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Pädiatrie
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Publiziert am: 08.02.2019

Spinale Muskelatrophien

Verfasst von: Janbernd Kirschner
Bei den spinalen Muskelatrophien (SMA) handelt es sich um eine Gruppe genetischer Erkrankungen, die durch eine primäre Schädigung der spinalen Motoneurone gekennzeichnet sind. Im Kindes- und Jugendalter ist das bis auf wenige Ausnahmen die spinale Muskelatrophie durch Mutationen im SMN1-Gen auf Chromosom 5. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt und tritt mit einer Inzidenz von mindestens 1:10.000 auf. Klinisch manifestiert sich die spinale Muskelatrophie als ein Krankheitsspektrum mit sehr unterschiedlichem Schweregrad.
Definition
Bei den spinalen Muskelatrophien (SMA) handelt es sich um eine Gruppe genetischer Erkrankungen, die durch eine primäre Schädigung der spinalen Motoneurone gekennzeichnet sind. Im Kindes- und Jugendalter ist das bis auf wenige Ausnahmen die SMA durch Mutationen im SMN1-Gen auf Chromosom 5. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt und tritt mit einer Inzidenz von mindestens 1:10.000 auf. Klinisch manifestiert sich die spinale Muskelatrophie als ein Krankheitsspektrum mit sehr unterschiedlichem Schweregrad. Je nach maximal erreichter motorischer Funktion unterscheidet man klinisch 3 Verlaufsformen:
  • Typ I (Werdnig-Hoffmann-Krankheit): Symptombeginn in den ersten Lebensmonaten, freie Sitzfähigkeit wird nie erreicht.
  • Typ II (intermediärer Typ): Symptombeginn meist vor dem 18. Lebensmonat, freie Sitzfähigkeit wird erreicht, aber nicht die freie Gehfähigkeit.
  • Typ III (Kugelberg-Welander-Krankheit): späterer Symptombeginn, freie Gehfähigkeit wird erreicht, kann aber im Verlauf wieder verloren gehen.
Unter den 3 Typen der SMA ist der Typ I der häufigste und macht über die Hälfte der SMA-Fälle im Kindesalter aus. Die SMA Typ I gehört damit bisher zu den häufigsten genetisch bedingten Todesursachen im Kindesalter. Die unterschiedliche Manifestation der spinalen Muskelatrophie wird vor allem durch die individuelle Anzahl der SMN2-Genkopien verursacht. Hierbei handelt es sich um ein Gen, das partiell die Funktion des SMN1-Gens übernehmen kann. Statistisch führt eine höhere Anzahl von SMN2-Kopien zu einem milderen Phänotyp. Eine eindeutige Vorhersage für einen individuellen Patienten lässt sich daraus aber nicht ableiten.
Klinische Symptome und Verlauf
Gemeinsames klinisches Merkmal der spinalen Muskelatrophien ist eine proximal betonte Muskelschwäche in Verbindung mit einer normalen zerebralen Funktion. Der Symptombeginn kann je nach Schweregrad in jedem Lebensalter von Geburt bis zum späten Erwachsenenalter liegen.
SMA Typ I (Werdnig-Hoffmann-Krankheit)
Bei dieser Form treten erste Symptome meist in den ersten Lebensmonaten auf. Leitsymptome im Kindesalter sind:
  • ausgeprägte proximal betonte Muskelschwäche,
  • wacher Blick mit meist gut erhaltener Mimik,
  • Zungenfaszikulationen,
  • Areflexie, normale Sensibilität,
  • paradoxes Atemmuster mit vor allem abdominaler Atembewegung.
Bei der seltenen neonatalen Verlaufsform kann bereits bei Geburt eine respiratorische Insuffizienz mit Beatmungspflichtigkeit auftreten. Typischer ist aber, dass die respiratorischen Probleme innerhalb des 1. Lebensjahres zunehmen. Die Schwäche der Atemmuskulatur führt neben einer Hypoventilation vor allem zu einem ineffizienten Hustenstoß, sodass insbesondere im Rahmen von Atemwegsinfekten ein hohes Risiko für Atelektasen und bakterielle Superinfektionen bis hin zur Beatmungspflichtigkeit besteht. Im Verlauf macht die Beteiligung der Schluckmuskulatur oft die Ernährung über eine Sonde erforderlich. Eine Herzbeteiligung tritt bei der spinalen Muskelatrophie nicht auf. Ohne medikamentöse Therapie ist der Krankheitsverlauf in Bezug auf die Muskelschwäche langsam progredient, kann aber in einigen Fällen über längere Zeiträume stabil bleiben. Eine Bewegung der Extremitäten gegen die Schwerkraft ist selten möglich. Ohne Beatmung oder medikamentöse Therapie, versterben 90 % der Kinder mit SMA Typ I innerhalb der ersten 2 Lebensjahre. Bei Kindern, die im Krankheitsverlauf nie eine aktive Kopfkontrolle erreicht haben, ist die Prognose noch ungünstiger.
SMA Typ II (intermediärer Typ)
Hier ist der Krankheitsverlauf leichter und der Krankheitsbeginn liegt meist zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat. Auffällig ist initial vor allem die Muskelschwäche, die zu einem motorischen Entwicklungsstillstand oder evtl. zum Verlust motorischer Funktionen führt. Definitionsgemäß erlernen die Kinder das freie Sitzen, aber nicht das freie Gehen. Im Verlauf entwickeln die meisten Patienten mit SMA Typ II eine Hypoventilation, die eine nächtliche nichtinvasive Beatmung erforderlich macht. Die Muskelschwäche und Immobilität führt außerdem zu progredienten Kontrakturen und einer Skoliose. Je nach Schweregrad überleben die meisten Kinder heute bis in das Erwachsenenalter.
SMA Typ III (Kugelberg-Welander-Krankheit)
Hierbei handelt es sich um die leichteste Verlaufsform mit Symptombeginn nach Erreichen der freien Gehfähigkeit. Der Krankheitsverlauf ist nur langsam progredient und kann über viele Jahre stabil sein. Nicht selten kommt es im langfristigen Verlauf zum Verlust der Gehfähigkeit. Eine klinisch relevante respiratorische Beteiligung mit Beatmungspflichtigkeit ist beim Typ III eher selten und die Lebenserwartung ist kaum eingeschränkt.
Sonderformen
Neben der häufigen spinalen Muskelatrophie mit Mutationen im SMN1-Gen gibt es einige seltene Sonderformen, die in Tab. 1 zusammengefasst sind.
Tab. 1
Sonderformen der spinalen Muskelatrophie (SMA)
Sonderform der SMA
Genetischer Defekt
Klinische Charakteristika
SMA mit Respiratory Distress (SMARD)
IGHMBP2 (autosomal-rezessiv)
Eher distale Schwäche, betonte respiratorische Insuffizienz mit Zwerchfellparese
SMA mit pontozerebellärer Hypoplasie
VRK1, RARS2, TSEN54, EXOSC3 (autosomal-rezessiv)
Meist schwerer Krankheitsverlauf mit pontozerebellärer Hypoplasie
Neonatale X-chromosomale SMA mit Arthrogrypose
UBA1 (X-chromosomal)
Neonataler Beginn mit Kontrakturen, Frakturen und respiratorischer Insuffizienz
Diagnose
Die Verdachtsdiagnose einer SMA ergibt sich vor allem aufgrund der typischen klinischen Manifestation. Die Kreatinkinase im Serum ist normal oder leicht erhöht. Hilfreich ist im Säuglingsalter die Muskelsonografie. Dabei zeigt sich eine atrophe Muskulatur mit inhomogener Echogenitätsvermehrung. Elektromyografisch lässt sich meist eine neurogene Schädigung durch Spontanaktivität und ein gelichtetes Interferenzmuster nachweisen. Entscheidender diagnostischer Schritt ist die genetische Analyse des SMN1-Gens durch eine MLPA-Analyse („multiplex ligation-dependent probe amplification“). Typischerweise zeigt sich eine homozygote Deletion von Exon 7 (und 8). Sehr selten kann auch eine hemizygote Deletion in Kombination mit einer Punktmutation auftreten. Eine Muskelbiopsie ist nur bei unauffälliger genetischer Untersuchung oder unklarer Differenzialdiagnose erforderlich. Die klassische spinale Muskelatrophie wird autosomal-rezessiv vererbt. Neumutationen sind sehr selten, sodass bei weiteren Kindern von einem Wiederholungsrisiko von 25 % auszugehen ist.
Therapie
Aufgrund der Komplexität ist zur adäquaten Betreuung von Patienten mit SMA ein multidisziplinäres Team erforderlich, wie es in den Spezialsprechstunden der Muskelzentren angeboten wird. Seit kurzem steht mit Nusinersen (z. B. Spinraza®) ein erstes Medikament zur kausalen Therapie der SMA zur Verfügung. Es handelt sich um ein Oligonukleotid, das nach einer Aufdosierungsphase in viermonatlichen Abständen intrathekal verabreicht wird. Wirkmechanismus ist eine Modizifierung des Splicings des SMN2 Gens und damit eine vermehrte Produktion des SMN-Proteins. Der Therapieeffekt ist abhängig vom Alter und Zustand des Patienten bei Beginn der Behandlung. Eine frühe Behandlung scheint besonders vielversprechend, sodass bei klinischem Verdacht eine rasche Diagnosesicherung und mittelfristig auch ein Neugeborenenscreening für SMA erstrebenswert sind. Andere kausale Therapieansätze wie die Gentherapie mit einem AAV9-Vektor befinden sich in der klinischen Entwicklung. Neben der medikamentösen Therapie dient regelmäßige Physiotherapie dem Erhalt der Gelenkbeweglichkeit und der optimalen Nutzung der vorhandenen Muskelkraft. Bei respiratorischer Beteiligung ist auch Sekretmobilisation und Hustenhilfe von entscheidender Bedeutung. Bei der SMA Typ I steht die respiratorische Problematik mit respiratorischen Infekten und Atelektasen meist ganz im Vordergrund.
Aufgrund von Schluckstörungen ist im Verlauf meist eine Sondenernährung erforderlich. Das kann vorübergehend über eine nasale Sonde oder längerfristig über eine PEG-Sonde erfolgen. Aufgrund der geringen Reserven sollte auch im Rahmen von akuten Erkrankungen möglichst rasch eine ausreichende Kalorienzufuhr angestrebt werden. Nicht unumstritten ist die Frage, ob eine nichtinvasive oder invasive Beatmung bei Säuglingen mit SMA Typ I aufgrund der Schwere der Erkrankung sinnvoll ist. Hierbei handelt es sich um einen kontinuierlichen Entscheidungsprozess. Es erscheint sinnvoll, die verschiedenen Optionen und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Lebenslänge und Lebensqualität mit den Eltern vor definitiven Therapieentscheidungen zu besprechen. Unter Berücksichtigung des Schweregrads der Erkrankung, medikamentöser Therapiemöglichkeiten und der Einstellung und Ressourcen der Eltern muss dann eine individuelle Entscheidung getroffen werden. Falls möglich, ist es sehr hilfreich, therapeutische Maßnahmen im Rahmen einer möglichen akuten Verschlechterung vorausschauend festzulegen.
Bei Patienten mit SMA Typ II und III ist neben der Physiotherapie eine adäquate Hilfsmittelversorgung zum Erhalt der Beweglichkeit und Mobilität sinnvoll. Bereits im Kindergartenalter sollte ggf. durch die Versorgung mit einem (Elektro-)Rollstuhl eine selbstständige Fortbewegung der Betroffenen ermöglicht werden. Bei progredienter Skoliose oder Kontrakturen kann bei älteren Kindern eine operative Korrektur sinnvoll sein. Aufgrund der Immobilität besteht ein erhöhtes Risiko für Osteoporose, sodass auf eine ausreichende Vitamin-D-Zufuhr bzw. Supplementation geachtet werden sollte. Die Beteiligung der Atemmuskulatur muss regelmäßig durch eine Lungenfunktionstestung untersucht werden. Liegt die Vitalkapazität unter 50 % der altersentsprechenden Norm oder bestehen klinische Hinweise auf eine nächtliche Hypoventilation, sollte eine Untersuchung mittels Polysomnografie erfolgen. Eine eventuell erforderliche Beatmung erfolgt in der Regel nichtinvasiv über eine Maske und ist meist nur nachts erforderlich. Dadurch lässt sich die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der betroffenen Patienten deutlich verbessern. Bei einem Peak-Cough-Flow unter 180 l/min oder bei rezidivierenden Infekten muss die Atemtherapie durch Physiotherapie oder eine mechanische Hustenhilfe intensiviert werden. Bei respiratorischen Infekten kann es bei schwerer betroffenen Patienten auch zur vorübergehenden Notwendigkeit der invasiven Beatmung kommen. Nach Abklingen des Infektes und adäquatem Weaning ist aber meist wieder ein Übergang auf eine nichtinvasive Maskenbeatmung möglich. Mit Diagnosestellung sollten die Familien auch auf bestehende Patientenregister für spinale Muskelatrophie hingewiesen werden (http://www.sma-register.de). Dadurch können Betroffene gezielt über neue Therapieempfehlungen und klinische Studien informiert werden.
Weiterführende Literatur
Finkel RS, Mercuri E, Meyer OH, Simonds AK, Schroth MK, Graham RJ, Kirschner J, Iannaccone ST, Crawford TO, Woods S, Muntoni F, Wirth B, Montes J, Main M, Mazzone ES, Vitale M, Snyder B, Quijano-Roy S, Bertini E, Davis RH, Qian Y, Sejersen T; SMA Care group (2017) Diagnosis and management of spinal muscular atrophy: Part 2: pulmonary and acute care; medications, supplements and immunizations; other organ systems; and ethics. Neuromuscul Disord. pii: S0960-8966(17)31290-7. https://​doi.​org/​10.​1016/​j.​nmd.​2017.​11.​004. [Epub vor Druck] PubMed PMID: 29305137CrossRef
Mercuri E, Finkel RS, Muntoni F, Wirth B, Montes J, Main M, Mazzone ES, Vitale M, Snyder B, Quijano-Roy S, Bertini E, Davis RH, Meyer OH, Simonds AK, Schroth MK, Graham RJ, Kirschner J, Iannaccone ST, Crawford TO, Woods S, Qian Y, Sejersen T; SMA Care Group (2017) Diagnosis and management of spinal muscular atrophy: Part 1: recommendations for diagnosis, rehabilitation, orthopedic and nutritional care. Neuromuscul Disord. pii: S0960-8966(17)31284-1. https://​doi.​org/​10.​1016/​j.​nmd.​2017.​11.​005. [Epub vor Druck] PubMed PMID: 29290580CrossRef
Pechmann A, Kirschner J (2017) Diagnosis and new treatment avenues in spinal muscular atrophy. Neuropediatrics 48(4):273–281. https://​doi.​org/​10.​1055/​s-0037-1603517. Epub 2017 Jun 1. Review. PubMed PMID: 28571100CrossRefPubMed