Neben den bisher benannten Theoriebezügen rückt das Üben auch in der Soziologie, der Philosophie und der Psychologie in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus, was im Sinne eines Exkurses zunächst illustriert wird, bevor zwei Kennzeichen der Übung diskutiert werden. Der Kultursoziologe Richard Sennett (
2008) hat dazu eine viel beachtete Studie zum „Handwerk“ und zur Praxis und Didaktik der Übung vorgelegt. Das Buch bietet eine Fülle wichtiger Einsichten zur Didaktik der Übung am Beispiel der Hand und des Handwerks. Im Unterschied dazu nimmt Sloterdijk den Perfektionismus der Übung in den Blick, nämlich nicht nur etwas zu können, sondern etwas immer besser können zu wollen und damit sein Leben ändern und verbessern zu können (Sloterdijk,
2009). Er betrachtet unterschiedliche Bereiche menschlichen, kulturellen Schaffens wie Religion, Wissenschaft, Kunst, Sport und Pädagogik. Seine These lautet, dass sich spätestens mit der „anthropotechnische(n) Wende“ (ebd., S. 139) um 1900 eine Rehabilitierung der alteuropäischen Askese ereignet, die sich in den Akrobaten des Körpers (olympische Bewegung) und des Geistes (Schriftstellerinnen und Schriftsteller) ankündigt. Diese gelangen durch Übung zu zunächst ungeahnten Leistungen, die jeweils von späteren immer wieder übertroffen werden.
Auch in der Psychologie werden Techniken und Wirkungen von Übungen untersucht. Der amerikanische Psychologe Karl Anders Ericsson hat das Konzept der „deliberate practice“ (der zielgerichteten Übung) entwickelt, mit dem außergewöhnliche Leistungen im Schach, in der Musik und im Sport empirisch untersucht und auf gezieltes Üben zurückgeführt werden können (Ericsson, Krampe, & Tesch-Römer,
1993). Die Untersuchungen zeigen, dass im Alter von 20 Jahren die besten Expertinnen und Experten ungefähr 10 Jahre und insgesamt etwa 10.000 h geübt haben, wobei sich die täglich vier Stunden gezielter Übung mit Ruhezeiten abwechselten. Gezielte Übung ist daher weitaus bedeutsamer für überdurchschnittlichen Erfolg und Leistung als natürliche Begabung.
Aber auch in den Erziehungswissenschaften (Duncker,
2008), in der Mathematikdidaktik oder der Musikdidaktik erlebt das „intelligente Üben“ (Gudjons,
2006) eine Renaissance (Brinkmann,
2012). In den Fächern Mathematik, Französisch und Englisch werden die Aufgabenformate der Bildungsstandards als sog. „lernerorientierte(n) Aufgaben“ in „intelligenten“ Übungsformaten in „authentischen“ Situationen operationalisiert (Heymann,
2005; Wynands,
2006).
Wir möchten die bisher diskutierten Aspekte im Folgenden aufgreifen und das produktive und kreative Potenzial der Übung genauer herausstellen. Dazu werden auf der Grundlage der leib- und körperbezogenen Überlegungen zu Gestalt, impliziten Wissen und Körperschema ausgewählte Kennzeichen des Übens unter bildungs- und erfahrungstheoretischer Perspektive näher beleuchtet.
Wiederholung: Kreativität der Übung
Die kreative Wiederholung im Üben möchten wir anhand einer Unterrichtssequenz von Scherer (
2001a) zur Vermittlung des Speerwerfens illustrieren. Anstatt klassischer Übungsfolgen, die sich an einer äußeren Analyse der Zielbewegung orientieren und daraufhin isolierte Übungen für das Tragen des Speers, den Anlauf oder das Werfen aus dem Stand vorschlagen, insistiert Scherer darauf, dass die Gesamtbewegung als Ganzes erhalten bleibt und mit vereinfachten Fluggeräten geübt wird. Dabei wird grundsätzlich aus einem Drei-Schritt-Anlauf geworfen, während die Rahmenbedingungen des Werfens variiert werden. So soll neben Methodikspeeren auch mit Bambusstäben, Gummistäben oder anderen Fluggeräten geworfen werden. Um authentische Wurferfahrungen zu generieren, die es erlauben, die Güte unterschiedlicher Wurfausführungen selbstständig abzugleichen und die zudem einen hohen Motivationsaspekt bieten, wird auch auf unterschiedlich weit entfernte Ziele geworfen.
Aus Sicht der Übungstheorie zeigt dieses Beispiel, dass in und mit der wiederholenden Übung Veränderungen und Variationen systematisch verbunden werden. Übungen sind auf Veränderung angelegt. Aufgrund dessen können Wissen und Haltung ein- und ausgeprägt, die Fertigkeit ausgebildet und die Fähigkeit verbessert werden. Anders als die Sentenz „üben, üben, üben“ suggeriert, ist die sinnvolle Wiederholung keine einfache Repetition desselben und auch keine Prozeduralisierung vormals „gespeicherter“ kognitiver Regeln. Das Wiederholen von Vergangenem bedeutet einerseits eine Wiederkehr von Gewohntem, Gewusstem oder Gekonnten. Zugleich ist dieses nicht mehr dasselbe, als es vormals gewusst, gekonnt oder als das es gewohnt war. In der Wiederholung kehrt keinesfalls dasselbe noch einmal identisch wieder. Vielmehr kehrt in der Übenserfahrung etwas Bekanntes wieder, das erinnert, verändert, variiert oder transferiert werden kann. Deshalb sind Variation und Kreativität möglich. Es handelt sich um eine „Wiederkehr eines Ungleichen als eines Gleichen“ (Waldenfels,
2001, S. 7). Veränderung und Variation in der Wiederholung bezieht sich allerdings nicht nur auf die Ausübung der Fertigkeit. Im Einüben und Ausüben verändert sich auch die oder der Übende selbst, weil darin das Verhältnis zu sich selbst sowie zur Welt formiert und transformiert wird. Es werden Gewohnheiten, Automatismen und Habitualisierungen erzeugt und zugleich können diese in einem Bildungsprozess modifiziert und transformiert werden.
Negativität: Potenziale der Übung
Eine informations- und perfektionszentrierte Sicht auf das Üben impliziert nur eine Facette potenzieller Übungspraxis. Nimmt man statt der Ergebnisse und der Erfolge den Prozess in der Erfahrung des Übens in den Blick, dann ergibt sich ein etwas anderes und deutlich komplexeres Bild: Geübt wird, wenn man die angestrebte Fähigkeit und Fertigkeit eben noch nicht „kann“, wenn man scheitert und es aufs Neue versucht, wenn sich der „Formungswille des Individuums an der Widerständigkeit der Welt bricht“ (Giese,
2008, S. 175). Übung und ihre Wiederholung basieren auf einem Nicht-Können, das er zu überwinden gilt – durch Übung. Deshalb ist Üben eine anstrengende und fordernde Tätigkeit, die Ausdauer, Selbstüberwindung und Fehlertoleranz verlangt. Negative Erfahrungen entstehen aber nicht nur in der leiblich deklinierten Erfahrung des Noch-Nicht-Könnens, sondern auch im Verlernen oder Verüben: Übt man eine Zeit lang nicht, dann kommt es zum teilweisen Verlust oder Vergessen, was wiederum ein erneutes Üben erfordert. Aber die eingeübte Bewegung wird nicht vollständig vergessen. Das zeigt sich, wenn schon gekonnte Bewegungen überformt werden müssen, etwa wenn Skifahrer auf neue Skier umsteigen und „sich das Üben auf die Optimierung und Differenzierung von (…) bereits verfügbaren Bewegungs‑/Handlungsmustern richtet“ (Scherer & Bietz,
2013, S. 151). Genau genommen müssen dann durch besondere Übungsformate schon erworbene, schematisierte und habitualisierte Bewegungsformen umgeübt werden. Insgesamt bleibt zu resümieren, dass negative Erfahrungen als Strukturen für das Üben elementar sind.
In der Erziehungswissenschaft geraten diese negativen Erfahrungen zunehmend in den Fokus der Forschung: Irritationen, Enttäuschungen, Scheitern und Fehler werden als wichtige Momente und nicht als
Betriebsunfälle erfolgreichen Lernens und Übens betrachtet (Benner,
2005). In der Sportssoziologie rückt die Frage nach dem Verhältnis von Lernen und Habitus im Kontext von „Subjektivierungspraktiken“ und „Habitustransformationen“ in den Blick, wenn nach gezielten Irritationen des „natürlichen Weltglaubens“ im Horizont der doxa gefragt wird (Alkemeyer,
2006, S. 126, 136). Negativität ist hier nicht im landläufigen Sinn als etwas Schlechtes, Lästiges oder Gefährliches zu verstehen. Buck zeigt in seiner tiefsinnigen Studie zu „Lernen und Erfahrung“ (Buck,
2019), dass sich aus der negativen Erfahrung vielmehr eine „Rückwendung der Erfahrung auf sich selbst“, also eine „Erfahrung über die Erfahrung“ (ebd., S. 48) entwickeln kann. Buck greift dazu auf Husserls Analyse der Intentionalität zurück. Er zeigt, dass die Horizontstruktur der Erfahrung mit dem Funktionskreis von „Erfüllung“ bzw. „Enttäuschung“ der Antizipation zusammenhängt (ebd., S. 72). Tritt das Antizipierte und Erwartete nicht ein, entsteht eine Irritation oder Enttäuschung, weil das Erfahrene nicht mit dem Vorwissen und Vorkönnen kongruent ist (Giese,
2010, S. 72). Darin werden die Erfahrenden auf sich selbst, genauer auf ihre alten Erfahrungen zurückgeworfen. Sie machen eine Erfahrung über eigene Erfahrungen. Ein „Wandel unseres Erfahrenkönnens“ (Buck,
2019, S. 8) wird möglich.
Anlass dieser (selbst-)reflexiven Wendung sind Erfahrungen der Irritationen, Enttäuschungen, Erfahrungen von Krisen (Giese,
2016, S. 106). Im bildungstheoretischen Diskurs sowie in der Sportpädagogik werden sie unter Bezug auf Buck als
negative Erfahrungen bezeichnet. Aus der negativen Erfahrung in der Praxis kann sodann ein reflexiver Prozess erwachsen. Dieser wird als lernende oder bildende Erfahrung bezeichnet. Negative Erfahrungen gelten daher als – sehr positive – Voraussetzungen von Lernen, Bildung bzw. von Umlernen (Meyer-Drawe,
2008), von einem Blickwechsel (Benner,
2012), einer Transformation (Koller,
2012) bzw. eines Umübens (Brinkmann,
2012). In der bildenden Erfahrung wird die leibliche Formation transformiert – eine Veränderung von Körperschema, Habitus und Bewegungsgewohnheit wird möglich (Rödel,
2018; Brinkmann,
2021). Im Sport stehen, wie oben angedeutet, Bewegungen, ihre Formung, Stilisierung und Ästhetisierung im Mittelpunkt. Das geschieht, in der Bestimmung von Scheid und Prohl (
2012, S. 26), indem ein Hindernis freiwillig in den Weg gestellt wird, „sodass es den Zweck hat, als Mittel der Ermöglichung dieser spezifischen Form des Bewegungsvollzugs zu fungieren“. Negative Erfahrungen sind insofern vor allem für die Sportdidaktik von zentralem Interesse, da Menschen solche Erfahrungen im Sport willkürlich inszenieren, „in Form von Aufgaben, Problemen oder Konflikten, Herausforderungen, die vorwiegend mit körperlichen Mitteln bewältigt werden. Haben Sie sie bewältigt, konstruieren sie neue, noch anspruchsvollere Herausforderungen“ (Laging & Kuhn,
2018, S. 14).
Damit hängt eine große didaktische Herausforderung für Lehrkräfte zusammen. Sie besteht darin, gezielt und vorsichtig Irritationen, Enttäuschungen und Fehler im Unterricht einzusetzen und so die Lernenden mit ihrem Nicht-Wissen und Nicht-Können zu konfrontieren. Wird die negative Erfahrung zu deutlich, ereignet sich in der Wiederholung ein Bruch. Das Weiterüben kann unmöglich werden: Die oder der Übende bricht ab und gibt auf. Das, was es zu üben gilt, muss zumindest potenziell im Erfahrungshorizont der Schülerinnen und Schüler liegen, um Überforderungen zu übermeiden (Giese,
2008, S. 232). Negative Erfahrungen sollten daher „taktvoll“ (Burghardt & Zirfas,
2019) und mit Rücksicht auf die individuellen Situationen inszeniert und damit die produktiven Potenziale der Übung genutzt werden.