Einleitung
Gesundheitliche Ungleichheiten sind Unterschiede in der Gesundheit zwischen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, die auf den ungleichen Zugang zu knappen gesellschaftlichen Ressourcen wie Geld, politischer Macht, Wissen oder vorteilhaften sozialen Beziehungen zurückzuführen sind und als ungerecht beurteilt werden [
1‐
3]. Neben den klassischen Faktoren der vertikalen sozialen Schichtung (Einkommen, Bildung, Beruf) sind hier auch sogenannte horizontale Ungleichheitsfaktoren wie Geschlecht, Migrationsstatus und Alter zu berücksichtigen [
4,
5]. Die Gesundheitsforschung hat seit einigen Jahrzehnten den Einfluss dieser sozialen Determinanten auf verschiedene gesundheitsbezogene Verhaltensweisen und Gesundheitsoutcomes untersucht [
5]. Darüber hinaus hat das Ziel, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern, Eingang in viele nationale und internationale Politikprogramme, wie z. B. die Ziele für nachhaltige Entwicklung, gefunden [
6]. In der Forschung zur gesundheitlichen Ungleichheit hat die Frage, welchen Beitrag Public-Health-Interventionen zur Verstärkung oder Verringerung von gesundheitlichen Ungleichheiten leisten können, in den vergangenen Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen [
7]. Mit der raschen Zunahme digitaler Public-Health-Maßnahmen rückt auch die Frage nach deren potenziellen Ungleichheitseffekten in den Vordergrund.
Digitale Public-Health-Maßnahmen beziehen sich auf die Integration verschiedener Arten digitaler Technologien zur Verbesserung der zentralen Public-Health-Aufgaben, wie Gesundheitsförderung, Surveillance, bevölkerungsweite Präventionskampagnen und epidemiologische Forschung [
8]. Zu den häufig verwendeten digitalen Technologien im Gesundheitsbereich gehören Websites (E-Health-Interventionen), Textnachrichten, E‑Mail-Feedback, Erinnerungsnachrichten oder mobile Anwendungen (M-Health-Interventionen). Weitere Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien können Sensoren oder andere virtuelle Hilfstechnologien zur Förderung von körperlicher Aktivität und zur Verringerung des Sturzrisikos bei älteren Erwachsenen sein [
9].
Digitale Public-Health-Maßnahmen verfügen aufgrund ihrer möglichen Zugänglichkeit und Reichweite, Personalisierungsfunktionalitäten, der Möglichkeit, jederzeit und in jeder Umgebung mit Nutzer*innen in Kontakt zu treten, und ihrer geringen ökonomischen Grenzkosten über erhebliche Potenziale [
10]. Auf der anderen Seite durchdringt die Digitalisierung alle Ebenen der Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit, wie Jahnel et al. in Anlehnung an das sozialökologische Modell von Dahlgren und Whitehead darlegen [
11]. Dies unterstreicht, dass trotz der potenziellen Vorteile der Digitalisierung die Gefahr besteht, dass gesundheitliche Ungleichheiten aufrechterhalten oder sogar verschärft werden.
Seit geraumer Zeit wird unter dem Stichwort „Digital Divide“ (digitale Spaltung) die soziale Ungleichheit im Zugang zu digitalen Angeboten und bei deren Nutzung diskutiert [
12,
13]. Basierend auf der aktuellen Forschungsliteratur lassen sich digitale Spaltungen in 4, teils aufeinander aufbauenden Bereichen finden: Zugang, Nutzung, Wirksamkeit und Schutz der digitalen Privatsphäre [
14‐
17]. Ein großes Problem in der Erforschung und Bewertung des Ausmaßes der digitalen Spaltungen liegt darin, dass Personengruppen, die über einen erschwerten Zugang zu digitalen Anwendungen verfügen oder diesen gegenüber eine geringe Affinität besitzen, nur selten in nennenswertem Umfang in Studien zu digitalen Public-Health-Maßnahmen einbezogen werden. Eine besondere Personengruppe stellen dabei Menschen mit einer geringen Literalität, d. h. mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen, dar. Nach Schätzungen der LEO-Studie (Leben mit geringer Literalität) aus dem Jahr 2018 trifft dies auf ca. 12 % der Erwachsenen in Deutschland zu [
18]. Eine geringe Literalität geht häufig mit anderen Benachteiligungsfaktoren wie niedrigen oder gar keinen formalen Bildungsabschlüssen und einem geringen Einkommen einher. Auch Menschen mit einer Migrationsgeschichte weisen nach Ergebnissen der LEO-Studie überproportional häufig eine geringe Literalität auf [
18].
Ziel dieses narrativen Übersichtsbeitrages ist es, das Ausmaß und die zentralen Aspekte der digitalen Spaltungen zu diskutieren. Zur Illustration des Ausmaßes der digitalen Spaltungen wird auf Daten der Liter@te-Studie zurückgegriffen, in der Personen mit einer geringen Literalität befragt wurden (siehe Infobox
1). Die Ergebnisse der Liter@te-Studie werden mit parallel durchgeführten Bevölkerungsumfragen verglichen ([
19,
20]; siehe Infobox
2).
Möglichkeiten zum Abbau von digitalen Spaltungen
Auf Grundlage der einbezogenen Forschungsliteratur und der Ergebnisse der Liter@te-Studie lässt sich feststellen, dass Ungleichheiten im Zugang zu digitalen Gesundheitsangeboten und in deren Nutzung bestehen. Weniger deutlich ist die Befundlage in Bezug auf die differenzielle Wirksamkeit sowie das Ausmaß und die Folgen von Ungleichheiten in der Wahrung der Privatsphäre. Als Ungleichheitsfaktoren spielen Einkommen und Bildung eine wichtige Rolle, weil Möglichkeiten, sich kompatible und datensichere Endgeräte, Internetzugänge und Applikationen leisten zu können, und digitale Kompetenzen eng verknüpft sind. Daneben ist das Alter nach wie vor ein wichtiger Ungleichheitsfaktor, auch wenn zeitliche Trends auf eine vermehrte Nutzung von digitalen Angeboten bei älteren Menschen hindeuten [
25]. In Bezug auf Herkunft und Sprachfähigkeiten zeigt die Liter@te-Studie sehr deutlich, dass Personen mit einer geringen Literalität digitale Gesundheitsangebote weniger nutzen und sehr häufig eine geringere digitale Gesundheitskompetenz berichten. Hier zeigt sich ein großer Handlungsbedarf, zumal Schätzungen zufolge jede achte Person in Deutschland eine geringe Literalität aufweist [
18]. Im Folgenden werden Möglichkeiten diskutiert, wie digitale Spaltungen in den einzelnen Bereichen abgebaut werden können.
Bei Personen mit einer geringen Literalität gehört die Bevorzugung von persönlichen Angeboten zu den wichtigsten Gründen für die Nicht-Nutzung von digitalen Gesundheitsangeboten. Hybride Ansätze, also die Kombination von digitalen und nicht digitalen Elementen, haben das Potenzial, Ungleichheit im Zugang zu reduzieren. Clare [
40] hebt in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit hervor, bei der Entwicklung und Kombination von digitalen und physischen Interventionselementen die Erfahrungen und Nutzungsgewohnheiten der Adressatengruppen einzubeziehen. Die Liter@te-Studie macht deutlich, dass Personen mit geringer Literalität überwiegend Smartphones oder Tablets und kaum Laptops oder PCs nutzen. Auf der anderen Seite bevorzugen ältere Menschen häufig Laptop und PC [
25]. Dies zeigt, dass digitale Gesundheitsangebote für verschiedene Endgeräte verfügbar gemacht werden müssen, um den unterschiedlichen Präferenzen der Adressatengruppen gerecht zu werden. Neben der Optimierung von Inhalten für Smartphones heben Reiners et al. [
32] hervor, dass die Inhalte auch im Offline-Modus nutzbar gemacht werden sollten, um Begrenzungen beim Volumen mobiler Daten zu umgehen. Funktionalitäten, wie die einfache Änderung der Schriftgröße sowie Vorlese- und Diktierfunktionen, könnten für Personen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen zu einem Abbau von Zugangsbarrieren beitragen.
Neben der möglichst einfachen und übersichtlichen Gestaltung von digitalen Gesundheitsangeboten ist die gezielte Schulung von individuellen digitalen Gesundheitskompetenzen eine Möglichkeit, um Ungleichheiten in der Nutzung zu verringern. Jenkins et al. [
41] betonen, dass man in der Entwicklung von digitalen Gesundheitsangeboten sowohl auf der Adressatenebene als auch hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen einen Fokus auf geringe digitale Gesundheitskompetenzen legen sollte. Das bedeutet nicht, dass nur simple digitale Lösungen und einfache Sprache zum Einsatz kommen dürfen. Vielmehr geht es darum, die spezifischen Bedarfe und Nutzungsmuster von Bevölkerungsgruppen mit einer geringen digitalen Gesundheitskompetenz zu kennen und zu berücksichtigen und gegebenenfalls durch (persönliche) Schulungen dafür zu sorgen, dass diese Bevölkerungsgruppe in die Lage versetzt wird, das digitale Gesundheitsangebot gewinnbringend für sich zu nutzen [
26]. Als nützlicher Ansatz, um herauszufinden, welche digitalen gesundheitsbezogenen Kompetenzen in den Adressatengruppen vorhanden sind und wie digitale Interventionen an diese Kompetenzen anzupassen sind, kann auf das „eHealth Literacy Framework“ verwiesen werden [
42].
Die bisherige Literatur zu Ungleichheiten in der Wirksamkeit von digitalen Gesundheitsangeboten offenbart einen Mangel an Aufmerksamkeit für dieses Thema. Mögliche Ungleichheitseffekte werden oftmals nicht reflektiert, geschweige denn systematisch untersucht. Dies ist zum Teil verständlich, da es sich bei digitalen Gesundheitsangeboten um ein vergleichsweise neues Feld mit einer hohen Dynamik handelt. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass sich Zugangsbarrieren und mangelnde Vertrautheit mit digitalen Anwendungen in einzelnen Bevölkerungsgruppen in den kommenden Jahren deutlich reduzieren, wie die Zunahme der Nutzung von digitalen Angeboten im Alter zeigt. Trotzdem ist ein Mangel an Nutzer*innen-Zentrierung in der Entwicklung von digitalen Gesundheitsangeboten von verschiedenen Autor*innen kritisiert worden [
26,
43,
44]. Nutzer*innen-Orientierung beinhaltet die systematische Einbeziehung der Adressatengruppen in den Entwicklungsprozess eines digitalen Gesundheitsangebotes. Partizipative Methoden wie Co-Design oder Co-Kreation können hierzu verwendet werden. Zu beachten gilt es allerdings, dass der Erfolg dieser Methoden sehr stark von deren Umsetzungsqualität abhängt [
45]. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass nicht nur digital affine Personen in den Entwicklungsprozess und die Erprobung einbezogen werden, sondern tatsächlich Personen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit einer geringen digitalen Gesundheitskompetenz [
46].
Die Auswirkungen von Ungleichheiten im Bereich Wahrung der Privatsphäre sind noch nicht hinreichend erforscht ebenso wie die Möglichkeiten, diesen zu begegnen. Aus der Liter@te-Studie wurde ersichtlich, dass Personen mit einer geringen Literalität häufiger eine Verunsicherung berichten, welchen digitalen Informationen sie vertrauen können. Ein Mehr an Informationen durch permanente Zustimmungsabfragen zu Cookies oder Datenschutzbedingungen, wie es seit der Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung zu beobachten ist, wird diese Verunsicherung vermutlich eher erhöhen. Nebecker et al. [
47] fordern in diesem Zusammenhang mehr Pilotstudien, um herauszufinden, wie eine angemessene Kommunikation über Datenschutz im Rahmen von digitalen Gesundheitsangeboten gestaltet werden kann, damit sie von Personen mit geringen digitalen Gesundheitskompetenzen verstanden werden kann und bestehende Befürchtungen adressiert.
Fazit
In diesem Betrag wurden Ungleichheiten in den 4 Bereichen der digitalen Spaltungen beschrieben (Zugang, Nutzung, Wirksamkeit und Schutz der Privatsphäre) und anhand von Ergebnissen der Liter@te-Studie illustriert. In den Bereichen Zugang und Nutzung sind deutliche Unterschiede bei verschiedenen Ungleichheitsfaktoren wie Bildung, Einkommen, Alter und Literalität nachweisbar. In den Bereichen Wirksamkeit und Schutz der Privatsphäre gibt es noch erhebliche Forschungslücken. Deshalb ist eine umfassende Bewertung von Ungleichheitseffekten einzelner Formen digitaler Gesundheitsangebote über alle 4 Bereiche hinweg noch nicht möglich. Zukünftige Studien zu digitalen Gesundheitsangeboten sollten möglichst inklusiv angelegt sein, damit auch Bevölkerungsgruppen mit großen Zugangsbarrieren und einer geringen digitalen Gesundheitskompetenz (z. B. Personen mit einer geringen Literalität) angemessen repräsentiert sind. Nutzer*innenzentrierte Ansätze, wie Co-Design und Co-Kreation stellen eine Möglichkeit zur proaktiven Verhinderung von Ungleichheitseffekten dar. Wichtig ist allerdings, dass ein angemessener Einbezug von Personen mit geringen digitalen Gesundheitskompetenzen stattfindet. Weiterhin ist die Entwicklung von verständlichen und vertrauensfördernden Datenschutzerklärungen für digitale Gesundheitsangebote eine Aufgabe für zukünftige Forschung.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für die Durchführung der Liter@te-Studie wurde ein Votum der Ethikkommission eingeholt (Referenznummer 2022-22). Von allen befragten Personen wurde eine schriftliche Einverständniserklärung eingeholt. Für die übrigen aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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