Hintergrund
Indikation | ESO/ESMINT-Guidelines [6] | AHA/ASA-Guidelines [5] | Aktuelle Forschungsergebnisse und Empfehlung der Autoren |
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Zeit von Symptombeginn/zuletzt gesund gesehen zum Behandlungsbeginn | Bei Patienten mit einem Verschluss der vorderen Zirkulation, die sich zwischen 6 und 24 h, nachdem sie zuletzt gesund gesehen wurden, präsentieren, wird eine MT empfohlen, sofern die DAWN- oder DEFUSE-3-Kriterien erfüllt sind | Bei Patienten mit AIS aufgrund eines Verschlusses der vorderen Zirkulation, die sich zwischen 6 und 16 h nach Symptombeginn, nach dem sie zuletzt gesund gesehen wurden, vorstellen und die DAWN- oder DEFUSE-3-Kriterien erfüllen wird eine Thrombektomie empfohlen | Auch in einem Zeitfenster von > 24 h sollte eine Thrombektomie erwogen werden, sofern in der (Perfusions‑)Bildgebung noch eine relevante Penumbra nachgewiesen werden kann |
Grad der Evidenz: moderat ⊕⊕⊕ | Grad der Evidenz: A | ||
Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | ||
Expertenmeinung: Im Zeitfenster von 6–12 h können Patienten, die die ESCAPE-Kriterien (moderate bis gute Kollateralen und ASPECTS ≥ 6) erfüllen durch MT behandelt werden | Bis zu 24 h ist eine mechanische Thrombektomie bei Patienten, die die DAWN Kriterien erfüllen angemessen | ||
Grad der Evidenz: B‑R | |||
Stärke der Empfehlung: moderat ↑ | |||
Leichtere Schlaganfälle (NIHSS < 6) | AIS-Patienten mit milder Symptomatik (NIHSS 0–5) und großem Gefäßverschluss, die sich bis zu 24 h, nach dem sie zuletzt gesund gesehen wurden, vorstellen, sollten in RCTs eingeschlossen werden | Auch wenn der Nutzen unklar ist, kann bei Patienten mit einem proximalen Verschluss der vorderen Zirkulation eine MT auch bei einem NIHSS < 6 in einem Zeitfenster von 6 h durchgeführt werden | Bis zum Vorliegen besserer Evidenz sollte eine MT nur im Einzelfall nach genauer Abwägung der potenziellen Risiken und Chancen erfolgen |
Grad der Evidenz: sehr niedrig ⊕ | Grad der Evidenz B‑R | ||
Stärke der Empfehlung: neutral – | Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | ||
Größe des Infarktes (ASPECTS) | AIS-Patienten mit einem Verschluss der vorderen Zirkulation mit großem Infarktkern (ASPECTS < 6 oder Core-Volumen > 70/100 ml) sollten in RCTs zur Evaluierung des Nutzens der MT gegenüber medizinischem Management eingeschlossen werden | Auch wenn der Nutzen unklar ist, kann bei Patienten mit einem proximalen Verschluss der vorderen Zirkulation eine MT auch bei eine ASPECTS < 6 in einem Zeitfenster von 6 h durchgeführt werden | Basierend auf der bisherigen Evidenz empfehlen wir die Erwägung einer MT bei Patienten mit einem ASPECTS von 4–6 und bei ausgewählten Patienten (frühes Zeitfenster, Alter < 70 Jahre, vorher selbstständig zu Hause lebend) auch mit einem ASPECTS von 0–3 |
Grad der Evidenz: sehr niedrig ⊕ | Grad der Evidenz B‑R | ||
Stärke der Empfehlung: neutral – | Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | ||
MT in Kombination mit i.v. tPA | AIS-Patienten mit einem LVO sollten eine kombinierte Therapie aus MT und i.v. tPA erhalten, sofern keine Kontraindikation besteht. Beide Behandlungen sollten so schnell wie möglich erfolgen und sich nicht gegenseitig verzögern | AIS-Patienten bei denen i.v. tPA infrage kommt, sollten sie erhalten, auch wenn eine MT durchgeführt werden soll | Wir empfehlen weiterhin die Gabe von i.v. tPA, auch wenn eine MT durchgeführt werden soll. Die Gabe sollte die MT auf keinen Fall verzögern Tenecteplase sollte als Alternative zur derzeit genutzten Alteplase erwogen werden, insbesondere bei Patienten mit nachgewiesenem LVO |
Grad der Evidenz: sehr niedrig ⊕ | Grad der Evidenz A | ||
Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | ||
Expertenmeinung: Sofern ein LVO nachgewiesen wird vor i.v. tPA-Gabe, sollte Tenecteplase bevorzugt werden | Es könnte vernünftig sein, bei MT-Patienten Tenecteplase statt Alteplase zu verwenden | ||
Grad der Evidenz B‑R | |||
Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | |||
Distale Verschlüsse | Expertenmeinung: Bei M2-Verschlüssen besteht Konsensus unter den Experten, dass eine MT angemessen ist. Keine Aussage zu anderen distalen Verschlüssen | Bei gut ausgewählten AIS-Patienten auf Basis eines M2- oder M3-Verschlusses könnte eine MT innerhalb der ersten 6 h nach Symptombeginn von Vorteil sein | Wir empfehlen bei Patienten mit distalen Verschlüssen, die sicher per MT erreichbar sind, eine MT durchzuführen, sofern ein klinischer Vorteil zu erwarten ist. Dies gilt unabhängig vom Zeitfenster |
Grad der Evidenz: B‑R | |||
Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | |||
Verschlüsse der hinteren Zirkulation | Expertenmeinung: Bei Verschlüssen der A. basilaris besteht Konsensus unter den Experten, dass eine MT angemessen ist. Keine spezifische Aussage zu den Aa. posterior und vertebralis | Bei gut ausgewählten AIS-Patienten auf Basis eines Verschlusses der A. basilars, A. vertebralis oder A. posterior könnte eine MT innerhalb der ersten 6 h nach Symptombeginn von Vorteil sein | Wir empfehlen bei Verschlüssen der hinteren Zirkulation die Durchführung der MT |
Grad der Evidenz: C-LD | |||
Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | |||
Tandem-Verschlüsse | Der intrakranielle LVO sollte behandelt werden, hinsichtlich der Behandlungsmodalität für die extrakranielle Läsion kann keine Empfehlung gegeben werden. Diese Patienten sollten in RCTs eingeschlossen werden | Die Behandlung des/der extrakraniellen Verschlusses/Stenose während der primären Thrombektomie könnte vernünftig sein | Wir empfehlen die Durchführung der MT auch bei Tandem-Verschlüssen sowie, wenn sicher möglich, das parallele primäre Stenting der extrakraniellen Läsion |
Grad der Evidenz: sehr niedrig ⊕ | Grad der Evidenz B‑R | ||
Stärke der Empfehlung: neutral – | Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | ||
Expertenmeinung: 9/11 Experten sofern kein Einschluss in RCT möglich, sollte bei hochgradiger Stenose am ehesten ein Stenting erwogen werden | |||
Schlaganfall bei Kindern und Jugendlichen (0–17 Jahre) | Keine spezifische Empfehlung | In Abwesenheit besserer Studiendaten bleibt eine Behandlung von Kindern mit LVO durch MT umstritten [84] | Wir empfehlen die Durchführung von MT auch bei Kindern und Jugendlichen, sofern sie die Kriterien der bisherigen RCTs zur MT bei Erwachsenen erfüllen Sofern als Ursache eine Arteriopathie vermutet wird, sollte mit besonderer Vorsicht agiert werden |
Schlaganfall bei sehr alten Patienten (> 90 Jahre) | Ein oberes Alterslimit für die MT ist nicht gerechtfertigt bei AIS-Patienten, die sich innerhalb von 6 h vorstellen | Der Nutzen von MT bei Patienten mit einem Alter von über 90 Jahren ist nicht klar | Wir empfehlen die MT auch bei LVO-Patienten mit einem Alter von über 90 Jahren, sofern sie vorher selbstständig waren |
Grad der Evidenz: moderat ⊕⊕⊕ | |||
Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | |||
ESO/ESMINT schlägt vor auch ältere LVO-Patienten (> 80 Jahre) im Zeitfenster von 6–24 h zu behandeln, sofern sie die DAWN- und DEFUSE-3-Kriterien erfüllen | |||
Grad der Evidenz: niedrig ⊕⊕ | |||
Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | |||
Vorbestehende Defizite (prämorbider mRS > 1) | Keine spezifische Empfehlung | Auch wenn der Nutzen unklar ist, könnte bei Patienten mit einem proximalen Verschluss der vorderen Zirkulation eine MT auch bei einem prämorbiden mRS > 1 in einem Zeitfenster von 6 h durchgeführt werden | Aufgrund der geringen Risiken der MT sollten vorbestehende Defizite nicht zwingend ein Ausschlussgrund für die MT sein. Wichtiger noch sollte das Ermitteln des prämorbiden mRS die Therapie nicht verzögern Wir empfehlen ein pragmatisches Kriterium, wie z. B., ob der Patient aus dem eigenen Haushalt kommt oder aus einem Pflegeheim |
Grad der Evidenz: B‑R | |||
Stärke der Empfehlung: schwach ↑? | |||
Pre-hospital-Skalen für die Erkennung von LVOs | Keine spezifische Empfehlung. Patienten sollten, wenn möglich, in RCTs eingeschlossen werden | Es sollten effektive Pre-hospital-Skalen entwickelt werden, um Patienten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen LVO zu identifizieren, um den Transport der Patienten in ein MT-fähiges Krankenhaus zu beschleunigen | Pre-hospital-Skalen wie z. B. RACE oder Telekonsultation könnten die Triage von vermuteten LVO-Patienten verbessern. Sie sollten in Zusammenarbeit mit den Notdiensten evaluiert werden |
Grad der Evidenz: sehr niedrig ⊕ | Grad der Evidenz: C-EO | ||
Stärke der Empfehlung: neutral – | Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | ||
Ziel der Thrombektomie | Bei Patienten mit LVO sollte versucht werden, mTICI 3 zu erreichen, sofern es möglich ist mit vertretbarer Sicherheit | Das technische Ziel der MT sollte eine Reperfusion vom Grad mTICI ≥ 2b sein | Wir empfehlen als Ziel der MT eine vollständige bzw. fast vollständige (mTICI 2c/3) Reperfusion. Wir empfehlen wiederholte Manöver auch bei bereits erreichter mTICI-2b-Reperfusion, wenn es technisch sicher möglich ist und das noch nichtperfundierte Areal funktionell wichtig ist |
Grad der Evidenz: niedrig ⊕⊕ | Grad der Evidenz: A | ||
Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ | Stärke der Empfehlung: stark ↑↑ |
Mögliche Indikationserweiterungen für MT
Zeitdauer zwischen Beginn der Symptome und Präsentation im Krankenhaus
Ausgedehnte Infarktfrühzeichen
Distale Verschlüsse
Milde Schlaganfälle
Verschluss der A. basilaris
Tandem-Verschlüsse
Pädiatrische Schlaganfälle (0–17 Jahre)
MT bei sehr alten Patienten (> 90 Jahre)
Patienten mit vorbestehenden Behinderungen (mRS > 1)
Neue Entwicklung in Behandlung und Management von LVO-Patienten
Intravenöse Thrombolyse bei MT-Patienten
Neue Triage-Konzepte
Technisches Ziel der MT
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Ist das nichtperfundierte Areal bereits infarziert?
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Welche funktionelle Bedeutung hat es?
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Wie hoch sind die möglichen Risiken bei einem weiteren MT-Manöver [83]?
Fazit für die Praxis
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Zusammenfassend empfehlen wir die mechanische Thrombektomie (MT) unabhängig vom Zeitfenster zu erwägen, auch wenn die DAWN- und DEFUSE-3-Kriterien nicht erfüllt sind, sofern noch ausreichend Penumbra nachweisbar ist.
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Zusätzlich sollten auch Patienten mit einem Verschluss der A. basilaris oder einem Tandem-Verschluss nicht von der MT ausgeschlossen werden. Dies gilt unserer Einschätzung nach auch für sehr alte (> 90 Jahre) und junge (0–17 Jahre) Patienten.
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Bei Patienten mit vorbestehender Behinderung oder bereits sehr ausgedehnten Infarktzeichen sollte die MT weiterhin eine Einzelfallentscheidung darstellen.
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Für die Zukunft gehen wir davon aus, dass sich die Indikation für eine MT aufgrund technischer Verbesserungen deutlich erweitern wird, vor allem auf distal gelegene, kleine Verschlüsse.