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Pädiatrische Rheumatologie
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Publiziert am: 01.12.2021

Ergotherapie in der pädiatrischen Rheumatologie

Verfasst von: Leonie Merschmeier und Lea Zülch
Der ergotherapeutische Fachbereich in der Behandlung rheumatisch erkrankter Kinder und Jugendlicher legt den Fokus auf die Handtherapie. Bewegungsausmaß, Kraft und Feinmotorik sollen erhalten oder wiedererlernt werden, um den Kindern und jungen Erwachsenen einen möglichst problemfreien Alltag rund um Schule, Arbeit, Hobby und Freizeit zu ermöglichen. Gelenkschutz und Ergonomie, Schienen- und Hilfsmittelberatung sowie die Elternarbeit bilden wichtige Bausteine in der vielseitigen Therapiegestaltung. Diese wird immer individuell für jeden einzelnen Patienten angepasst.

Allgemeines

In vielen Kliniken, Institutionen und Praxen hat die Ergotherapie im interdisziplinären Team ihren eigenständigen anerkannten Platz bei der Behandlung rheumatisch erkrankter Kinder und Jugendlicher. Um einen Überblick über die Behandlungsmöglichkeiten zu bekommen, sind im Folgenden die Schwerpunkte in der ergotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der pädiatrischen Rheumatologie aufgeführt:
  • Motorisch-funktionelle Ergotherapie (mit aktiven und passiven Bewegungsübungen),
  • Gelenkschutz,
  • Orthesenversorgung,
  • Hilfsmittelberatung- und -versorgung, ggf. Hilfsmitteltraining,
  • Elternanleitung und -beratung,
  • physikalische Maßnahmen (Wärme und Kälte),
  • Handwerk,
  • Ergonomie,
  • Graphomotorik.
In der Regel ist, wie bei der Physiotherapie auch, eine Kombination verschiedener Therapieangebote sinnvoll, um die bestmögliche Behandlung zu gewährleisten und um das übergeordnete Ziel der Ergotherapie zu erreichen: Kinder und Jugendliche bei der Durchführung, der für sie bedeutungsvollen Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit zu stärken, um eine Verbesserung der Lebensqualität und der Handlungsfähigkeit im Alltag zu ermöglichen.
Im Kap. „Therapie“ werden die einzelnen Schwerpunkte genauer beschrieben und erläutert. Zunächst ist es jedoch unerlässlich eine qualifizierte Befunderhebung durchzuführen, um eine individuelle und gut auf den Patienten abgestimmte Therapie durchführen zu können.

Befunderhebung

Zu Beginn jeder Behandlung stehen das Kennenlernen und eine ausführliche Befunderhebung. In einem ausführlichen Anamnesebogen werden Angaben zum Alltagsleben (z. B. Familie, Kindergarten, Schule, Hobbies) gemacht. Es wird nach dem Krankheitsverlauf und der Krankenvorgeschichte (z. B. nach Operationen oder Unfällen) gefragt und es werden Informationen zur aktuellen Situation (Beginn der Beschwerden, Lokalisation der Schmerzen bzw. der entzündeten Gelenke, Stärke der vorhandenen Schmerzen etc.) gesammelt. Danach kann im Rahmen der Inspektion und Palpation u. a. nach Entzündungszeichen, Fehlstellungen, Achsabweichungen, Atrophien, Hautauffälligkeiten und Ödemen geschaut werden. Um die Beweglichkeit der einzelnen Hand- und Fingergelenke zu überprüfen, dienen unter anderem computergestützte normierte Tests, wie beispielsweise die Neutral-Null-Messmethode (Abb. 1). Dieser kann bei Kindern ab dem Schulalter durchgeführt werden. Hierbei werden das aktive und passive Bewegungsausmaß der Hand- und Fingergelenke sowie die Handkraft gemessen, die Schmerzintensität anhand der visuellen Analogskala (VAS) beurteilt und diverse Greiftests durchgeführt. Zudem kann eine Fotodokumentation von den Händen erfolgen, um beispielsweise Fehlstellungen zu erfassen bzw. deren Verlauf/Veränderung zu beurteilen. Diese computergestützte Befunderhebung eignet sich dafür, um Veränderungen und Verläufe über Jahre zu dokumentieren.
Bei Kleinkindern erfolgt die Befundung eher durch Beobachtung und durch Befragung der Eltern, z. B.
  • „Wie stützt sich das Kind auf dem Boden ab?“,
  • „Gibt es Auffälligkeiten oder Schwellungen an den Gelenken?“,
  • „Zeigt das Kind Schonhaltungen?“,
  • „Wie ergreift es Gegenstände?“,
  • „Vermeidet es bestimmte Alltagsaktivitäten?“,
  • „Ist der kleine und der große Faustschluss möglich?“,
  • „Sind Wachstumsstörungen bzw. -rückstände festzustellen?“,
  • „Wie sieht die Stabilität der einzelnen Finger aus?“,
  • „Gibt es Achsabweichungen?“
Anhand der Beobachtungen, der Befragung der Eltern und der therapeutischen Untersuchung wird dem Therapeuten deutlich, welche Gelenke betroffen sind. Je nach Compliance des Kindes kann einer dieser Schnelltests durchgeführt werden, sprich eine orientierende Untersuchung der Gelenke der oberen Extremität, um den aktuellen Gelenkstatus zu beurteilen.
Schnelltests
  • Ellenbogenbeugung: Die Hände sollen die Schultern berühren.
  • Ellenbogenstreckung: Die Ellenbogen müssen (mit nach oben gehaltenem Daumen) eine Linie bilden oder überstreckbar sein.
  • Umwendbewegung der Unterarme: Bei am Oberkörper fixierten Oberarmen und 90° gebeugten Ellenbogen sollen sich die Unterarme im Wechsel so drehen, dass die Handinnenflächen einmal zum Boden und einmal zur Decke zeigen.
  • Handgelenke: Ca. 90° Beugung und Streckung sowie ca. 30° Bewegung zur Speichen- bzw. Daumenseite.
  • Daumen: Einerseits soll die Abspreizung des Daumens zum sogenannten „L“ möglich sein, andererseits soll die Daumenkuppe das Kleinfingergrundgelenk berühren können. Des Weiteren soll der Daumen jede einzelne Fingerkuppe berühren können.
  • Finger: Große Faust (Fingerkuppen berühren mit zum „L“ abgespreizten Daumen den Handwurzelbereich) und kleine Faust (Fingerkuppen berühren, bei gestreckten Fingergrundgelenken, die Fingergrundgelenke) sollen ohne Fingerkuppenhohlhandabstand gelingen. Fingerstreckung und Fingerspreizung sollen möglich sein.

Therapie

Je nach Befund und in Absprache mit Eltern, Kindern bzw. Jugendlichen und mit dem interdisziplinären Team werden Ziele definiert, die kurz- mittel- oder langfristig im Rahmen der Therapie erreicht werden sollen. Dementsprechend werden die ergotherapeutischen Maßnahmen festgelegt. Symptomatik und Aktivitätszustand der Erkrankung entscheiden über die Kombination unterschiedlicher Therapiemaßnahmen.
Die ergo- bzw. handtherapeutische Behandlung bei entzündlichen Gelenkveränderungen an der Hand und/oder an den Fingergelenken sollte so früh wie möglich einsetzen. Dabei ist die Einzeltherapie einer gruppentherapeutischen Maßnahme vorzuziehen. In der Regel ist nach folgenden Richtlinien zu therapieren: Die Behandlung sollte in einer angenehmen, entspannten Atmosphäre stattfinden, die für das Alter des Kindes oder des Jugendlichen entsprechend gestaltet ist. Damit sind Spielmöglichkeiten sowie gezielt eingesetzte Materialien zur Förderung der Kreativität ebenso gemeint wie Ratespiele, Vorlesen oder Vorspielen von Hörspielkassetten oder mitgebrachten eigenen Musiktonträgern etc. Die funktionelle Therapie und der Einsatz von handwerklichen Medien sind aufeinander abzustimmen. Da Kleinkinder oft nur über einen relativ kurzen Zeitraum für die Therapie zu gewinnen sind, muss man sie immer in einem kindgerechten Rahmen behandeln, solange Bewegungseinschränkungen, Fehlbelastungen oder Achsenfehlstellungen bestehen.
Im Folgenden werden die einzelnen relevanten ergotherapeutischen Maßnahmen im Hinblick auf rheumatische Erkrankungen in der Kinder- und Jugendrheumatologie aufgelistet und erläutert.

Motorisch-funktionelle Therapie

Im Vordergrund steht, v. a. bei entzündlichen Gelenkerkrankungen, die passive Mobilisation der betroffenen Gelenke, um Kontrakturen und Fehlstellungen zu vermeiden, passive und aktive Gelenkbeweglichkeit zu verbessern und die muskulären Dysbalancen durch angepasste Kräftigung zu minimieren. Durch aktive Bewegungsübungen können zusätzlich Stabilität und Kraft verbessert werden.
Die passive Mobilisation soll möglichst schmerzfrei erfolgen, wobei ein sogenannter Dehnungsschmerz erlaubt ist, solange der Patient diesen toleriert und nicht dagegen spannt. Das betroffene Gelenk wird langsam, vorsichtig, gleichmäßig und achsenkorrigierend bewegt. Dabei muss auf gelenknahes, großflächiges Greifen ohne punktuellen Druck geachtet werden. Ziel ist es, die betroffenen Gelenke wieder möglichst (schmerz-)frei bewegen zu können und aus den falschen Bewegungsmustern auszubrechen und ein Gleichgewicht zwischen hypertoner und hypotoner Muskulatur herzustellen.
Sind die Fehlstellungen und die Bewegungseinschränkungen annähernd vom Patienten ausgleichbar, werden zunehmend aktive Therapieübungen eingesetzt. In dieser Phase werden jene Muskelgruppen aktiviert, die der Fehlstellung entgegenwirken. Dabei lernt der Patient Fehlstellungen aktiv zu korrigieren. Der Patient muss verlernte physiologische Bewegungsabläufe wieder erlernen bzw. die pathologischen Bewegungsabläufe verlernen (s. unten: Aktive und passive Behandlung am Beispiel des Handgelenks).
Folgende aktive Bewegungsübungen können durchgeführt werden:
  • Handübungen mit und ohne Therapieknete (Kräftigung, Aktivierung, Dehnen, mit leichtem Widerstand),
  • Übungen mit Qui Gong-Kugeln (Aktivierung, Entspannung, Koordination),
  • Übungen aus der Spiraldynamik (Kräftigung, Aktivierung, Schulung der Körperwahrnehmung).
Diese Übungen können unter Anleitung in der Einzeltherapie oder in Gruppen geübt werden, damit sich keine Fehler oder Ausgleichbewegungen einschleichen. Später sollten die erlernten Übungen zu Hause weitergeführt werden (Abb. 2).

Aktive und passive Behandlung am Beispiel des Handgelenks

Das Handgelenk ist eine Eigelenk und wird aus Radius (Speiche) und Ulna (Elle) sowie der distalen Reihe der insgesamt acht Handwurzelknochen gebildet. Das entzündete Handgelenk bei Kindern und Jugendlichen kommt oft bedingt durch eine schmerzentlastende (reflektorische) Schonhaltung in eine Ulnarabduktion und in eine leichte Palmarflexion. Tätigkeiten werden zunehmend in dieser Schonhaltung ausgeführt, wodurch sich die kindliche Handskoliose entwickeln kann (Handgelenk nach ulnar, Finger in den Grundgelenken nach radial; im Gegensatz zur erwachsenen Handskoliose).
Zusätzlich kann es bedingt durch eine Lockerung des Kapsel-Band-Apparats zu einer Subluxation der Handwurzelknochen bis hin zur sogenannten Bajonettstellung kommen.
Bei der passiven Mobilisation sind v. a. folgende Bewegungsrichtungen wichtig: die achsengerechte Dorsalextension, die Radialabduktion entgegen dem Ulnardrift im Handgelenk, die Palmarflexion und die Pro- und Supination.
Handtherapeutische Behandlung der Arthritis im Handgelenk
  • Vorsichtige passiv-assistive Mobilisation in die Dorsalextension bzw. Radialabduktion unter minimaler Traktion mit Unterstützung des Handwurzelbereichs,
  • aktive Mobilisation durch Aktivieren der Handextensoren (z. B. mit Therapieknete, Einsatz funktioneller Spiele),
  • aktive Mobilisation bei kleineren Kindern in spielerischer Form (z. B. Rasierschaum am Spiegel verwischen),
  • thermische Anwendung (z. B. Einsatz gekühlter Rapssamen; Kap. „Physikalische Therapie in der pädiatrischen Rheumatologie“),
  • Gelenkschutz (z. B. Abstützen vermeiden),
  • ggf. Einsatz von Handfunktionsschiene bzw. Handgelenksmanschetten, um Fehlstellungen zu korrigieren und das Längenwachstum zu unterstützen (Tab. 2, Abschn. 3.3),
  • ggf. Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Einsatz von anatomischen Fahrradgriffen).
Cave: Wie in der Physiotherapie auch gilt bei manuellen Techniken, wie translatorischen Gleitbewegungen, dass niemals in die Subluxationsrichtung mobilisiert wird!

Gelenkschutz

Rheumatisch betroffene Gelenke sind nicht so belastbar wie gesunde Gelenke. Deshalb ist es wichtig, Überlastungen dieser Gelenke zu vermeiden. Gerade Kinder neigen dazu, bei Schmerzen die betroffenen Gelenke ruhigzustellen oder durch Ausweich- oder Trickbewegungen falsch zu belasten oder aber durch Toben, Rennen, Laufen, Springen die Gelenke zu sehr zu belasten.
Bewegung steht bei der Diagnose „Rheuma“ immer an erster Stelle. Die Folgen einer unzureichenden Bewegung sind nämlich verkürzte Sehnen, schwache Muskulatur und kontrakte Gelenke. Wird jedoch zu viel belastet, kann auch dies Folgen haben: Schmerzen, Ermüdung, vermehrte Entzündungsanfälligkeit, Gelenkinstabilitäten, Gelenkverschleiß, Gelenkfehlstellungen.
Wichtig ist es also im Alltag ein Gleichgewicht zwischen Ruhe und Belastung zu finden. Das bedeutet für Kinder und deren Eltern oft ein Umdenken und Umschulen von gewohnten Verhaltensweisen. Beispielsweise muss zeitweise auf lieb gewonnene Freizeitaktivitäten mit hoher Gelenkbeanspruchung (z. B. Fußball, Tennis, Handball) verzichtet werden. Gelenkschutz soll aber auch nicht bedeuten, sich und seine Gelenke möglichst viel zu schonen. Vielmehr ist es wichtig, Eltern und Kinder über den Gelenkschutz zu informieren, damit ein Verständnis für die Erkrankung entsteht. Sowohl Eltern als auch Kinder müssen verstehen, welche Bewegungen im Alltag für die Gelenke gut sind und was eher ungünstig für die Gelenke ist (Tab. 1). Dies erfordert eine gute Patientenberatung und -aufklärung. Es ist sinnvoll zusammen mit Kindern und Eltern zu überlegen, wie der Gelenkschutz in den Alltag des Kindes integriert werden kann und welche Hobbies und Sportarten für das Kind sinnvoll sind.
Tab. 1
Gelenkschutztabelle
Gelenkschutzregel
Beispiel
Stoß- und Schlagbewegungen vermeiden
(→ Entzündungen kommen nicht zur Ruhe; durch Schlag und Stoß entstehen neue Reize, die Entzündungen hervorrufen können)
Sportarten (z. B. Tennisspielen, Fußball) oder handwerkliche Tätigkeiten (z. B. hämmern) vermeiden; Hobbyfindung mit Physio- oder Ergotherapeuten besprechen
Druck auf die Gelenke vermeiden
(→ Um bestehende Fehlstellungen nicht zu verstärken)
Anatomische Fahrradlenker nutzen, Kopf auf Hände abstützen vermeiden; Liegestützen vermeiden
Achsengrechtes Halten und Bewegen
(→ Einseitige Belastung vermeiden, um vorzeitigen Gelenkverschleiß zu vermeiden)
Einhalten von Körperachsen um Schonhaltungen (einseitige Belastung) zu vermeiden, Hilfsmittel zum achsengerechten Arbeiten nutzen, z. B. Öffnerhilfen
Viele und große Gelenke miteinbeziehen
(→ Je mehr Gelenke in eine Bewegung mit einbezogen werden, desto geringer ist die Belastung für jedes einzelne Gelenk)
Beidhändig tragen, Rucksack statt einseitige Umhängetasche tragen, Einkaufswagen nutzen, Federbügelscheren nutzen
Dynamisches Arbeiten
(→ Langes Verharren in einer Position ist ungünstig für entzündete Gelenke)
Sitzen, Stehen und Gehen im Wechsel; z. B. höhenadaptierbaren Schreibtisch nutzen, um im Sitzen oder Stehen zu arbeiten
Hilfsmittel nutzen/Griffverdickungen nutzen
(→ Reduzierung der Belastung für die Gelenke)
Stiftverdickungen zum Schreiben, elektrische Zahnbürste benutzen
Viel Bewegung – wenig Belastung
(→ Bewegung tut den Gelenken gut, nur falsche bzw. Überbelastung stresst die Gelenke)
Fahrrad, Laufrad, Roller für längere Strecken nutzen; langandauerndes Spielen an Computern oder Spielekonsolen vermeiden
Pausen einlegen
(→ Belastungen und Überanstrengung vermeiden, da Entzündungen und Schmerzen die Folge sein können)
Keine langandauernden monotonen Tätigkeiten, Lockerungsübungen miteinbeziehen; nach Anstrengung Pausen machen
Zug auf die Gelenke vermeiden
(→ Unkontrollierter Zug an den Gelenken kann zur Lockerung der Bänder und zur Instabilität beitragen)
Taschen/Tornister lieber auf dem Rücken tragen als sie zu tragen; ggf. doppelte Ausführung der Schulbücher; lieber Dinge rollen als tragen, z. B. lieber Einkaufswagen statt Einkaufskorb nutzen
Das Motto des Gelenkschutzes lautet: Bewegung tut den Gelenken gut, doch eine Fehl- und Überbelastung schadet den Gelenken!
Durch frühzeitiges und konsequentes Befolgen der Gelenkschutzmaßnahmen können Kinder und Angehörige selbst aktiv dazu beitragen, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen und Entzündungen, drohende Fehlstellungen und Versteifungen zu vermeiden bzw. zu reduzieren.

Orthesenversorgung in der Kinderrheumatologie

Die Orthesenversorgung ist ein weiterer Schwerpunkt in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit rheumatischen Erkrankungen.
Hand- und Fingergelenke gehören zu den Gelenken, die hauptsächlich durch Bänder geführt und gehalten werden. Die Lockerung dieses Kapsel-Band-Apparats durch Schwellung und Entzündung führt daher schnell zum Kraftverlust sowie zu einer Schmerzschonhaltung. Durch das Übergewicht der Beugemuskulatur ist diese Schmerzschonhaltung meistens die Beugestellung der Hand- und Fingergelenke. Am Handgelenk stellt sich häufig auch noch eine Ulnarfehlstellung ein, in der alle Alltagsaktivitäten, wie z. B. Schreiben, Malen, Essen, Spielen etc., mit gebeugtem Handgelenk durchgeführt werden. Dadurch, dass die Gelenke wegen der Schmerzschonhaltung nicht mehr in die Streckung gebracht werden, arbeiten nur Muskeln, die die Gelenke in dieser Fehlstellung fixieren. Den Risiken von Kontrakturen, Muskelatrophie und Funktionseinschränkungen gilt es durch die Schienentherapie entgegenzuwirken. Jede Orthese wird dem einzelnen Befund entsprechend genau angepasst, sodass jedes Gelenk exakt korrigiert wird.
Orthesenversorgung
Folgende Ziele können mithilfe einer Orthese erreicht werden:
  • Korrektur von Achsenfehlstellungen,
  • Vorbeugung von Deformitäten/Kontrakturprophylaxe/Hypermobilitätsprophylaxe,
  • Gelenkentlastung/-schonung,
  • Wachstumslenkung,
  • Schmerzreduktion,
  • ggf. Erhalten von Funktion,
  • Ermöglichung von funktioneller (achsengerechter) Therapie,
  • ggf. Redression („Quengelung“).
Je nach Orthese und Zielsetzung sollte sie tagsüber oder nachts getragen werden. Dies bedarf natürlich der Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen – aber noch wichtiger, die der Eltern. Die Kinder und Jugendlichen sollten über pathologische Vorgänge in entzündeten Gelenken und die Folgen des „Nichttragens der Schiene“ gut aufgeklärt werden, damit sich die Compliance verbessert und im Zusammenspiel mit den zahlreichen anderen Therapiemaßnahmen eine positive Entwicklung der Erkrankung ergibt.
Einen Überblick bezüglich der Orthesenversorgung, v. a. bei welcher Deformität/Fehlstellung welche Orthese sinnvoll ist, liefert Tab. 2.
Tab. 2
Überblick Orthesenversorgung
Gelenke
Fehlstellungen
Mögliche Orthesenversorgung
Handgelenk
Bajonettstellung, Abb. 3
Handmanschette, Abb. 4
Handfunktionsschiene, Abb. 6
Kindliche Handskoliose, Abb. 5
Nachtlagerungsorthese, s. Grundgelenke
Fingergrundgelenke (MCP’s)
Kindliche Handskoliose
Hyperextension, Abb. 7
Nachtlagerungsorthese, Abb. 8
Fingermittel- und -endgelenke (PIP’s und DIP’s)
Knopflochfehlstellung, Abb. 9
Antiflexionsorthese, Abb. 10
Spiralfederextensionsorthese, Abb. 11
Schwanenhalsfehlstellung, Abb. 12
Antihyperextensionsorthese, Abb. 13
Daumensattelgelenk (CMC I)
Abduktionskontraktur, Abb. 14
Daumenabduktionsorthese, Abb. 15
Daumengrund- und -endgelenk (MCP I, IP)
90/90 Daumen, Abb. 16
Daumengrundgelenksorthese, Abb. 17
Die Kinder und Jugendlichen sollten in der Ergotherapie den Umgang mit den Orthesen erlernen, um diese im Alltag problemlos einsetzen zu können (z. B. beim Malen/Schreiben oder beim Fahrrad fahren). Hierfür können handwerkliche Tätigkeiten (z. B. Töpfern, Peddigrohr, Seidenmalerei) zum Einsatz kommen.
Regelmäßige Kontrollen wahren die Passgenauigkeit und die korrekte Funktion der verordneten Orthesen. Auch Tragedauer und Notwendigkeit können so besser überprüft werden.

Hilfsmittelversorgung

Bei Kindern und Jugendlichen werden Hilfsmittel eingesetzt, um Schmerzschonhaltungen, Bewegungseinschränkungen, Ausweichbewegungen und permanente Fehlbelastungen zu verhindern. Die Auswahl der Hilfsmittel sollte allerdings sorgfältig und in Absprache mit dem Therapeuten überdacht werden, es soll keine Abhängigkeit erzeugt werden und die Kinder sollten in ihren Handlungen selbstständig bleiben. Um Hand- und Fingergelenke zu entlasten, werden häufig folgende Hilfsmittel eingesetzt:
  • Anatomische Griffadaptionen an Fahrrad- oder Rollerlenker,
  • Stiftverdickungen,
  • dicke Bunt- und Bleistifte,
  • ergonomische Kugelschreiber bzw. Füller,
  • Federbügelscheren,
  • ergonomische PC-Tastaturen und PC-Maus.
Zu Beginn der Erkrankung dienen die Hilfsmittel überwiegend dazu, prophylaktisch eingesetzt zu werden, d. h. dass möglichen Fehlstellungen vorbeugend durch den Einsatz von Hilfsmitteln entgegengewirkt wird (z. B. werden durch den Einsatz von dickeren Stiften die Fingergrundgelenke nicht so sehr belastet, als wenn dünne Stifte benützt würden).
Je nach Schweregrad der Erkrankung gibt es zahlreiche andere Hilfsmittel, die den Kindern helfen sollen, verloren gegangene Funktionen wieder möglich zu machen bzw. um prophylaktisch der Entwicklung von Fehlstellungen entgegenzuwirken.
Bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf und ausgeprägten Fehlstellungen dienen Hilfsmittel dazu, eine verloren gegangene Funktion wieder zu ermöglichen, sodass der Patient so gut wie möglich eigenständig und unabhängig im Alltag zurechtkommt.

Elternanleitung

Verlauf und Prognose der Erkrankung werden maßgeblich vom Verständnis und der Mitarbeit der Eltern beeinflusst. Es ist also von großer Bedeutung, die Eltern als Mittherapeuten zu gewinnen und zu schulen, damit die Krankheitsbewältigung für Kind und Eltern erleichtert wird.
Die Eltern sollten in die Behandlung mit einbezogen werden. Sie müssen über Funktion und Bewegungseinschränkungen der betroffenen Gelenke informiert werden. Des Weiteren müssen sie lernen, Fehlstellungen der erkrankten Gelenke und pathologische Bewegungsmuster zu erkennen, um adäquat darauf reagieren zu können. Die Eltern sollten in der Therapie angeleitet werden, sie sollen die Möglichkeit haben, das Erlernte zu üben, das richtige Anlegen von Orthesen zu überprüfen, die physikalischen Maßnahmen durchzuführen und den Gelenkschutz anzuwenden. Nur so ist gewährleistet, dass sie zuhause die wichtigsten therapeutischen Maßnahmen übernehmen und die ambulante Ergotherapie sinnvoll ergänzen können.

Physikalische Maßnahmen

Durch physikalische Maßnahmen können einzelne Gelenke und umliegende Strukturen mit Temperaturreizen behandelt werden.
Häufig werden hier Handbäder beispielsweise mit Rapssamen, Traubenkernen, Erbsen, Linsen, Sand etc. angewendet. Diese Materialien können Wärme auch Kälte speichern und so bei verschiedenen Beschwerden eine Linderung erzielen. Im Rahmen von entzündlich rheumatischen Erkrankungen sollte jedoch die Anwendung mit Kälte im Vordergrund stehen. Um die Therapieform für Kinder interessanter zu gestalten, können kleine Gegenstände in den Handbädern versteckt werden.
Die Kryotherapie (Kältetherapie) soll Schmerzen lindern, Schwellungen und Entzündungen reduzieren, die Mobilität der Hand- und Fingergelenke verbessern und die Durchblutung anregen. Die Temperatur sollte hierbei niemals unter Kühlschranktemperatur liegen.
Die Wärmetherapie soll detonisierend, durchblutungsfördernd, schmerzlindernd und somit bewegungsverbessernd wirken und niemals über maximal 50 °C betragen.
Eine Alternative zur oben genannten Wärmetherapie bietet das Paraffinbad für die Hände. Hierbei handelt es sich um flüssiges erwärmtes Paraffin, in das die Hände (und Unterarme) getaucht werden und anschließend in einem wärmenden Handschuh abkühlen.
Fernen können ein Kryostick oder ein Eislolli verwendet werden. Diese Variante ermöglicht ein noch gezielteres Kühlen beispielsweise einzelner Gelenke oder Sehnen an den Fingern. Diese sollen einige Minuten lang mit den kühlenden Gegenständen bestrichen werden. Eine Alternative sind Eiswürfel. Wichtig ist es, dass der kühlende Gegenstand stets in Bewegung gehalten wird und nicht über eine längere Zeit punktuell ruht.

Handwerk

Handwerkliches und kreatives Arbeiten kommt in der motorisch-funktionellen Ergotherapie immer weniger zum Einsatz und wird vermehrt in anderen Fachbereichen angewandt. Dennoch bringt es insbesondere in der Arbeit mit Kindern vielerlei positive Verstärker mit sich. Neben psychischen Faktoren wie der Förderung des Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls, eigenständigen Handelns, einer Verbesserung der Konzentration und Ausdauer und zum Ausdruckbringen von Gefühlen werden aber auch einige physische Aspekte angesprochen. Es kommt zu einer Förderung der Feinmotorik, Kraftdosierung und Koordination sowie zu einem Muskelaufbau und einer Verbesserung der Stabilität.
Der Einsatz von handwerklichen Techniken ist insbesondere bei Schmerzerkrankungen von großer Bedeutung. Bei Kindern mit akut rheumatischen Erkrankungen sollte gelenkschonend gearbeitet werden und somit stärkere Kräfte sowie Stoß- und Schlagbewegungen vermieden werden.
Außerdem bietet diese Therapieform eine gute Möglichkeit den Umgang und die Akzeptanz von Hilfsmitteln und Orthesen zu schulen und zu verbessern.

Ergonomie

Ergonomie bedeutet eine Anpassung der Arbeitsbedingungen an den Menschen und nicht umgekehrt. Das betrifft nicht nur erwachsene berufstätige Menschen, sondern auch Kinder, die oft nicht nur zu viel sitzen, sondern auch falsch sitzen. Die einheitlichen Tische und Stühle in den meisten Schulen sowie der falsch gewählte Ort für Hausaufgaben (Küche, Wohnzimmer, Bett) verhindern individuell angepasstes und dynamisches Sitzen (Abb. 18). Ausgehend von einem korrekt eingestellten Schreibtisch sowie Schreibtischstuhl ist es wichtig, Sitzpositionen immer wieder zu verändern, um eintöniges Sitzen und somit einseitige Belastungen zu reduzieren. Darüber hinaus sollte stets auf die Länge der Arbeitsphasen am Schreibtisch geachtet werden. Regelmäßige Pausen und die Möglichkeit für Abwechslung und Bewegung fördern den Arbeitsprozess. Ergonomie beugt Fehlbelastungen vor, verbessert die Konzentration und Leistungsfähigkeit, vermindert Schmerzen und Verspannungen und verkürzt die Erholungsphase nach der Schule oder Arbeit.
Nicht selten entwickeln Kinder durch eine falsche Haltung eine verkehrte Stifthaltung, was zu Schmerzen und Problemen beim Schreiben führen kann.
Es gibt eine Reihe von Hilfsmitteln, die die Schreibtischarbeit erleichtern können. Diese sind allerdings nicht als adäquate Alternative zu einem ergonomischen Schreibtisch sowie Schreibtischstuhl zu sehen, sondern dienen lediglich einer Unterstützung dessen.
Im Rahmen der Ergotherapie können Probleme genau evaluiert und verbessert werden.

Graphomotorik

Unter Graphomotorik versteht man das Ausführen von Schreibbewegungen. Es handelt sich um einen sensomotorischen Prozess, bei dem mithilfe verschiedener Schreibutensilien Zeichen und Formen auf eine Unterlage gebracht werden. Bereits im Kleinkindalter werden erste graphomotorische Prozesse in Gang gesetzt. Motorik und Wahrnehmung müssen optimal aufeinander abgestimmt sein.
Obwohl die Arbeit mit dem Stift zu den täglichen Aufgaben eines Schülers gehört, können hier zunehmend Schwierigkeiten auftreten. Viele Kinder berichten von Schmerzen und Verspannungen bei längerem Schreiben. Die Ursachen können vielfältig sein. Nicht immer versteckt sich hinter der Problematik eine verkehrte Stifthaltung. Diese kann zudem unterschiedlich und dennoch korrekt sein. Häufig liegt jedoch eine falsche Körperhaltung oder Sitzposition, ein zu hoher oder zu niedriger Muskeltonus oder eine Instabilität in den beteiligten Gelenken zugrunde. Darum ist eine genaue Befundung wichtig. Anschließend können den Defiziten entsprechend Tipps und Übungen gezeigt werden, um eine Verbesserung zu erzielen.
Außerdem können spezielle Stifte oder sogenannte Stiftverdickungen eine Hilfe sein. Die Fingergrundgelenke, welche beim Schreiben besonders belastet werden, können hierdurch entlastet werden. Wenn Kinder im Rahmen einer rheumatischen Erkrankung mit Orthesen an den Händen versorgt wurden, kann auch hier ergotherapeutische Unterstützung notwendig sein, um einen angemessenen Einsatz im Alltag zu ermöglichen.
Weiterführende Literatur
Becker H, Steding-Albrecht U (Hrsg) (2006) Ergotherapie im Arbeitsfeld Pädiatrie. Thieme, Stuttgart
Bundesverband Kinderrheuma e. V. (Hrsg) Schmerz lass nach – Du bist umzingelt!. Selbst; Sendenhorst
Altenbockum C, Hibler M, Spamer M, Truckenbrodt H (1998) Juvenile Chronische Arthritis, 2. Aufl. Hans Marseille, München
Horneff G, Minden K (Hrsg) (2020) Praktische Kinder- und Jugendrheumatologie. de Gruyter, Berlin
Spamer M, Häfner R, Truckenbrodt H (2001) Physiotherapie in der Kinderrheumatologie. Pflaum, München
St. Josef-Stift Sendenhorst (Hrsg) (2008) Gelenkschutz für Kinder. Hauseigene Broschüre aus dem St. Josef-Stift in Sendenhorst
Wagner N, Dannecker G (Hrsg) (2007) Pädiatrische Rheumatologie. Springer, Heidelberg
Waldner-Nilsson B (Hrsg) (2009) Handrehabilitation, Bd 1, 2. Aufl. Springer, Heidelberg