Erschienen in:
01.04.2012 | Übersichten
Biomechanik und Dysfunktion
Wie mechanisch dürfen wir noch denken?
verfasst von:
Dr. U.W. Böhni, W. von Heymann, H. Locher, M. Habring
Erschienen in:
Manuelle Medizin
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Ausgabe 2/2012
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Zusammenfassung
Viele Gelenk- und Segmentbewegungen lassen sich mittels der angulären Bewegungsachsen allein ungenügend erklären, da gleichzeitig Translationen stattfinden: Die helikoidale Achse beschreibt solche Bewegungen mit gekoppelten bzw. assoziierten Bewegungen, die um diese schräg im Raum stehende Achse und als Translationen entlang dieser Achse erfolgen. Typische Beispiele sind das untere Sprunggelenk (subtalares Gelenk) und das Sakroiliakalgelenk. Das hat Konsequenzen für die Handanlage bei der praktischen manuellen Diagnostik und Therapie. Solche assoziierten Rotations- und Translationsbewegungen sind inter- und intraindividuell variabel: Es gibt keine fixen Assoziationen an der Lendenwirbelsäule, wie häufig behauptet – sie sind nicht vorhersehbar. Das Gleiche gilt für das Sakroiliakalgelenk: Die bei Kapandji und bei Mitchell dargestellten Achsen und fixen Koppelungen erweisen sich als nicht haltbar; dementsprechend entfallen auch exakt definierbare Arten von Dysfunktionen oder Syndromen am Beckenring. Gleiten ist eine arthrokinematische Begleitbewegung ohne Weggewinn (wie das „Durchdrehen“ eines Rads). Translation erfolgt entlang einer Achse (wie ein „blockiertes Rad“ beim Bremsen); biomechanisch treten solche Bewegungen aber in der Regel im Rahmen von degenerativ veränderten Segmenten mit veränderten arthrokinematischen Bewegungsmustern auf. Eine Olisthesis am Wirbelsäulensegment bedeutet deswegen keineswegs immer das Vorliegen einer Instabilität. Aber auch leichte degenerative Veränderungen am Segment führen durch pathologische Kinematik zu pathologischen Kompressionen (Koaptation) und/oder Separationen (Dekoaptation) an den Wirbelsäulensegmenten mit konsekutiv verstärkter Nozizeption durch Druck oder Zug an segmentalen Strukturen. Solche Nozizeption kann Ursache für die Entstehung und den Erhalt von Dysfunktionen sein. Die Veränderung der Arthrokinematik bei degenerativen Prozessen ist eine wichtige Ursache für Dysfunktion und kann nur durch Verbesserung und Optimierung der muskulären segmentalen Stabilisierungsfähigkeit kompensiert werden.
In diesem Beitrag werden die verschiedenen Komponenten der veränderten Kinematik der Degeneration dargestellt und in Relation zur sog. degenerativen Kaskade gesetzt. Die qualitativ pathologische und quantitativ vermehrte Beweglichkeit bei Segmentdegeneration stellt einen erhöhten Stress für die stabilisierenden Muskeln dar und ist auch aus diesem Blickwinkel ein wichtiger Faktor für die Entstehung von Dysfunktionen (biomechanischer Aspekt der Dysfunktion).