Den Verdacht auf eine Kindesmisshandlung rechtsmedizinisch abzuklären, erfordert große Umsicht und interdisziplinäre Expertise. Wie Fallbeispiele demonstrieren, ist dabei auch an ungewöhnliche Erklärungen und Ursachen der Befunde zu denken.
Bei Kindesmisshandlungen im Säuglingsalter wird häufig eine Diskrepanz zwischen äußeren und inneren Verletzungen beobachtet, berichtete Dr. Dorothee Geisenberger, Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Freiburg. Selbst schwerste innere Verletzungen können mit einer äußeren Befundarmut einhergehen. Das zeigt das Fallbeispiel eines im Alter von fünf Monate verstorbenen Säuglings mit unklarer Todesursache. Die Obduktion ergab, dass er misshandlungsbedingte tödliche Kopfverletzungen mit multiplen Schädelbrüchen und Unterblutungen der Galea aponeurotica erlitten hatte. Einziges äußeres Korrelat war eine zart-livide, undeutlich erkennbare Hautverfärbung in der linken Schläfenregion.
Bei einem 26 Tage alt gewordenen Kind wurde bei äußerlich unauffälligen Befunden und leerer Krankheitsvorgeschichte von einem plötzlichen Säuglingstod ausgegangen. Die Obduktion ergab jedoch ein tödliches Schädel-Hirn-Trauma, die behaarte Kopfhaut wies keinerlei äußerlich sichtbare Verletzungszeichen auf.
Artefakte können Misshandlung vortäuschen
Andererseits können primär verletzungsverdächtige Hautveränderungen auch irreführend sein, wie Geisenberger an einem weiteren Fallbeispiel illustrierte: Ein vier Wochen alter Säugling mit einem vermeintlichen Kopfhauthämatom wurde rechtsmedizinisch untersucht, da die auffällige Sozialanamnese der Familie den Verdacht auf eine körperliche Misshandlung aufkommen ließ. Es stellte sich jedoch heraus, dass die bläuliche Verfärbung in der Parietalregion abwischbar war und von einer nicht farbechten Kopfbedeckung stammte.
Differenzialdiagnosen berücksichtigen
Da die Diagnose einer Kindesmisshandlung weitreichende Folgen haben kann, ist eine fachgerechte, interdisziplinäre Befunderhebung und Interpretation von besonderer Bedeutung. Wichtig ist dabei, auch verschiedene Differenzialdiagnosen auszuschließen, verdeutlichte Dr. Melanie Todt, Institut für Rechtsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, an Fallbeispielspielen, in denen Kinder verdächtige Knochenbrüche erlitten hatten.
Bei einem eineinhalbjährigen Jungen mit VACTERL-Syndrom führten zahlreiche Frakturen der Extremitäten zum Verdacht der Kindesmisshandlung. In einer radiologisch-rechtsmedizinischen Fallkonferenz unter Einbeziehung der Anamnese und der Bruchformen konnten die Knochenbrüche jedoch durch eine physiotherapeutische Behandlung mittels einer Keillagerung erklärt werden.
Bei einem zehn Wochen alten Säugling wurde klinischerseits vermutet, dass eine Gewalteinwirkung eine Eckfraktur des linken distalen Femurs verursacht hatte. Eine von der Rechtsmedizin empfohlene erneute radiologische Kontrolluntersuchung konnte jedoch eine Eckfraktur ausschließen und stattdessen eine kindliche Normvariante einer subperiostalen Knochenmanschette bestätigen.
Bei einem 15 Monate alten Zwillingsmädchen konnten in der behandelnden Kinderklinik eine distale Femurfraktur links und eine Spiralfraktur des rechten Humerusschaftes nicht mit den Angaben der Eltern zu den Ursachen der Verletzungen in Einklang gebracht werden. Der Fall wurde daher rechtsmedizinisch auf der Basis der Krankenunterlagen begutachtet. Unter Berücksichtigung von Laborbefunden und der Ergebnisse humangenetischer Untersuchungen wurde konstatiert, dass aufgrund einer genetisch bedingten erhöhten Knochenbrüchigkeit die Frakturen mit den von den Eltern geschilderten Stürzen vereinbar waren. Der Verdacht einer Gewalteinwirkung von fremder Hand konnte entkräftet werden.