Blutzuckertherapie bei kritisch Kranken

Eine Hyperglykämie tritt bei kritisch Kranken häufig auf und ist mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden. Studien, Metaanalysen und systematische Reviews zur optimalen Blutzuckereinstellung bei kritisch Kranken zeigten gegensätzliche Resultate. Ziel der nachfolgend vorgestellten Studie ist die Überprüfung der Hypothese, dass eine engmaschige Blutzuckerkontrolle mit strenger Blutzuckereinstellung zu einer verringerten Sterblichkeit innerhalb der ersten 90 Tage führt. Zusammenfassung der Studie Studiendesign Prospektive, randomisierte, kontrollierte Multicenterstudie auf 41 Intensivstationen in Australien, Neuseeland und Nordamerika mit einem Follow-up-Zeitraum von 90 Tagen. Einschlusskriterien Erwachsene Patienten mit einem vorsehbaren Intensivstationsaufenthalt von ≥3 Tagen. Endpunkte Primär: Tod innerhalb von 90 Tagen nach Studienbeginn. Sekundär: Zeitraum, den der Patient überlebt hat, Zeitraum der maschinellen Beatmung, der Nierenersatztherapie, Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus. Tertiär: Tod innerhalb von 28 Tagen nach Studienbeginn, Inzidenz eines neu aufgetretenen Organversagens, Transfusionsvolumen. Methodik Zwischen Dezember 2004 und November 2008 wurden 6104 Patienten randomisiert: 3054 erhielten eine engmaschige Blutzuckerkontrolle mit einem Blutzuckerzielwert zwischen 81 und 108 mg/dl (4,5–6,0 mmol/l) und 3050 erhielten eine konventionelle Blutzuckerkontrolle mit einem Blutzuckerzielwert ≤180 mg/dl (≤10,0 mmol/l). Bei diesen konventionell therapierten Patienten wurde bei einem Blutzuckerwert von <144 mg/dl (<8,0 mmol/l) die insulinhaltige Infusion unterbrochen. Die Studie wurde beendet, sobald der Patient entweder nicht mehr künstlich ernährt wurde, von der Intensivstation entlassen worden oder verstorben war oder aber 90 Tage nach Studienbeginn vergangen waren. Hinsichtlich des primären Endpunkts wurden 6 definierte Subgruppenpaare gebildet: operative vs. nichtoperative bzw. septische vs. nichtseptische bzw. kortikoidtherapierte vs. nichtkortikoidtherapierte Patienten, Diabetiker vs. Nichtdiabetiker; Trauma vs. Nichttrauma, Patienten mit einem APACHE- (Acute Physiology and Chronic Health Evaluation) II-Score ≥25 vs. <25. Ergebnisse Das Durchschnittsalter der Patienten betrug 60 Jahre, 36% waren Frauen, 37% wurden nach operativen Eingriffen intensivpflichtig. Die Patienten wurden durchschnittlich 13 h nach Aufnahme auf die Intensivstation in die Studie eingeschlossen. Von den engmaschig kontrollierten Patienten erhielten 97% während des Intensivstationaufenthalts Insulin, bei den konventionell kontrollierten Patienten waren dies 69% (p<0,001). Innerhalb der 90 Tage des Follow-up-Zeitraums verstarben (primärer Endpunkt) 829 der 3010 engmaschig kontrollierten Patienten und 751 der 3012 konventionell kontrollierten Patienten (27,5% vs. 24,9%, p=0,02). Auch nach 28 Tagen waren mehr engmaschig als konventionell kontrollierte Patienten verstorben (22,3% vs. 20,8%, p=0,17). Die mittlere Überlebenszeit war bei den engmaschig kontrollierten Patienten niedriger als bei den konventionell kontrollierten Patienten (p=0,03). Lediglich in den Subgruppen der Traumapatienten und der Patienten mit bestehender Kortikoidtherapie konnte ein geringer Vorteil für die engmaschig kontrollierten Patienten verglichen mit den konventionell kontrollierten Patienten gezeigt werden. Innerhalb des Follow-up-Zeitraums konnte kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Studiengruppen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation oder im Krankenhaus oder des Zeitraums der maschinellen Beatmung oder der Nierenersatztherapie gezeigt werden. Schwere Hypoglykämien (≤40 mg/dl; ≤2,2 mmol/l) wurden bei 206 der 3010 engmaschig kontrollierten und bei 15 der 3012 konventionell therapierten Patienten nachgewiesen werden (6,8% vs. 0,5%, p<0,001). Kommentar von Prof. Dr. Stephan Jacob In einer der größten randomisierten multizentrischen Interventionsstudien in der Intensivmedizin mit über 6000 Teilnehmern wurde – im Gegensatz zu der ursprünglichen Erstbeobachtung der Arbeitsgruppe um van den Berghe – nicht nur kein Vorteil für die engmaschige Glukosekontrolle (häufig als intensivierte Insulintherapie bezeichnet) gefunden, nein, es kam noch schlimmer: Die intensiviert Behandelten hatten sogar eine deutlich höhere Sterblichkeit. Diese Arbeit hat zu vielen heftigen, teils leidenschaftlichen Diskussionen geführt. Die Erstbeobachtungen einer drastischen Reduktion der Todesfälle unter intensivierter Insulintherapie aus der Arbeit von Frau van den Berghe [3] sorgten lange Zeit dafür, dass eine solche intensivierte Insulintherapie auf vielen Intensivstationen eingeführt wurde. Die weiteren Studien ergaben jedoch unterschiedliche Ergebnisse, einmal mit Vorteilen, häufig jedoch auch ohne Benefit, also keine klare Antwort. Daher wurden die Ergebnisse von NICE-SUGAR mit besonderer Spannung erwartet: Nicht nur, dass die Zahl der Behandelten und der beteiligten Zentren sehr groß war, es wurden praktisch alle denkbaren operativen und nichtoperativen Indikationsbereiche auf der Intensivstation eingeschlossen: chirurgische, kardiologische, respiratorische sowie traumatologische Patienten. Zudem war die Beobachtungszeit von 90 Tagen die längste aller bisherigen Studien. Wenn auch die Ergebnisse hinsichtlich der erhöhten Mortalität unter intensivierter Insulintherapie deutlich sind, so ist vor voreiligen Schlussfolgerungen zu warnen. Subgruppenanalysen sind dringend nötig, um diese Beobachtung näher zu verstehen. Zu viele Fragen bleiben derzeit offen: Was sind die Mechanismen, die zu der vermehrten Mortalität führten? Gibt es besondere Risikopersonen? Waren es die Hypoglykämien? Diese stellen sich immer mehr als ein bedeutsamer Risikofaktor besonders für kardiovaskuläre Ereignisse, aber auch die Mortalität heraus. Wann sind die Menschen verstorben? Die 28-Tage-Mortalität war im Trend leicht erhöht, aber nicht signifikant – dagegen die 90-Tage-Mortalität. Ergo ist die höhere Mortalität eher in der Posthospitalisationphase aufgetreten. Aber: woran sind die Menschen verstorben? Und schließlich – welche Rolle spielt die Applikationsform der Glukose für den Effekt der intensivierten Insulintherapie? Enteral (NICE-SUGAR) vs. parenteral (v.d. Berghe), je nachdem wird die entero-insulinäre Achse eingebunden oder nicht. Hochinteressant ist die Frage, welche Bedeutung hier die Inkretine therapeutisch haben könnten, denn neben der glukomodulatorischen Wirkung weisen sie auch u. a. vaskulär protektive Effekte auf. Jüngste Daten zeigen bereits eine sehr gute metabolische Kontrolle bei Intensivpatienten und dies ohne Gefährdung hinsichtlich des Auftretens von Hypoglykämien [1], somit wäre eine engmaschige, material- und personalaufwändige Blutzuckerkontrolle nicht erforderlich. Auch scheint eine GLP-1-Gabe (Glucagon-like Peptide 1) die Hyperglykämie schneller als ein Insulinprotokoll kontrollieren zu können [2]. Dies wird hoffentlich in Zukunft genauer untersucht werden … Fazit für die Praxis Was machen wir? Die meisten Experten betonen übereinstimmend, dass nach wie vor eine gute Blutzuckerkontrolle mit Insulin angestrebt werden soll mit Werten bis 180 mg/dl – ähnlich wie in der Kontrollgruppe von NICE-SUGAR. Eine absolute Normoglykämie ist nicht erforderlich, zudem sollten unbedingt Hypoglykämien vermieden werden. Literatur 1. Meier JJ, Weyhe D, Michaely M et al. (2004) Intravenous glucagon-like peptide 1 normalizes blood glucose after major surgery in patients with type 2 diabetes. Crit Care Med 32: 848–851 2. Sourij H, Schmölzer I, Kettler-Schmut E et al. (2009) Efficacy of a continuous GLP-1 infusion compared with a structured insulin infusion protocol to reach normoglycemia in nonfasted type 2 diabetic patients: a clinical pilot trial. Diabetes Care 32: 1669–1671 3. van den Berghe G, Wouters P, Weekers F et al. (2001) Intensive insulin therapy in the critically ill patients. N Engl J Med 345: 1359–1367

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