des Jahres 1907 belegt, dass im Deutschen Reich 439,7 pro 1000 Kinder bis zum 16. Lebensjahr starben. Die mittlere Lebenserwartung von männlichen Neugeborenen betrug 45 Jahre, die eines weiblichen 48 Jahre. In Mitteleuropa ist die Neugeborenenmortalität seit dem Ende des 2. Weltkriegs von Werten um 40 auf solche um 5 pro 1000 gesunken und die davon wesentlich abhängige Lebenserwartung auf nunmehr 90 Jahre für Frauen und 84 Jahre für Männer gestiegen.
Dieser Zuwachs an Lebensjahren ist mit einem ebenso großen Gewinn an Lebensqualität und Genussfähigkeit verbunden. Demgegenüber steht eine unverändert große, ja wachsende Angst vor schädigenden Einflüssen einer als lebensfeindlich empfundenen, naturwissenschaftlich geprägten Zivilisation. Mit dem Verschwinden von Hunger und Krieg, der Beherrschung von Naturgewalten und tödlichen Epidemien richtet sich die gleiche Angst auf Verunreinigungen von Luft und Nahrung im Picogrammbereich ebenso wie auf die Effekte einer hoch technisierten Medizin. So irrational diese Ängste sein mögen, beeinflussen sie dennoch Befindlichkeiten und fordern ärztliche Abhilfe. Die deutschsprachige Pädiatrie stellt sich dieser Aufgabe u. a. mit einem Informations- und Aufklärungssystem für Umweltgefährdungen. Dass auf dem Boden irrationaler Ängste irrationale, alternative Formen der Medizin gedeihen, hat komplexe Ursachen (Kap. „Komplementärmedizinische/alternative Verfahren bei Kindern und Jugendlichen“).

Dieses Buch

Das vorliegende Buch geht über Leitlinien hinaus, indem es sie begründet, erklärt und dem individuellen Urteil öffnet. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und Ausschließlichkeit. Viele Erkenntnisse sind extern validiert, andere beruhen auf tradierter Einschätzung und persönlicher Erfahrung. Alle jedoch öffnen sich und unterliegen dem Postulat der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Sie verändern sich mit jeder neuen Auflage dieses Fachbuchs. Widerlegbarkeit, Entwicklung, Änderung sind Wesensmerkmale der Schulmedizin. In diesem Sinn ist dieses Buch bewusst, und nicht ohne Stolz, ein Werk der Schulmedizin.
Weiterführende Literatur
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