Zusammenfassung
Philosophie und Psychologie des 20 Jahrhunderts haben das Bild des Menschen gründlich verändert. Dabei lassen sich auf den ersten Blick zwei Zugänge einigermaßen systematisch unterscheiden. Der Blick der modernen Psychologie, voran der Psychoanalyse, hat unter Hinweis auf ein vorgängiges Unbewusstes gezeigt, dass der Mensch nicht Herr oder Frau im eigenen Hause ist. Fremdheit erfährt er nicht etwa nur von einem Außen, sondern vor allem in seiner Begegnung mit sich selbst. Damit verschieben und überlagern sich freilich die Grenzen und Beziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Demgegenüber gibt es in verschiedenen Strömungen der Philosophie, voran der Phänomenologie, die Idee, dass unser Selbst noch in einer ganz anderen Weise fragmentiert und gespalten ist, durch die Anwesenheit einer Instanz, die uns anspricht und anschaut und auf die wir antworten. In der antipsychologischen Philosophie von Emmanuel Levinas hat eine solche Auffassung der menschlichen Grundsituation in der Welt ihren konsequentesten Ausdruck gefunden. Im Unterschied zum Freudschen Unbewussten ist diese alteritäre Instanz personalen Charakters. Sie begründet, in Absetzung von der klassischen abendländischen Tradition, ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis. In ihr wird Ethik zu einer unaufhebbaren Konstellation des Menschen, als eine Herausforderung für diesen. Das Kapitel thematisiert die Frage, inwiefern sich diese beiden Ansätze verbinden lassen: die lebensphilosophisch und ethisch paradoxe Aufforderung (etwa bei Julia Kristeva), sich mit dem «eigenen» und zugleich fremden Unbewussten auseinanderzusetzen und es symbolisch zu bearbeiten, und die radikale ethische Ontologie, die darauf hinausläuft, die eigene Heteronomie in einem Akt produktiver Resignation zu akzeptieren und zu gestalten.