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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 21.10.2022

Verletzungen der Harnwege – Begutachtung

Verfasst von: Wolfgang Diederichs und Jana Pretzer
Infolge der unterschiedlichen Lage im Körper, vom Nierenbecken im oberen Retroperitonealraum bis hin zur unterhalb des Beckenbodens gelegenen distalen Harnröhre, sind die Verletzungsmechanismen der ableitenden Harnwege und die damit verbundenen Symptome sehr verschieden. Nicht iatrogene Traumen von Harnleiter, Harnblase und proximaler Harnröhre gehen meist einher mit anderen Verletzungen im Bereich des Retroperitoneums als auch im kleinen Becken. Die Makrohämaturie ist das Leitsymptom für eine Verletzung der ableitenden Harnwege. Schwellungen im Unterbauch können auf eine übermäßige Füllung der Harnblase hinweisen. Eine Hämatombildung im Bereich des Skrotums und des Penisschaftes sprechen meist für eine Verletzung der distalen Harnröhre.

Allgemeines

Die ableitenden Harnwege umfassen unterschiedliche Organsysteme und reichen vom Nierenbecken über den Harnleiter und über die Blase bis zur Harnröhre. Neben dem Harntransport erfolgt auch eine Harnspeicherung und eine willentliche Harnentleerung.
Das Nierenbecken, die Harnleiter und die Harnblase liegen im Retroperitoneum und unterliegen einer komplexen neurogenen Steuerung. Gemeinsam ist den ableitenden Harnwegen ein mehrschichtiger Wandaufbau mit einer inneren Auskleidung aus Urothel, bis auf die letzten Zentimeter der distalen Harnröhre. Infolge der unterschiedlichen Lage im Körper, vom Nierenbecken im oberen Retroperitonealraum bis hin zur unterhalb des Beckenbodens gelegenen distalen Harnröhre, sind auch die Verletzungsmechanismen sehr verschieden.

Nierenbecken- und Harnleiterverletzungen

Häufigkeit und Ursache von Nierenbecken- und Harnleiterverletzungen

Infolge der geschützten Lage im Retroperitoneum sind Verletzungen von Nierenbecken und Harnleiter durch ein äußeres Trauma eher die Ausnahme und gehen meist mit anderen Organverletzungen einher (Coccolini et al. 2019). Nur 1 bis 2,5 % aller nicht iatrogenen Verletzungen im Bereich des Harntraktes betreffen den Harnleiter (Summerton et al. 2015). Die häufigste Ursache für Harnleiterverletzungen sind Schusswunden. Nur ein Drittel der Fälle werden durch ein stumpfes Trauma verursacht und treten meist im Rahmen von Verkehrsunfällen infolge von Dezelerationstraumen mit extremer Hyperextension und Lordose ein (Rassweiler et al. 2020). Hierbei kommt es dann meist zu Verletzungen im Bereich des Nierenbecken-Harnleiterüberganges. Klinische Hinweiszeichen auf eine Harnleiterverletzung zeigen sich, wenn überhaupt welche bestehen, meist durch eine Hämaturie (Coccolini et al. 2019). Da Harnleiterverletzungen überwiegend mit anderen Organverletzungen bzw. beim polytraumatisierten Patienten auftreten, werden diese oft übersehen oder erst mit einer zeitlichen Verzögerung infolge einer Urinom-Bildung festgestellt.
Zu iatrogenen Verletzungen des Harnleiters kommt es in erster Linie durch Operationen im kleinen Becken oder bei endoskopischen Eingriffen. Diese treten häufig (73 %) im Rahmen von gynäkologischen Operationen, seltener bei allgemein-/gefäßchirurgischen (14 %) oder urologischen Eingriffen (14 %) auf (Rassweiler et al. 2020). Überwiegend ist hierbei der untere Harnleiterabschnitt betroffen. An Verletzungsmechanismen sind die Ligatur des Harnleiters, die Verletzung durch eine Klemme, eine partielle oder komplette Durchtrennung, eine thermische Schädigung, sowie eine Ischämie der Harnleiterwand durch eine Devaskularisierung zu nennen (Kitrey et al. 2020) (Tab. 1).
Tab. 1
Inzidenz von Harnleiterverletzung bei verschiedenen operativen Eingriffen (Kitrey et al. 2020)
Fachbereich
Art des Eingriffes
Häufigkeit von Harnleiter-verletzungen (%)
Gynäkologie:
vaginale Hysterektomie
0,02–0,5
abdominale Hysterektomie
0,03–2,0
laparoskopische Hysterektomie
0,2–6,0
Antiinkontinenz/Prolaps Eingriffe
1,7–3,0
Chirurgie:
Kolonchirurgie
0,15–10,0
Urologie:
Ureteroskopie:
 
 Schleimhautverletzung
0,3–4,1
 Harnleiterperforation
0,2–2,0
 Harnleiterabriss
0,0–0,3
Radikale Prostatektomie:
 
 offen/retropubisch
0,05–1,6
 Roboter assistiert
0.05–0.4

Komplikationen nach Harnleiterverletzungen

Zu den wesentlichen Frühkomplikationen nach einer Harnleiterverletzung zählen die Urinombildung, die periureterale Abszessentwicklung und das Auftreten einer Harntraktinfektion bis hin zur Sepsis (Ziemba und Matlaga 2018). Die häufigste Spätkomplikation ist die Ausbildung einer Harnleiterstriktur. Bei allen Komplikationen kann es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Harnstauungsniere und den entsprechenden Folgen einer Nierenfunktionsminderung kommen. Wenn im Rahmen einer Harnleiterverletzung auch das Harnleiterostium mitbetroffen ist, kann sich hieraus neben einer Stenose auch eine Refluxbildung zwischen der Harnblase und dem Nierenbecken entwickeln.

Diagnostik bei Harnleiterverletzungen

Da klinisch die Hämaturie das wesentliche Anzeichen für eine Harnleiterverletzung ist, kann die Urinuntersuchung bei der Erkennung von Harnleiterverletzungen hilfreich sein. In Ergänzung dazu sollte die Sonografie als auch die CT-Diagnostik des Retroperitoneums genutzt werden. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass besonders bei polytraumatisierten Patienten im CT bei der Gabe von Kontrastmittel meist nur die frühe Ausscheidungsphase bildlich festgehalten wird, in der eine Urinom-Bildung oder eine Harntransportstörung infolge einer Harnleiterverletzung nur unzureichend dargestellt wird und somit übersehen bzw. erst verzögert festgestellt wird. Daher sollte bei dem Verdacht auf eine Harnleiterverletzung eine Sonografie bzw. eine CT-Diagnostik mit Darstellung der späten Ausscheidungsphase auch nochmals im Intervall vorgenommen werden. In Ergänzung kann eine retrograde Pyelografie zum sicheren Nachweis bzw. Ausschluss einer Harnleiterverletzung sinnvoll sein. Auch bei übermäßigen und andauernden Flüssigkeitsabsonderungen aus Wunden bzw. Wunddrainagen sollte an eine Harnleiterverletzung gedacht und eine Kreatininbestimmung aus der Flüssigkeit vorgenommen werden.
Insgesamt werden 66 % der iatrogenenHarnleiterverletzungen und bis zu 80 % der stumpfen und penetrierenden Harnleiterverletzungen erst mit einer Verzögerung von Tagen bis zu Wochen diagnostiziert (Rassweiler et al. 2020).

Gutachtenbeispiel 1: Traumatische Harnleiterverletzung

Der 27-jährige Versicherte stürzte im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mit der linken Flanke auf eine Eisenstange. Im Rahmen der Primärdiagnostik zeigte sich eine Nierenruptur links mit Verletzung des kranialen Harnleiters und einer Urinombildung (siehe Abb. 1). Es wurde eine innere Harnleiterschiene links und ein suprapubischer Katheter zur drucklosen Urinableitung eingelegt. Im weiteren Verlauf wurden der suprapubische Fistelkatheter sowie die Harnleiterschiene entfernt. 8 Monate später ergab die durchgeführte Diagnostik bei starken Flankenschmerzen eine erneute Harnstauung mit der Notwendigkeit der erneuten Harnleiterschienung. Es schlossen sich mehrfache Operationen wie Harnleiterschienen Auslassversuche, Harnleiterspiegelungen mit Laserinzision der Harnleiterenge, minimal invasive Ureterolyse (Harnleiterlösung) und eine offene Harnleiterplastik mit Dünndarminterponat links an. Schließlich wurde bei deutlicher Nierenfunktionseinschränkung der linken Niere und frustranen Harnleiterschienen Auslassversuchen die Nierenentfernung links sowie die Entfernung des Dünndarmersatzes des Harnleiters 18 Monate nach dem Unfall durchgeführt.
In der durchgeführten urologischen Begutachtung zwei Jahre nach dem Unfall wurde die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei unfallbedingtem Verlust der Niere links ohne Funktionsbeeinträchtigung der anderen Niere auf 20 % eingeschätzt.

Gutachtliche Bewertung zu Ermittlung der GdB/MdE bei Harnleiterverletzungen

Als Folge einer Harnleiterverletzung kann es zu einer Harnleiterstriktur mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Harnabflussstörung und der damit einhergehenden Nierenfunktionsstörungen bis hin zum kompletten Ausfall kommen. Außerdem müssen das Auftreten einer chronischen Pyelonephritis, einer Harnsteinbildung oder das Auftreten eines Refluxes von Urin aus der Harnblase bis hin zum Nierenbecken mit möglichen Auswirkungen auf die Nierenfunktion bei der Begutachtung mitberücksichtigt werden (Tab. 2).
Tab. 2
MdE-Erfahrungswerte und GdS/GdB bei Harnleiterverletzungen in % (Mehrtens und Diederichs 2017; siehe auch: MdE-Erfahrungswerte bei Nierenverletzungen)
Steinbildung als Folge von Infekten
 - ohne Restkonkrement
0–20
 - bei Rezidivsteinbildung mit Einschränkung der Nierenfunktion
60–100
einseitiger vesiko-renaler Reflux ohne Infekt, ohne
 Funktionseinschränkung der Niere
0–10
doppelseitiger vesiko-renaler Reflux mit Infekten,
 Funktionseinschränkung der Niere
50–80
einseitige supravesikale Harnabflussbehinderung, je nach Grad
 der Funktionseinschränkung
10–70
doppelseitige supravesikale Harnabflussbehinderung, je nach Grad
 der Funktionseinschränkung
40–100

Verletzungen der Harnblase

Häufigkeit und Ursache von Verletzungen der Harnblase

Nicht iatrogene Verletzungen der Harnblase gegen in über 90 % mit anderen Verletzungen einher (Rassweiler et al. 2020), da eine hohe Energie notwendig ist, um die Blase zu schädigen (Coccolini et al. 2019). Blasenverletzungen treten häufiger nach stumpfen (65–86 %) als nach durchdringenden (14–35 %) Traumen auf (Coccolini et al. 2019). Am häufigsten kommt es zu extraperitonealen Blasenrupturen (60–90 %) durch Eindringen von Beckenknochenfragmenten im Sinne einer Spießungsverletzung in die Harnblase. Der hierbei austretende Urin kann in die vordere Bauchwand, ins Skrotum als auch ins Perineum gelangen. In 15–25 % kommt es zu einer intraperitonealen Blasenruptur, häufig durch ein direktes Unterbauchtrauma bei gefüllter Harnblase (Coccolini et al. 2019). Im Rahmen dieser Verletzung kommt es fast immer zum Übertritt von Urin in die Bauchhöhle mit der entsprechenden Symptomatik. Seltener findet sich sowohl eine intra- als auch eine extraperitoneale Harnblasenverletzung (5–12 %). Davon zu unterscheiden sind eine reine Kontusion der Harnblase sowie Verletzungen im Bereich des Blasenausganges.
Pädiatrische Patienten sind anfälliger für Blasenverletzungen aufgrund der Anatomie der Kinder. Blasenverletzungen bei Kindern sind jedoch weniger mit Beckenfrakturen verbunden als bei Erwachsenen (Coccolini et al. 2019).
Von den durch äußere Gewalteinwirkung bedingten Harnblasenverletzungen müssen die iatrogen bedingten Blasentraumen unterschieden werden. Die häufigsten Verletzungsarten sind in Tab. 3 aufgeführt.
Tab. 3
Iatrogene Verletzungen der Harnblase (Kitrey et al. 2020)
Fachbereich
Art des Eingriffes
Häufigkeit (%)
Gynäkologie
laparoskopische Hysterektomie
1,0–2,7
vaginale Hysterektomie
0,6–2,5
Kaiserschnitt
0,08–0,94
Chirurgie
abdominale Tumorchirurgie
4,5
laparoskopischer Leistenhernienverschluss
0,04–0,14
Urologie
transurethrale Blasentumorresektion
3,5–58
Harnröhrenschlingeneinlagen (TVT)
4,91–5,5

Nervale Verletzungen der Harnblase

Neben den direkten Verletzungen der Harnblase müssen gutachterlich auch die nervalen Verletzungen der Harnblase durch Störungen der Innervation der Harnblase selbst oder von neurologischen Strukturen, die die Blase betreffen, beachtet werden. Dies bedeutet, dass Beeinträchtigungen sowohl in der peripheren Innervation der Blase und des Schließmuskels sowie der Bahnen im Rückenmark als auch Störungen des Gehirnes selbst zu einer Blasenfunktionsstörung führen können (KISS et al. 2020). Je nach der Läsionsart kann sich eine Detrusor-Hyperreflexie mit oder ohne Sphinkterdyssynergie als auch eine Detrusor-Hyporeflexie entwickeln (siehe Tab. 4).
Tab. 4
Ursachen neurogener Verletzungen der Harnblase
Läsionsort
Art der neurogen Blasen-entleerungsstörung
typische Verletzungsart
Suprapontin/Hirnstamm
zerebral enthemmte Blase
Kopfverletzung
suprasakral
spinale Reflexblase
subsakral/peripher
dezentralisierte Blase
Bandscheibenvorfall
 
/
schweres Beckentrauma
 
denervierte Blase
ausgedehnte Operationen
  
im kleinen Becken

Komplikationen nach Verletzungen der Harnblase

Komplikationen nach einer Harnblasenverletzung sind selten. Eine unerkannte Blasenruptur kann durch eine Urinextravasation zur Ausbildung einer Phlegmone führen. Bei ausgedehnten Verletzungen im kleinen Becken kann es durch die lokale Hämatom- und spätere Narbenbildung auch zur Ausbildung einer Schrumpfblase kommen. Als Langzeitfolge einer nervalen Verletzung der Harnblase kann u. a. ein chronischer Harnwegsinfekt, bei einer andauernden Detrusor-Hyperreflexie auch ein vesikoureteraler Reflux mit Minderung oder Versagen der Nierenfunktion auftreten.

Diagnostik bei Harnblasenverletzungen

Das Leitsymptom der Harnblasenverletzung ist die Makrohämaturie. Zudem können sichtbare Zeichen einer Beckenfraktur, einer Distension im Unterbauch mit der Unfähigkeit der Miktion als auch Schwellungen im Leisten- und Skrotalbereich auf eine Blasenverletzung hinweisen. Die Sonografie allein ist meist unzureichend in der Beurteilung von Blasentraumen, obwohl sie verwendet werden kann, um intraperitoneale als auch extraperitoneale Ansammlungen von Flüssigkeit darzustellen (Kitrey et al. 2020). Die intravenöse kontrastverstärkte CT-Untersuchung mit verzögerter Phase ist weniger empfindlich und spezifisch als eine retrograde Zystographie bei der Erkennung von Blasenverletzungen (Kitrey et al. 2020). Daher sollte bei einer unauffälligen CT-Untersuchung zum Ausschluss einer Harnblasenverletzung eine retrograde Zystographie vorgenommen werden. Ein erhöhter Kreatininwert im Blut kann ein indirektes Hinweiszeichen auf eine Urinextravasation in die Bauchhöhle mit entsprechender Urinrückresorption sein.

Gutachtenbeispiel 2: Traumatische Harnblasenverletzung

Eine 31-jährige Patientin war nach eigenen Angaben in ihrer Badewanne ausgerutscht und auf eine Glasflasche gefallen. Dabei zog sie sich durch die Glasscherben folgende Verletzungen zu: Rektumperforation, Perforation des vorderen und hinteren Scheidengewölbes, Blasenperforation und später eine Blasenscheidenfistel zu (siehe Abb. 2). Unter anderem wurde primär eine anteriore Rektumresektion mit Anlage eines Sigmoidostomas, eine Rekonstruktion des Scheidengewölbes, sowie eine Blasenübernähung durchgeführt.
Bei im Verlauf aufgetretener Harnblasenscheidenfistel erfolgte der operative Verschluss. 2 Jahre nach dem Unfall wurde die Patientin begutachtet, es ergab sich bis auf eine dezent erhöhte Harnblasenentleerungsfrequenz urologisch ein unauffälliger Befund. Deshalb wurde die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei Blasenentleerungsstörung leichten Grades auf 10 % eingeschätzt.

Gutachterliche Bewertung zu Ermittlung der GdB/MdE bei Harnblasenverletzungen (Tab. 5)

Tab. 5
MdE-Erfahrungswerte und GdS/GdB bei Harnblasenverletzungen in % (Mehrtens und Diederichs 2017; VersMedV 2019)
Entleerungsstörungen der Blase
 - leichten Grades (z. B. geringe Restharnbildung)
10
 - stärkeren Grades (z. B. erhebliche Restharnbildung)
20–40
 - mit Notwendigkeit des regelmäßigen Katheterisierens oder eines Dauerkatheters, ohne wesentliche Begleiterscheinungen
50
chronische Harnblasenentzündung
 - leichten Grades (ohne wesentliche Miktionsstörungen)
0–10
 - stärkeren Grades (mit erheblichen und häufigen Miktionsstörungen)
20–40
 - chronische Harnblasenentzündung mit Schrumpfblasenbildung
50–70
Blasenfistel
20

Verletzungen der Harnröhre

Häufigkeit und Ursache von Verletzungen der Harnröhre

Nicht iatrogene Urethraverletzungen sind selten. Sie betreffen meist männliche Patienten und werden in der Regel nach einem stumpfen Trauma diagnostiziert (Coccolini et al. 2019) Urethraverletzungen treten an der vorderen (penile und bulbäre Harnröhre) als auch an der hinteren Harnröhre (membranöse und prostatische Harnröhre) auf und kann partiell oder komplett sein. Die Hauptursache für vordere Harnröhrenverletzungen ist ein direktes stumpfes Trauma, zum Beispiel durch eine Trittverletzung oder durch einen Sturz auf eine Fahrradstange (auch Straddle-Trauma genannt). Verletzungen der hinteren Harnröhre resultieren in der Regel aus Beckentraumen (Coccolini et al. 2019). Bei einer Beckenringfraktur muss in bis zu 70 % mit einer Verletzung der Harnröhre gerechnet werden (Rassweiler et al. 2020). Durch Scherkräfte kommt es überwiegend im Bereich des Überganges zwischen der membranösen und der prostatischen Harnröhre zu einem partiellen oder vollständigen Abriss der Urethra. In bis zu 20 % der Fälle werden dabei auch gleichzeitig Blasenverletzungen gefunden (Coccolini et al. 2019).
Die mit 32 % häufigste Ursache für iatrogene Urethraverletzungen ist ein fehlerhafter Katheterismus der Harnröhre (Summerton et al. 2015). Aber auch endourologische Eingriffe, wie zum Beispiel eine transurethrale Prostataresektion und radikale Eingriffe an der Prostata (Prostatektomie, radikale Zystektomie) können zu entsprechenden Urethraverletzungen führen. Weitere Verletzungen treten beim autoerotischem Einbringen von verschiedenen Fremdkörpern (u. a. Kugelschreiber, Feile, Draht, Harnröhrendildos) meist im Bereich der Harnröhre auf.
Weibliche Harnröhrenverletzungen sind selten und werden oft durch Beckenverletzungen verursacht und sind in der Regel mit rektalen und vaginalen Verletzungen verbunden (Coccolini et al. 2019).

Komplikationen nach Verletzungen der Harnröhre

Die typische frühe Komplikation einer Verletzung der Harnröhre ist die Ausbildung eines lokalen Hämatoms. Bei Verletzungen der vorderen Harnröhre kommt es zur Ausbildung eines meist deutlich sichtbaren Hämatoms im Penoskrotalbereich und/oder Damm. Bei gleichzeitigem Austritt von Urin in diesem Bereich kann sich auch eine lokale Phlegmone entwickeln. Die Ausbildung eines ausgeprägten Hämatoms im kleinen Becken ist die typische Folge der hinteren Harnröhrenverletzung. An Spätfolgen sind die Entwicklung einer Harnröhrenstriktur, bei Verletzung der membranösen Harnröhre auch eine partielle oder vollständige Harninkontinenz als auch eine erektile Dysfunktion zu nennen.

Diagnostik bei Harnröhrenverletzungen

Das Leitsymptom der Harnröhrenverletzung ist die Blutung aus der Urethra. Bei Verletzung im Bereich der vorderen Harnröhre ist auf lokale Prellmarken als auch die Entwicklung eines Hämatoms im Bereich von Penisschaft und Skrotum zu achten. Durch Traumen im hinteren Harnröhrenanteil mit einer kompletten Ruptur der Urethra kann bei der digital rektalen Untersuchung die Prostata, infolge der Dislokation von Blase und Prostata nach kranial, nicht mehr getastet werden. Die Sonografie spielt im Rahmen der Diagnostik der Harnröhrenruptur nur eine untergeordnete Rolle. Sie kann jedoch eine volle, eventuell dislozierte Blase und Prostata anzeigen und liefert einen groben Anhalt für das Ausmaß des Beckenhämatoms (Rassweiler et al. 2020). Dies kann jedoch mittels einer CT Diagnostik wesentlich besser beurteilt werden. Um eine traumatische Harnröhrenverletzung fachgerecht zu untersuchen, sollten eine retrograde Urethrographie und ggf. eine selektive Urethroskopie vorgenommen werden (Coccolini et al. 2019). Im klinischen Alltag ist dies jedoch bei ausgedehnten Beckenverletzungen insbesondere bei polytraumatisierten Patienten nicht immer möglich, da andere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen dringlicher sind.

Gutachtenbeispiel 3: Traumatische Harnröhrenverletzung

Ein 63-jähriger Versicherter verunfallte beim Entladen von Euro-Paletten, die mit Sandstein bestückt waren, als er zwischen zwei beladenen Euro-Paletten eingequetscht wurde. Die durchgeführte Polytraumaspirale ergab folgendes Verletzungsmuster: komplexe Beckenfraktur mit u. a. Os sacrum-Fraktur rechts, Sprengung des ISG links, Stückfraktur des oberen Schambeinastes links mit Einstrahlung in das Acetabulum, sowie einen Harnröhrenabriss im Bereich der membranösen Harnröhre (siehe Abb. 3). Eine primäre endoskopische Harnröhrenschienung verlief frustran. Der Patient wurde mit einem suprapubischen Katheter versorgt. Im Verlauf schlossen sich folgende urologische operative Eingriffe an: transurethrale Kathetereinlage im Rendezvousverfahren transvesikal und retrograd urethroskopisch, Harnröhrenschlitzung und Thermostent-Implantation bei hochgradiger narbiger Enge im Bereich der membranösen Harnröhre, Thermostent-Explantation und Anlage suprapubischer Harnblasenkatheter bei erneuter hochgradiger Harnröhrenenge. Ein erneuter Versuch der Harnröhrenschienung schlug fehl, so dass der Patient seither endständig mit einem suprapubischen Katheter versorgt ist. Außerdem besteht eine erektile Dysfunktion seit dem Unfallgeschehen, welche jedoch vor dem Unfall in geringerer Ausprägung vorbestand. Im Rahmen der Begutachtung wurde die MdE auf 50 % bei absoluter Harnröhrenenge und endständigem suprapubischen Katheter eingeschätzt.

Gutachterliche Bewertung zu Ermittlung der GdB/MdE bei Harnröhrenverletzungen (Tab. 6)

Tab. 6
MdE-Erfahrungswerte und GdS/GdB bei Harnröhrenverletzungen in % (Mehrtens und Diederichs 2017; VersMedV 2019)
Harnröhrenverengung
 - gelegentlich ausdehnbar
10–20
 - wiederholt ausdehnbar
20–30
 - mit häufigem Harnlassen und geringem Nachträufeln
20
 - mit schmerzhaftem Harnlassen, Entzündungen der Harnwege und starkem Nachträufeln
50
Harninkontinenz
 - relative leichter Harnabgang bei Belastung
0–10
 - Harnabgang tags und nachts
20–40
 - völlige Harninkontinenz
50
Harnfistel
 - mit Notwendigkeit, Urinal zu tragen
50
 - am Damm
30–50
 - dauernd, in der vorderen Harnröhre ohne Harninfektion
20
Literatur
Coccolini F et al (2019) Kidney and uro-trauma: WSES-AAST guidelines. World J Emerg Surg 14:54CrossRef
Kiss G et al (2020) Neurogene Blasenfunktionsstörungen. In: Jocham D et al (Hrsg) Praxis der urologie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Kitrey VD et al (2020) Non oncology guidelines: urological Trauma. https://​uroweb.​org/​guideline/​urological-trauma/​#3. Zugegriffen am 30.01.2021
Mehrtens G, Diederichs W (2017) Harnorgane. In: Schönberger A et al (Hrsg) Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Erich Schmitt Verlag, Berlin
Rassweiler J et al (2020) Urologische Traumatologie. In: Jocham D et al (Hrsg) Praxis der Urologie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Summerton DJ et al (2015) EAU guidelines on urological Trauma. EAU-guidelines-urological-Trauma-2015-v2.pdf (uroweb.org)
Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV (zuletzt geändert durch Art. 27 g v. 12.12.2019 I 2652 https://​www.​gesetze-im-internet.​de/​versmedv/​BJNR241200008.​html. Zugegriffen am 30.01.2021
Ziemba JB, Matlaga BR (2018) Complications of ureteroscopic surgery. In: Taneja SS, Shan O (Hrsg) Taneja’s complications of urologic surgery. Elsevier, Edinburgh/London/New York