Erschienen in:
01.09.2016 | Epilepsie | Leitthema
Nervenheilkunde und Epileptologie im Nationalsozialismus
verfasst von:
Prof. Dr. D. Rating
Erschienen in:
Clinical Epileptology
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Ausgabe 4/2016
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Zusammenfassung
Menschen mit „erblicher Fallsucht“, mit einer psychiatrischen Erkrankung, körperlichen und/oder geistigen Behinderung sowie angeborenen Fehlbildungen und Erkrankungen fielen unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN). Sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Überlegungen folgend sollten Erbkrankheiten sich nicht ausbreiten dürfen, da sonst ein Volk degenerieren würde. Ab Januar 1934 mussten diese Patienten angezeigt, einem gutachterlichen Verfahren unterzogen und gegebenenfalls zwangssterilisiert werden. Die Diagnose einer erblichen/genuinen Epilepsie hatte mit der Einführung des GzVeN erhebliche Bedeutung: Nur der Nachweis einer symptomatischen Epilepsie verhinderte die Zwangssterilisation. Die Epilepsieklassifikation bekam auf einmal einen ungeheuren Stellenwert. Während bis zum 31.12.1933 ein Patient lediglich mit seinen Anfällen und sekundären Folgen zu kämpfen hatte, entschied nun die Zuordnung zur Gruppe der „erblichen Fallsucht“, ob er sterilisiert oder ab 1939 sogar ermordet wurde. Innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 wurden ca. 360.000 Menschen gemäß GzVeN sterilisiert. Legt man die Häufigkeit der „erblichen Fallsucht“ in den Anträgen zur Sterilisation zugrunde, wurden ca. 40.000 bis 60.000 Menschen mit Epilepsie zwangssterilisiert. Während das GzVeN noch ein gesetzgeberisches Verfahren durchlaufen hatte, gab es für die ab 1939 praktizierten „Krankenmorde“ keine gesetzlichen Grundlagen. Man geht von bis zu 300.000 „Euthanasie“-Opfern aus, davon - bezogen auf eine untersuchte Stichprobe der „Aktion T4“, – 16.230 bis 22.500 Menschen mit Epilepsie. Die Ärzteschaft stimmte der Zwangssterilisation überwiegend zu; die „Krankenmorde“ stießen bei manchen Ärzten dann doch auf Widerstand. Während die Zwangssterilisation einer rassenhygienisch und eugenisch begründeten Degenerationslehre folgte, waren für die Euthanasieaktionen utilitaristische und rein ökonomische Überlegungen ausschlaggebend: Man musste Ressourcen sparen, brauchte Lazarettbetten. Besonders beschämend ist, dass zahlreiche Vertreter der Ärzteschaft, der Psychiatrie, Neurologie, Pädiatrie, Neuropathologie und Physiologie sich dem Nationalsozialismus nicht verweigerten, sondern das menschenverachtende Vorgehen unterstützten, für sich sogar nutzten. Ein tiefschwarzes Kapitel der deutschen Pädiatrie und Neuropathologie: Kinder wurden gezielt getötet, um „Menschenmaterial“ für wissenschaftliche Fragestellungen zu haben. Das Wissen um diese Vergangenheit muss wachgehalten und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, damit solches sich nicht wiederholen kann.