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Erschienen in: German Journal of Exercise and Sport Research 4/2019

04.09.2019 | Hauptbeitrag

Am Fall eSport: Wie den Sport bestimmen?

Von Merkmalen und Grundideen

verfasst von: Volker Schürmann

Erschienen in: German Journal of Exercise and Sport Research | Ausgabe 4/2019

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Zusammenfassung

Der Beitrag nimmt die Debatte um den eSport zum Anlass und zur Materialbasis, um daran die allgemeinere Frage zu diskutieren, wie man zu einem Grundverständnis von Sport kommt und wie man ggf. verschiedene Grundverständnisse miteinander in die Diskussion bringt. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Debatte macht er den Vorschlag, scharf zwischen der Bestimmung von Merkmalen des Sports und dem Appell an ein Vorverständnis von Sport zu unterscheiden. Die Debatte wird dann dadurch methodisch kontrollierbar, dass man an hier so genannte Grundideen menschlicher Tätigkeiten appellieren und diese miteinander vergleichen kann. Notwendig sind dafür minimale Angaben zum Konzept kultureller Praktiken.
Fußnoten
1
Welche das ist, ist hier für das Argument völlig belanglos. Gleichwohl sei sie in Erinnerung gerufen: „Sport besteht in der Schaffung von willkürlichen Hindernissen, Problemen oder Konflikten, die vorwiegend mit körperlichen Mitteln gelöst werden, wobei die Beteiligten sich darüber verständigen, welche Lösungswege erlaubt oder nicht erlaubt sein sollen. Die Handlungen führen in ihrem Ergebnis nicht unmittelbar zu materiellen Veränderungen.“ (Volkamer, 1984, S. 196)
 
2
Um nur ein besonders einschlägiges, aber vollständig unprominentes Beispiel zu nennen: Die „neue Ontologie“ von Nicolai Hartmann versucht aufzuzeigen, dass Erkenntnistheorie und Sprachanalyse ohne Ontologie nicht auskommt, was aber nicht heißen könne und dürfe, die alte Ontologie einfach wiederzubeleben. Hartmanns Werk ist auch in der akademischen Philosophie völlig vergessen und wird erst in jüngster Zeit in zarten Anläufen wiederentdeckt.
 
3
Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: Bloch unterscheidet in Kap. 18 seines Prinzip Hoffnung zwischen ontischem Objekt, ontologischem Gegenstand und erkenntnistheoretischem Sachverhalt; Plessner verortet seine Position in Macht und menschliche Natur [1931] offensiv zwischen empiristischen und aprioristischen Positionen und führt dazu ein „Prinzip der Ansprechbarkeit“ (dort: des Menschen als Menschen) ein, das weder eine ontisch fundierte „Wesensangabe“ ist noch sich darin erschöpft, empirisch aufzulesen, was man dem Menschsein an Bedeutungen zuschreiben mag.
 
4
Letzteres bekommt Seven (2018) zu spüren, der eine „konkrete semantische Füllung“ des Gegenstandes Sport einklagt (ebd., S. 582), dafür aber auch den Namen „Definition“ verwendet, freilich nicht ohne den Bezug zu seinem Argument herzustellen: „eine solche [!] Definition“. Es ist dort also zunächst ganz offen, ob eine solche semantische Füllung durch die Angabe einer Definition durch Merkmale eingeklagt wird oder wie sonst. Willimczik aber zuckt auf den Namen „Definition“ und lässt den Beitrag von Seven deshalb ins Leere laufen (Willimczik, 2019, S. 86).
 
5
Dieses Beispiel ist nicht abstrus, sondern eine Variation eines Frege-Beispiels, der ernsthaft der Meinung war, dass die Abgrenzung der Zahlen von allem Möglichen etwas über die von ihm so genannte Natur der Zahlen aussagt. Dies hat dann zur Folge, dass ein Satz wie „5 ≠ Cäsar“ für Frege nicht kategorial falsch gebildet und also sinnlos ist, sondern ein mathematisch wahrer Satz ist (Schürmann, 2018, S. 28).
 
6
Willimczik will diesen Unterschied und die Ebene, auf der er zu lokalisieren ist, wiederholt (Willimczik, 2011, S. 28–30) und bis heute nicht wahrhaben. Auch Haverkamp gehe es, wie Schürmann auch, darum, Vorverständnisse zu klären, so Willimczik (2019, S. 84). Das unterschlägt jenen Unterschied ums Ganze, und insofern redet Willimczik smart am Prototypen-Vorschlag vorbei, was jetzt auch daran sichtbar ist, dass er das Kapitel zur Rolle von generischem Wissen schlicht unterschlägt, welches die nähere Begründung dafür liefert, von Vorverständnissen auszugehen (Schürmann, 2018, Kap. 2 und 11).
 
7
Der wohl anschaulichste Fall dieses Problems resp. dieser Entgegensetzung von positivistisch verstandenen Merkmalen und Merkmalen eines Gegenstandes sind die sog. Sorites oder Haufen-Paradoxien (Schürmann, 2018, S. 26–28). Alle folgen dem Schema: Wenn jemand wenig Haare hat, hat so jemand noch keine Glatze. Wieviel einzelne Haare muss so jemand noch verlieren, um eine Glatze zu haben? – Wer sich in dieser Situation weigert zu akzeptieren, dass wir schon in etwa und hinreichend genau wissen, was eine Glatze ist, wenn und falls wir uns über die Anzahl von Haaren unterhalten, der wird in solchen Paradoxien stecken bleiben. Die treffende Charakterisierung „Eine Glatze hat man, wenn man keine Haare mehr auf dem Kopf hat“ ist ganz offenkundig nicht identisch mit der Behauptung, dass ein Glatzkopf null Haare auf dem Kopf hat. Wer noch ein paar, aber natürlich nicht zu viele Haare auf dem Kopf hat, den werden wir trotzdem einen Glatzkopf nennen. Und wer behauptet, keine Haare zu haben, sei identisch damit, null (oder höchstens sieben) Haare zu haben, der hat schlicht nicht verstanden, was wir bei uns im Normalfall unter einer Glatze verstehen. Selbstverständlich kann sich solches Normalfallwissen ändern. Wenn es sehr viele Leute gibt, die sich eine Glatze rasieren lassen, dann werden die vielleicht inszenieren, dass echte Glatzköpfe nur dort vorliegen, wo jemand gar keine Haare mehr hat – und das mag dann dazu beitragen, dass in diesem Sinne echte Glatzen dereinst das Normalfallwissen von „Glatzkopf“ stiften.
 
8
Eine reflektierte Transzendentalphilosophie ist, so bereits bei Hegel, eine durch die pyrrhonische Skepsis hindurchgegangene kritische Philosophie. Die Gleichwertigkeit von argumentativen Situationen („Isosthenie“ bei Sextus Empiricus, „Unentscheidbarkeit“ bei Plessner) ist daher eine Bestimmung, die positiv etwas über eine Sachlage aussagt und keineswegs ein Mangel, den es zu überwinden gilt, und erst recht keine flapsige Redensart. Als Aperçu begegnet es bei H.v. Foerster – „Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“ Angesichts von Unentscheidbarkeit gleichwohl zu entscheiden, ist dann der Sache nach eine Art von Wette, analog zu dem berühmten Vorbild von Pascals Wette. Seriöserweise hat die eigene Darstellung diesem Umstand Rechnung zu tragen und Ausdruck zu geben. Dies zu tun und/oder einzufordern, hat seinerseits historische Vorbilder, zuletzt Martin Seel (2018).
 
10
In überaus kompakter und lakonischer Form hat Cassirer dieses antiinduktive Prinzip des Erkennens zu Protokoll gegeben, was immer noch und immer wieder ein Erinnern wert ist: „Was der Theorie der Abstraktion Halt verleiht, ist somit lediglich der Umstand, daß sie die Inhalte, aus welchen der Begriff sich entwickeln soll, selbst nicht als unverbundene Besonderheiten voraussetzt, sondern sie bereits stillschweigend in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt. Der ‚Begriff‘ aber ist damit nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen: denn indem wir einer Mannigfaltigkeit eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen, haben wir ihn, wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden Funktion bereits vorausgesetzt.“ (Cassirer, [1910]/1990, S. 22).
 
11
Hier liegt der Unterschied zu Borggrefe. Ich nehme ihr Beispiel als genauso schlagendes Beispiel wie sie auch, aber ich deute anders, dass und warum es schlagend ist. Bei Borggrefe ist es ein bestätigender Fall für die Angemessenheit der von ihr zugrunde gelegten Definition von Sport; bei mir ist es ein Appell an eine von uns allen praktizierte kulturelle Unterscheidung, um die wir klarerweise wissen, auch und gerade dann, wenn wir keine explizite Auskunft geben können, worin dieser Unterschied bestehen mag, und die dem Definitionsversuch bereits zugrunde liegt. All diejenigen, die nun gegen Borggrefe einwenden, dass es doch auch Fälle gibt, in denen ein Gamer oder eine Pianistin seine oder ihre körperliche Leistungsfähigkeit kommuniziert, lenken davon ab, dass das Beispiel schlagend ist und bleibt. Selbst dann, wenn ein Pianist maximal egozentrisch-aufdringlich vorführt oder gar zur Schau stellt, wie flink er seine Finger über die Tasten laufen lassen kann, so ändert das überhaupt nichts daran, dass er eben Musik macht und nicht Sport treibt – wie wir alle wissen.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Am Fall eSport: Wie den Sport bestimmen?
Von Merkmalen und Grundideen
verfasst von
Volker Schürmann
Publikationsdatum
04.09.2019
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
German Journal of Exercise and Sport Research / Ausgabe 4/2019
Print ISSN: 2509-3142
Elektronische ISSN: 2509-3150
DOI
https://doi.org/10.1007/s12662-019-00622-0

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